9.9. Chemische Erfindungen
In T 852/91 stellte die Kammer Folgendes fest: Neuen chemischen Verbindungen die erfinderische Tätigkeit abzusprechen, weil sie bekannten chemischen Verbindungen strukturell ähnlich sind, kommt der Unterstellung gleich, der Fachmann hätte erwartet, dass die neuen Verbindungen als Mittel zur erfindungsgemäßen Lösung der zugrunde liegenden technischen Aufgabe ebenso gut oder ähnlich gut geeignet sind wie die bekannten. Eine solche Erwartung wäre begründet, wenn der Fachmann entweder aufgrund des allgemeinen Fachwissens oder aufgrund einer bestimmten Offenbarung wüsste, dass die bestehenden strukturellen Unterschiede der chemischen Verbindungen so gering sind, dass sie keinen wesentlichen Einfluss auf die Eigenschaften haben, die für die Lösung der technischen Aufgabe von Bedeutung sind, und deshalb vernachlässigt werden könnten (s. auch T 358/04).
In T 643/96 stellte die Kammer fest, dass das Konzept der Bioisosterie zwar zum allgemeinen Fachwissen des Fachmanns gehört, bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit aber mit Bedacht anzuwenden ist. Auf dem Gebiet des sogenannten Drug Design wird primär davon ausgegangen, dass jede strukturelle Veränderung einer pharmakologisch wirksamen Verbindung in das pharmakologische Wirkungsprofil der Ausgangsstruktur eingreift, sofern keine nachgewiesene Korrelation zwischen Strukturmerkmalen und Wirkung besteht. Dies gilt auch im Fall der Bioisosterie, die eine solche Möglichkeit der Wechselwirkung zwischen Struktur und Wirkung verkörpert, solange die Bioisosterie nur vermutet, nicht aber nachgewiesen worden ist (s. auch T 548/91). Weiterhin wurde ausgeführt: "Wenn bei pharmakologisch wirksamen Verbindungen über die erfinderische Tätigkeit entschieden wird, kommt es nicht darauf an, ob eine bestimmte Unterstruktur einer chemischen Verbindung durch eine andere, ebenfalls bekannte isostere Unterstruktur ersetzt wurde, sondern darauf, ob es Informationen über den Einfluss eines solchen Austauschs auf das pharmakologische Wirkungsprofil der betreffenden speziellen (Gruppe von) Verbindung(en) gab" (s. auch T 467/94, T 156/95).
In T 2402/10 urteilte die Kammer, dass auf dem Gebiet der Entwicklung von Arzneimitteln a priori erwartet wird, dass jede strukturelle Modifikation einer pharmakologisch wirksamen Verbindung das pharmakologische Wirkprofil der ursprünglichen Struktur verändern wird, sofern nicht nachweislich eine Korrelation zwischen den strukturellen Merkmalen und der Wirkung besteht (s. T 643/96, T 548/91).
In T 930/94 stellte die Kammer fest, dass das Wissen, dass ein bestimmtes Mitglied einer Klasse chemischer Verbindungen nicht zu dem durch mehrere Mitglieder dieser Klasse erzielten Ergebnis führt, es nicht ohne zusätzliche Angaben erlauben würde, eine solche Wirkung allen anderen Verbindungen dieser Gruppe zuzuschreiben. In einer solchen Situation würde die betreffende Wirkung also nicht dazu führen, dass ein technisches Konzept vorliegt, das verallgemeinert werden kann (s. auch T 641/97, T 209/98, T 853/03).
In T 989/93 stellte die Kammer fest, dass ohne einschlägiges allgemeines Fachwissen auf der Grundlage bekannter Eigenschaften einer Gruppe chemischer Verbindungen (hier Benzolderivate) hinsichtlich der Eigenschaften einer unterschiedlichen Gruppe chemischer Verbindungen (hier Naphthalinderivate) keine Schlussfolgerungen gezogen werden können.