1. Rechtlicher Status der Beschwerdekammern des EPA
Die bei Erscheinen dieser Neuausgabe des Rechtsprechungsberichts geltende Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) ist die revidierte Fassung, die am 1. Januar 2020 in Kraft getreten ist (ABl. 2019, A63). Siehe aber Art. 25 VOBK 2020 zu den Übergangsbestimmungen. Auf die davor geltende Fassung wird in der vorliegenden Ausgabe meistens als VOBK 2007 Bezug genommen. Die Beschwerdekammern bezeichnen grundsätzlich die revidierte Fassung der VOBK in ihren Entscheidungen ausdrücklich als VOBK 2020; ist in den jüngeren Entscheidungen vor Inkrafttreten der VOBK 2020 nur von VOBK die Rede, ist damit implizit die VOBK 2007 gemeint.
2018 wurde ein neuer Entwurf der VOBK (die VOBK 2020) erarbeitet, die nach Konsultation der Nutzer erlassen werden sollte. Diese VOBK ist nicht nach demselben Verfahren erlassen wie die VOBK 2007 und frühere Fassungen, sondern nach dem neuen Verfahren, das mit der Änderung der Ausführungsordnung zum EPÜ eingeführt wurde, namentlich der Streichung der R. 12 EPÜ und der Aufnahme der R. 12a EPÜ, Regeln 12b EPÜ und Regeln 12c EPÜ mit Beschluss CA/D 6/16 (ABl. 2016, A100), der am 1.7.2016 in Kraft getreten ist. Nach diesem neuen Verfahren ist der Beschwerdekammerausschuss, ein nachgeordnetes Organ des Verwaltungsrats, dafür zuständig, die Verfahrensordnungen der Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer (VOGBK) zu erlassen (neue R. 12c (2) EPÜ). In Zukunft berät das Präsidium nach Maßgabe der neuen R. 12b (3) c) EPÜ den Präsidenten der Beschwerdekammern bei Vorschlägen zur Änderung der Verfahrensordnungen der Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer. Dieser sehr allgemeine Abschnitt und die angeführte Rechtsprechung beziehen sich noch vorwiegend auf die VOBK 2007 bzw. frühere Fassungen. Die in der VOBK 2020 enthaltenen Änderungen haben neue Abschnitte im vorliegenden Rechtsprechungsbericht erforderlich gemacht, siehe hierzu die Kapitel III.B.2.7.3, III.C.6.1.4 r), III.C.6.4, V.A.2.6.3 g), V.A.3.2.1, V.A.4, V.A.8.1.1, V.A.8.1.2, V.A.9.1.2, V.A.9.4.1.
Seit ihrem Inkrafttreten am 1. Januar 2020 wurde die VOBK 2020 einmal geändert, um einen neuen Art. 15a über als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlungen einzufügen (Art. 15a VOBK 2020 ist am 1.4.2021 in Kraft getreten); siehe auch die neuen Bestimmungen der Regeln 117 und 118 EPÜ (Beweisaufnahme per Videokonferenz – CA/D 12/20 vom 15.12.2020 (ABl. 2020, A132), in Kraft getreten am 1.1.2021). Zur Durchführung mündlicher Verhandlungen als Videokonferenz wird außerdem auf die Sache G 1/21 vom 16. Juli 2021 date: 2021-07-16 verwiesen.
Die Verfahrensordnungen der Beschwerdekammern (VOBK) und der Großen Beschwerdekammer (VOGBK) werden nach Maßgabe der Ausführungsordnung erlassen. Sie bedürfen der Genehmigung des Verwaltungsrats (Art. 23 (4) EPÜ; s. auch ABl. 2007, 536 und ABl. 2007, 303). Bis einschließlich der VOBK 2007 erließ gemäß R. 12 (3) EPÜ 1973 das Präsidium der Beschwerdekammern die VOBK, und gemäß R. 13 (2) EPÜ 1973 erließen die Mitglieder der Großen Beschwerdekammer die VOGBK. In T 1400/11 stellte die Kammer fest, dass für Verfahren vor den Beschwerdekammern die VOBK maßgebend ist, damit die richterliche Funktion der Kammern gewährleistet ist.
1994 genehmigte der Verwaltungsrat die R. 71a EPÜ 1973, wonach zusammen mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung eine Mitteilung des EPA ergehen muss (ABl. 1995, 409). Im Gegensatz zu diesem Erfordernis steht es nach Art. 11 (2) der VOBK 1980 (Art. 15 (1) VOBK 2007) im Ermessen der Beschwerdekammern, einer solchen Ladung eine Mitteilung beizufügen. In G 6/95 (ABl. 1996, 649) stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass die R. 71a (1) EPÜ 1973 nicht für die Beschwerdekammern gelte. Denn würde die R. 71a (1) EPÜ 1973 so ausgelegt, dass sie für alle Organe des EPA einschließlich der Beschwerdekammern gelte, so stünde sie unmittelbar im Widerspruch zu Art. 11 (2) VOBK 1980, der als Ausfluss der Unabhängigkeit der Beschwerdekammern nach Art. 23 (4) EPÜ 1973 erlassen worden sei.
Die VOBK 2007 kann zwar die Vorschriften des EPÜ präzisieren und auslegen, sie kann den Beschwerdekammern aber keine Befugnisse verleihen, die ihnen das EPÜ nicht verleiht (T 1914/12 verweist in diesem Zusammenhang auf Art. 23 VOBK).