Beschluss des Verwaltungsrats vom 26. Juni 2019 zur Genehmigung der revidierten Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (CA/D 5/19)1
DER VERWALTUNGSRAT DER EUROPÄISCHEN PATENTORGANISATION,
gestützt auf das Europäische Patentübereinkommen, insbesondere auf Artikel 23 Absatz 4,
gestützt auf die am 4. April 2019 nach Regel 12c Absatz 2 der Ausführungsordnung zum Europäischen Patentübereinkommen vom Beschwerdekammerausschuss erlassene revidierte Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern,
BESCHLIESST:
Die revidierte Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern im Anhang zu diesem Beschluss wird genehmigt.
Geschehen zu München am 26. Juni 2019
Für den Verwaltungsrat
Der Präsident
Josef KRATOCHVÍL
ANLAGE
BESCHLUSS
Der Beschwerdekammerausschuss erlässt hiermit nach Regel 12c Absatz 2 der Ausführungsordnung zum Europäischen Patentübereinkommen die folgende revidierte Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern:
Alle in dieser Verfahrensordnung auf Personen bezogenen Bezeichnungen und Pronomen gelten ungeachtet des verwendeten Geschlechts für alle Personen.
Artikel 1
Geschäftsverteilung und Zusammensetzung
(1) Vor Beginn eines jeden Geschäftsjahres stellt das in Regel 12b Absatz 4 EPÜ genannte Präsidium einen Geschäftsverteilungsplan auf, nach dem alle Beschwerden, die im Laufe des Jahres eingereicht werden, auf die Beschwerdekammern verteilt und die Mitglieder und deren Vertreter bestimmt werden, die in den einzelnen Kammern tätig werden können. Der Plan kann im Laufe des Geschäftsjahres geändert werden.
(2) Jeder Vorsitzende einer Kammer erstellt vor Beginn eines jeden Geschäftsjahres eine Liste der Verfahren, in denen die Kammer in dem betreffenden Jahr voraussichtlich eine mündliche Verhandlung abhalten, eine Mitteilung nach Regel 100 Absatz 2 EPÜ erlassen oder eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren erlassen wird. Der Präsident der Beschwerdekammern veröffentlicht vor Beginn eines jeden Geschäftsjahres die Liste jeder Kammer.
(3) Jeder Vorsitzende einer Kammer bestimmt nach Maßgabe des Geschäftsverteilungsplans die Zusammensetzung der Kammer im Einzelfall. Der Vorsitzende bestimmt sich selbst oder ein technisch vorgebildetes oder ein rechtskundiges Mitglied der Kammer zum Vorsitzenden im jeweiligen Beschwerdeverfahren.
Artikel 2
Ersetzung der Mitglieder
(1) Ein Mitglied oder der Vorsitzende im jeweiligen Beschwerdeverfahren ist zu ersetzen, wenn dieses Mitglied oder der Vorsitzende an der Mitwirkung verhindert ist, insbesondere infolge von Krankheit, Arbeitsüberlastung oder unvermeidbaren Verpflichtungen.
(2) Will ein Mitglied oder der Vorsitzende im jeweiligen Beschwerdeverfahren ersetzt werden, so ist der Vorsitzende der Kammer unverzüglich von seiner Verhinderung zu unterrichten.
Artikel 3
Ausschließung und Ablehnung
(1) Das Verfahren nach Artikel 24 Absatz 4 EPÜ ist auch anzuwenden, wenn eine Kammer von einem möglichen Ausschließungs- oder Ablehnungsgrund nach Artikel 24 EPÜ auf andere Weise als von dem betroffenen Mitglied oder von einem Beteiligten Kenntnis erhält.
(2) Das betroffene Mitglied wird aufgefordert, sich zu dem Ausschließungs- oder Ablehnungsgrund zu äußern.
(3) Vor der Entscheidung über die Ausschließung oder Ablehnung wird das Verfahren in der Sache nicht weitergeführt.
Artikel 4
Kontrolle des Verfahrens
(1) Der Vorsitzende der Kammer bestimmt für jede Beschwerde ein Mitglied der Kammer oder sich selbst für die Prüfung, ob die Beschwerde zulässig ist.
(2) Der Vorsitzende im jeweiligen Beschwerdeverfahren oder ein vom Vorsitzenden der Kammer bestimmtes Mitglied stellt sicher, dass die Beteiligten diese Verfahrensordnung und die Anweisungen der Kammer befolgen, und schlägt hierfür geeignete Maßnahmen vor.
Artikel 5
Berichterstatter
(1) Der Vorsitzende der Kammer bestimmt für jede Beschwerde ein technisch vorgebildetes oder ein rechtskundiges Mitglied der Kammer oder sich selbst als Berichterstatter. Der Vorsitzende der Kammer kann einen Mitberichterstatter bestimmen, wenn dies im Hinblick auf den Beschwerdegegenstand zweckmäßig erscheint. Die Zusammensetzung der Kammer kann gemäß Artikel 1 Absatz 3 zu einem späteren Zeitpunkt vervollständigt werden. Die in den Absätzen 4 und 5 genannten Maßnahmen können erst getroffen werden, wenn die Zusammensetzung der Kammer gemäß Artikel 1 Absatz 3 vervollständigt wurde.
(2) Ist ein Mitberichterstatter bestimmt worden, so werden die in den Absätzen 3 bis 5 genannten Maßnahmen gemeinsam von dem Berichterstatter und dem Mitberichterstatter getroffen.
(3) Der Berichterstatter führt eine vorläufige Prüfung der Beschwerde durch und beurteilt, vorbehaltlich einer Anweisung des Vorsitzenden der Kammer, ob die Beschwerde vorrangig vor oder zusammen mit anderen dem Berichterstatter zugewiesenen Beschwerden behandelt werden sollte.
(4) Der Berichterstatter entwirft vorbehaltlich einer Anweisung des Vorsitzenden im jeweiligen Beschwerdeverfahren Mitteilungen im Namen der Kammer und bereitet die Besprechungen der Kammer und die mündlichen Verhandlungen vor.
(5) Der Berichterstatter entwirft die Entscheidungen.
(6) Ist der Berichterstatter oder der Mitberichterstatter der Ansicht, dass seine Kenntnisse der Verfahrenssprache für die Abfassung von Mitteilungen und Entscheidungen nicht ausreichen, so kann er diese in einer anderen Amtssprache entwerfen. Die Entwürfe werden vom Europäischen Patentamt in die Verfahrenssprache übersetzt; die Übersetzungen werden von dem Berichterstatter oder von einem anderen Mitglied der Kammer im jeweiligen Beschwerdeverfahren überprüft.
Artikel 6
Geschäftsstellen
(1) Bei den Beschwerdekammern werden Geschäftsstellen eingerichtet, deren Aufgaben von Geschäftsstellenbeamten wahrgenommen werden. Einer der Geschäftsstellenbeamten wird zum Leiter der Geschäftsstellen bestellt.
(2) Das in Regel 12b Absatz 1 EPÜ genannte Präsidium kann den Geschäftsstellenbeamten Aufgaben übertragen, die technisch und rechtlich keine Schwierigkeiten bereiten, wie insbesondere Aufgaben betreffend Akteneinsicht, Ladung zur mündlichen Verhandlung, Zustellung oder Gewährung von Weiterbehandlung.
(3) Der Geschäftsstellenbeamte legt dem Vorsitzenden der Kammer zu jeder neu eingegangenen Beschwerde einen Bericht über die Zulässigkeit der Beschwerde vor.
(4) Der Vorsitzende im jeweiligen Beschwerdeverfahren bestimmt ein Mitglied der Kammer oder, im Einvernehmen mit dem Vorsitzenden der Kammer, den Geschäftsstellenbeamten für die Abfassung der Niederschriften über die mündliche Verhandlung und die Beweisaufnahme.
Artikel 7
Dolmetscher
Soweit erforderlich, sorgt der Vorsitzende im jeweiligen Beschwerdeverfahren bei mündlichen Verhandlungen, Beweisaufnahmen und Beratungen der Kammer für die Zuziehung von Dolmetschern.
Artikel 8
Änderung in der Zusammensetzung einer Kammer
(1) Ändert sich die Zusammensetzung einer Kammer nach einer mündlichen Verhandlung, so werden die Beteiligten unterrichtet, dass auf Antrag eine erneute mündliche Verhandlung vor der Kammer in ihrer neuen Zusammensetzung stattfindet. Eine erneute mündliche Verhandlung findet auch dann statt, wenn das neue Mitglied dies beantragt und die übrigen Mitglieder der Kammer im jeweiligen Beschwerdeverfahren damit einverstanden sind.
(2) Jedes neue Mitglied ist an bereits getroffene Zwischenentscheidungen wie die übrigen Mitglieder gebunden.
(3) Ist ein Mitglied der Kammer nach einer Entscheidung über die Beschwerde verhindert, so wird es nicht ersetzt. Ist der Vorsitzende des jeweiligen Beschwerdeverfahrens verhindert, so unterzeichnet stattdessen das im Rahmen der Beschwerdekammern dienstälteste Mitglied der Kammer und bei gleichem Dienstalter das älteste Mitglied die Entscheidung.
Artikel 9
Erweiterung einer Kammer
Ist eine Kammer, die sich aus zwei technisch vorgebildeten Mitgliedern und einem rechtskundigen Mitglied zusammensetzt, der Meinung, dass die Art der Beschwerde es erfordert, dass sich die Kammer aus drei technisch vorgebildeten Mitgliedern und zwei rechtskundigen Mitgliedern zusammensetzt, so trifft die Kammer die Entscheidung über die Erweiterung zu dem frühestmöglichen Zeitpunkt bei der Prüfung der Beschwerde.
Artikel 10
Verbindung und Beschleunigung von Beschwerdeverfahren
(1) Sind gegen eine Entscheidung mehrere Beschwerden eingelegt worden, so werden sie im selben Verfahren behandelt.
(2) Sind gegen verschiedene Entscheidungen Beschwerden eingelegt worden, die eindeutig zusammenhängen, und sollen diese Beschwerden von einer Kammer in derselben Zusammensetzung geprüft werden, so bemüht sich die Kammer, sie alle unmittelbar nacheinander zu behandeln. Nach Anhörung der Beteiligten kann die Kammer solche Beschwerden auch in einem gemeinsamen Verfahren behandeln.
(3) Auf Antrag eines Beteiligten kann die Kammer das Beschwerdeverfahren beschleunigen. Der Antrag muss Gründe benennen, die eine Beschleunigung rechtfertigen, und gegebenenfalls durch schriftliche Beweismittel gestützt werden. Die Kammer teilt den Beteiligten mit, ob dem Antrag stattgegeben wurde.
(4) Beantragt ein Gericht oder eine andere zuständige Behörde in einem Vertragsstaat eine Beschleunigung des Beschwerdeverfahrens, so teilt die Kammer dem Gericht oder der Behörde und den Beteiligten mit, ob dem Antrag stattgegeben wurde und wann voraussichtlich eine mündliche Verhandlung, falls vorgesehen, stattfinden wird.
(5) Die Kammer kann das Beschwerdeverfahren von Amts wegen beschleunigen.
(6) Beschleunigt die Kammer das Beschwerdeverfahren, so räumt sie der Beschwerde Vorrang gegenüber anderen Beschwerden ein. Die Kammer kann einen straffen Rahmen für die Verfahrensführung setzen.
Artikel 11
Zurückverweisung
Eine Kammer verweist die Angelegenheit nur dann zur weiteren Entscheidung an das Organ zurück, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, wenn besondere Gründe dafür sprechen. Besondere Gründe liegen in der Regel vor, wenn das Verfahren vor diesem Organ wesentliche Mängel aufweist.
Artikel 12
Grundlage des Beschwerdeverfahrens
(1) Dem Beschwerdeverfahren liegen zugrunde
a) die angefochtene Entscheidung und die Niederschriften über mündliche Verhandlungen vor dem Organ, das die Entscheidung erlassen hat;
b) die Beschwerde und die Beschwerdebegründung nach Artikel 108 EPÜ;
c) in Verfahren mit mehr als einem Beteiligten alle schriftlichen Erwiderungen des oder der anderen Beteiligten, die innerhalb von vier Monaten nach Zustellung der Beschwerdebegründung einzureichen sind;
d) Mitteilungen der Kammer und Antworten darauf, die gemäß den Anweisungen der Kammer eingereicht worden sind;
e) Niederschriften über eine Video- oder Telefonkonferenz mit dem oder den Beteiligten, die von der Kammer verschickt wurden.
(2) Im Hinblick auf das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen, ist das Beschwerdevorbringen der Beteiligten auf die Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel zu richten, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegen.
(3) Die Beschwerdebegründung und die Erwiderung müssen das vollständige Beschwerdevorbringen eines Beteiligten enthalten. Dementsprechend müssen sie deutlich und knapp angeben, aus welchen Gründen beantragt wird, die angefochtene Entscheidung aufzuheben, abzuändern oder zu bestätigen; sie sollen ausdrücklich alle geltend gemachten Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel im Einzelnen anführen. Alle Unterlagen, auf die Bezug genommen wird, sind
a) als Anlagen beizufügen, soweit sie nicht schon im Erteilungs-, Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren eingereicht oder vom Amt in diesen Verfahren erstellt oder eingeführt worden sind;
b) auf jeden Fall einzureichen, soweit die Kammer dazu im Einzelfall auffordert.
(4) Erfüllt ein Teil des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nicht die Erfordernisse nach Absatz 2, so ist dieser Teil als Änderung zu betrachten, sofern der Beteiligte nicht zeigt, dass dieser Teil in dem Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, in zulässiger Weise vorgebracht und aufrechterhalten wurde. Es steht im Ermessen der Kammer, solche Änderungen zuzulassen.
Der Beteiligte hat jede Änderung klar zu kennzeichnen und zu begründen, warum sie im Beschwerdeverfahren erfolgt. Im Falle einer Änderung der Patentanmeldung oder des Patents hat der Beteiligte die Grundlage der Änderung in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung anzugeben sowie Gründe anzuführen, warum mit der Änderung die erhobenen Einwände ausgeräumt werden.
Bei der Ausübung ihres Ermessens berücksichtigt die Kammer insbesondere die Komplexität der Änderung, ihre Eignung zur Behandlung der Fragestellungen, die zur angefochtenen Entscheidung führten, und das Gebot der Verfahrensökonomie.
(5) Es steht im Ermessen der Kammer, Vorbringen eines Beteiligten nicht zuzulassen, soweit es die Erfordernisse nach Absatz 3 nicht erfüllt.
(6) Anträge, Tatsachen, Einwände oder Beweismittel, die in dem Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, nicht zugelassen wurden, lässt die Kammer nicht zu, es sei denn, die Entscheidung über die Nichtzulassung war ermessensfehlerhaft oder die Umstände der Beschwerdesache rechtfertigen eine Zulassung.
Anträge, Tatsachen, Einwände oder Beweismittel, die in dem Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, vorzubringen gewesen wären oder die nicht mehr aufrechterhalten wurden, lässt die Kammer nicht zu, es sei denn, die Umstände der Beschwerdesache rechtfertigen eine Zulassung.
(7) Die Kammer kann Fristen, die sie bestimmt hat, auf einen vor Ablauf der Frist gestellten schriftlichen und begründeten Antrag hin ausnahmsweise verlängern. Entsprechendes gilt für die Frist nach Absatz 1 Buchstabe c; diese darf jedoch höchstens auf sechs Monate verlängert werden.
(8) Vorbehaltlich der Artikel 113 und 116 EPÜ kann die Kammer nach Einreichung der Beschwerdebegründung oder in Verfahren mit mehr als einem Beteiligten nach Ablauf der Frist nach Absatz 1 Buchstabe c jederzeit über die Sache entscheiden.
Artikel 13
Änderung des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten
(1) Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Einreichung seiner Beschwerdebegründung oder Erwiderung bedürfen rechtfertigender Gründe seitens des Beteiligten und ihre Zulassung steht im Ermessen der Kammer.
Artikel 12 Absätze 4 bis 6 gilt entsprechend.
Der Beteiligte muss die Gründe dafür angeben, weshalb er die Änderung erst in dieser Phase des Beschwerdeverfahrens einreicht.
Bei der Ausübung ihres Ermessens berücksichtigt die Kammer insbesondere den Stand des Verfahrens, die Eignung der Änderung zur Lösung der von einem anderen Beteiligten im Beschwerdeverfahren in zulässiger Weise aufgeworfenen Fragen oder der von der Kammer selbst aufgeworfenen Fragen, ferner ob die Änderung der Verfahrensökonomie abträglich ist, und bei Änderung einer Patentanmeldung oder eines Patents, ob der Beteiligte aufgezeigt hat, dass die Änderung prima facie die von einem anderen Beteiligten im Beschwerdeverfahren oder von der Kammer aufgeworfenen Fragen ausräumt und keinen Anlass zu neuen Einwänden gibt.
(2) Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Ablauf einer von der Kammer in einer Mitteilung nach Regel 100 Absatz 2 EPÜ bestimmten Frist oder, wenn eine solche Mitteilung nicht ergeht, nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung bleiben grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
(3) Die anderen Beteiligten sind berechtigt, zu geändertem Vorbringen Stellung zu nehmen, das von der Kammer nicht von Amts wegen als unzulässig erachtet worden ist.
Artikel 14
Beitritte
Wird in einem anhängigen Beschwerdeverfahren der Beitritt erklärt, sind die Artikel 12 und 13 anzuwenden, soweit die Umstände des Falls dies rechtfertigen.
Artikel 15
Mündliche Verhandlung und Erlass der Entscheidung
(1) Unbeschadet der Regel 115 Absatz 1 EPÜ bemüht sich die Kammer, wenn eine mündliche Verhandlung vorgesehen ist, um eine Ladungsfrist von mindestens vier Monaten. In Verfahren mit mehr als einem Beteiligten bemüht sich die Kammer, nicht früher als zwei Monate nach Erhalt der in Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe c genannten schriftlichen Erwiderung oder Erwiderungen die Ladung zu versenden. Für die mündliche Verhandlung wird ein einziger Termin festgelegt.
Um in der mündlichen Verhandlung die Konzentration auf das Wesentliche zu erleichtern, erlässt die Kammer eine Mitteilung, in der sie auf Punkte hinweist, die für die zu treffende Entscheidung voraussichtlich von besonderer Bedeutung sein werden. Die Kammer kann auch eine vorläufige Einschätzung mitteilen. Die Kammer bemüht sich, die Mitteilung mindestens vier Monate vor dem Termin der mündlichen Verhandlung zu erlassen.
(2) Einem Antrag eines Beteiligten auf Verlegung der mündlichen Verhandlung kann stattgegeben werden, wenn der Beteiligte schwerwiegende Gründe vorbringt, die die Festlegung eines neuen Termins rechtfertigen. Lässt sich der Beteiligte vertreten, müssen die schwerwiegenden Gründe den Vertreter betreffen.
a) Der Antrag ist schriftlich einzureichen, zu begründen und gegebenenfalls durch schriftliche Beweismittel zu stützen. Der Antrag ist so bald wie möglich nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung und dem Eintreten der schwerwiegenden Gründe zu stellen. Der Antrag sollte eine Liste von Datumsangaben enthalten, an denen der Antragsteller nicht für eine mündliche Verhandlung zur Verfügung steht.
b) Gründe, die eine Verlegung der mündlichen Verhandlung rechtfertigen können, sind beispielsweise:
i) Zustellung einer Ladung zu einer mündlichen Verhandlung in einem anderen Verfahren vor dem Europäischen Patentamt oder einem nationalen Gericht, die vor der Zustellung der Ladung zu einer mündlichen Verhandlung vor der Kammer erfolgt ist;
ii) eine schwere Erkrankung;
iii) ein Todesfall in der Familie;
iv) Eheschließung oder Eingehen einer vergleichbaren anerkannten Lebenspartnerschaft;
v) Wehrdienst oder sonstige zwingend vorgeschriebene Wahrnehmung staatsbürgerlicher Pflichten;
vi) Urlaub oder Geschäftsreisen, die vor Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung bereits fest gebucht waren.
c) Gründe, die eine Verlegung der mündlichen Verhandlung in der Regel nicht rechtfertigen können, sind beispielsweise:
i) Einreichung neuer Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente oder Beweismittel;
ii) übermäßige Arbeitsbelastung;
iii) Verhinderung eines ordnungsgemäß vertretenen Beteiligten;
iv) Verhinderung einer Begleitperson;
v) Bestellung eines neuen zugelassenen Vertreters.
(3) Die Kammer ist nicht verpflichtet, einen Verfahrensschritt einschließlich ihrer Entscheidung aufzuschieben, nur weil ein ordnungsgemäß geladener Beteiligter in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend ist; dieser kann dann so behandelt werden, als stütze er sich lediglich auf sein schriftliches Vorbringen.
(4) Der Vorsitzende leitet die mündliche Verhandlung und stellt ihre faire, ordnungsgemäße und effiziente Durchführung sicher.
(5) Ist eine Sache in der mündlichen Verhandlung entscheidungsreif, so stellt der Vorsitzende die abschließenden Anträge der Beteiligten fest und erklärt die sachliche Debatte für beendet. Nach Beendigung der sachlichen Debatte können die Beteiligten nichts mehr vorbringen, es sei denn, die Kammer beschließt, die Debatte wieder zu eröffnen.
(6) Die Kammer stellt sicher, dass die Sache am Ende der mündlichen Verhandlung entscheidungsreif ist, sofern nicht besondere Umstände dagegen sprechen. Vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung kann der Vorsitzende die Entscheidung der Kammer verkünden.
(7) Wird die Entscheidung über die Beschwerde gemäß Absatz 6 verkündet, können die schriftlichen Entscheidungsgründe oder Teile davon mit ausdrücklicher Zustimmung der Beteiligten in gekürzter Form abgefasst werden. Hiervon ist jedoch abzusehen, wenn die Kammer darauf hingewiesen wurde, dass ein Dritter oder ein Gericht im Einzelfall ein berechtigtes Interesse daran hat, dass die Entscheidungsgründe nicht in gekürzter Form abgefasst werden. Die Entscheidungsgründe in gekürzter Form können in geeigneten Fällen bereits in die Niederschrift über die mündliche Verhandlung aufgenommen werden.
(8) Schließt sich die Kammer hinsichtlich einer oder mehrerer Fragen den Feststellungen des Organs, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, sowie der Begründung in der angefochtenen Entscheidung dafür an, so kann sie die Entscheidungsgründe hinsichtlich dieser Frage in gekürzter Form abfassen.
(9) Die Kammer erlässt die Entscheidung über die Beschwerde zeitnah.
a) Wird die Entscheidung über die Beschwerde gemäß Absatz 6 vom Vorsitzenden verkündet, so fasst die Kammer ihre Entscheidung schriftlich ab und versendet sie innerhalb von drei Monaten nach dem Tag der mündlichen Verhandlung. Sieht sich die Kammer dazu nicht in der Lage, so teilt sie den Beteiligten mit, wann die Entscheidung versendet wird. Dies wird auch dem Präsidenten der Beschwerdekammern mitgeteilt.
b) Wird die Entscheidung über die Beschwerde, obwohl die Sache am Ende der mündlichen Verhandlung entscheidungsreif ist, nicht gemäß Absatz 6 vom Vorsitzenden verkündet, so nennt der Vorsitzende das Datum, an dem die Entscheidung über die Beschwerde versendet werden wird; dieses soll spätestens drei Monate nach der mündlichen Verhandlung liegen. Ist die Kammer nicht in der Lage, die Entscheidung bis dahin zu versenden, so teilt sie den Beteiligten ein neues Datum mit oder erlässt im Ausnahmefall eine Mitteilung, in der die nächsten vorzunehmenden Verfahrensschritte dargelegt werden.
Artikel 16
Kosten
(1) Vorbehaltlich des Artikels 104 Absatz 1 EPÜ kann die Kammer auf Antrag anordnen, dass ein Beteiligter die Kosten eines anderen Beteiligten teilweise oder ganz zu tragen hat. Unbeschadet des Ermessens der Kammer gehören dazu die Kosten, die entstanden sind durch
a) Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten gemäß Artikel 13;
b) Fristverlängerung;
c) Handlungen oder Unterlassungen, die die rechtzeitige und effiziente Durchführung der mündlichen Verhandlung beeinträchtigen;
d) Nichtbeachtung einer Anweisung der Kammer;
e) Verfahrensmissbrauch.
(2) Bei den Kosten, deren Erstattung angeordnet wird, kann es sich um die Gesamtheit oder einen Teil der dem Berechtigten erwachsenen Kosten handeln; sie können unter anderem als Prozentsatz oder als bestimmter Betrag angegeben werden. In letzterem Fall ist die Entscheidung der Kammer unanfechtbar im Sinne des Artikels 104 Absatz 3 EPÜ. Zu den Kosten, deren Erstattung angeordnet wird, können Kosten gehören, die einem Beteiligten von seinem zugelassenen Vertreter in Rechnung gestellt worden sind, Kosten, die einem Beteiligten selbst erwachsen sind, unabhängig davon, ob er durch einen zugelassenen Vertreter vertreten wurde, und Kosten für Zeugen oder Sachverständige, die ein Beteiligter getragen hat; die zu erstattenden Kosten sind auf notwendige und angemessene Aufwendungen beschränkt.
Artikel 17
Unterrichtung der Beteiligten
(1) Im schriftlichen Abschnitt des Verfahrens erfolgen Antworten auf Anträge und Anweisungen zu Verfahrensfragen in Form von Mitteilungen.
(2) Hält die Kammer es für zweckmäßig, den Beteiligten ihre Ansicht über die Beurteilung sachlicher oder rechtlicher Fragen mitzuteilen, so hat das so zu geschehen, dass die Mitteilung nicht als bindend für die Kammer verstanden werden kann.
Artikel 18
Äußerungsrecht des Präsidenten des Europäischen Patentamts
Die Kammer kann den Präsidenten des Europäischen Patentamts von Amts wegen oder auf dessen schriftlichen, begründeten Antrag auffordern, sich zu Fragen von allgemeinem Interesse, die sich im Rahmen eines vor der Kammer anhängigen Verfahrens stellen, schriftlich oder mündlich zu äußern. Die Beteiligten sind berechtigt, zu den Äußerungen des Präsidenten Stellung zu nehmen.
Artikel 19
Beratung und Abstimmung
(1) Sind nicht alle Mitglieder einer Kammer der gleichen Ansicht, so findet eine Beratung über die zu treffende Entscheidung statt. An der Beratung nehmen nur Mitglieder der Kammer teil; der Vorsitzende im jeweiligen Verfahren kann jedoch die Anwesenheit anderer Bediensteter zulassen. Die Beratungen sind geheim.
(2) Bei den Beratungen der Kammer äußert zuerst der Berichterstatter, dann gegebenenfalls der Mitberichterstatter und, wenn der Berichterstatter nicht den Vorsitz innehat, zuletzt der Vorsitzende seine Meinung.
(3) Die gleiche Reihenfolge gilt für eine erforderliche Abstimmung, jedoch mit der Maßgabe, dass der Vorsitzende auch dann zuletzt abstimmt, wenn er Berichterstatter ist. Stimmenthaltungen sind nicht zulässig.
Artikel 20
Abweichung von einer früheren Entscheidung einer Kammer oder von den Richtlinien für die Prüfung
(1) Hält es eine Kammer für notwendig, von einer Auslegung oder Erläuterung des Übereinkommens abzuweichen, die in einer früheren Entscheidung einer Kammer enthalten ist, so ist dies zu begründen, es sei denn, diese Begründung steht mit einer früheren Entscheidung oder Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer gemäß Artikel 112 Absatz 1 EPÜ in Einklang. Der Präsident des Europäischen Patentamts wird über die Entscheidung der Kammer unterrichtet.
(2) Legt eine Kammer in ihrer Entscheidung das Übereinkommen anders aus, als es in den Richtlinien für die Prüfung vorgesehen ist, so begründet sie dies, wenn ihrer Meinung nach diese Begründung zum besseren Verständnis der Entscheidung beitragen kann.
Artikel 21
Abweichung von einer früheren Entscheidung oder Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer
Hält es eine Kammer für notwendig, von einer Auslegung oder Erläuterung des Übereinkommens, die in einer früheren Entscheidung oder Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer gemäß Artikel 112 Absatz 1 EPÜ enthalten ist, abzuweichen, so befasst sie die Große Beschwerdekammer mit der Frage.
Artikel 22
Verweisung einer Frage an die Große Beschwerdekammer
(1) Soll eine Frage gemäß Artikel 112 Absatz 1 EPÜ der Großen Beschwerdekammer vorgelegt werden, so trifft die Kammer darüber eine Entscheidung.
(2) Die Entscheidung enthält die in Regel 102 Buchstaben a, b, c, d und f EPÜ genannten Angaben sowie die Frage, die die Kammer der Großen Beschwerdekammer vorlegt. Dabei ist auch anzugeben, in welchem Zusammenhang sich die Frage stellt.
(3) Die Entscheidung wird den Beteiligten mitgeteilt.
Artikel 23
Verbindlichkeit der Verfahrensordnung
Diese Verfahrensordnung ist für die Beschwerdekammern verbindlich, soweit sie nicht zu einem mit dem Geist und Ziel des Übereinkommens unvereinbaren Ergebnis führt.
Artikel 24
Inkrafttreten
(1) Die revidierte Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (revidierte Fassung) tritt am 1. Januar 2020 in Kraft.
(2) Vorbehaltlich des Artikels 25 tritt die vor diesem Zeitpunkt geltende Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern mit Inkrafttreten der revidierten Fassung außer Kraft.
Artikel 25
Übergangsbestimmungen
(1) Die revidierte Fassung ist vorbehaltlich der nachstehenden Absätze auf alle Beschwerden anzuwenden, die am Tag des Inkrafttretens anhängig sind oder nach diesem Tag eingelegt werden.
(2) Artikel 12 Absätze 4 bis 6 der revidierten Fassung ist nicht anzuwenden auf vor dem Inkrafttreten eingereichte Beschwerdebegründungen und darauf fristgerecht eingereichte Erwiderungen. Stattdessen ist weiterhin Artikel 12 Absatz 4 der vor dem Inkrafttreten geltenden Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern anzuwenden.
(3) Artikel 13 Absatz 2 der revidierten Fassung ist nicht anzuwenden, wenn vor Inkrafttreten der revidierten Fassung die Ladung zur mündlichen Verhandlung oder eine Mitteilung der Kammer nach Regel 100 Absatz 2 EPÜ zugestellt wurde. Stattdessen ist weiterhin Artikel 13 der vor dem Inkrafttreten geltenden Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern anzuwenden.
Geschehen zu München am 4. April 2019
Für den Beschwerdekammerausschuss
Der Vorsitzende
Roland GROSSENBACHER