8.2. Berichtigung der Prioritätserklärungen
Ungeachtet der Tatsache, dass eine Berichtigung nach R. 88 Satz 1 EPÜ 1973 ohne zeitliche Begrenzung möglich ist, folgte die Juristische Beschwerdekammer der ständigen Rechtsprechung dahin gehend, dass ein Antrag auf Berichtigung eines Prioritätsanspruchs so rechtzeitig zu stellen ist, dass in die Veröffentlichung der Anmeldung ein entsprechender Hinweis aufgenommen werden kann (J 3/82, ABl. 1983, 171; J 4/82, ABl. 1982, 385; J 14/82, ABl. 1983, 121). Dieser Grundsatz wurde aufrechterhalten, weil das EPA bei der Ausübung seines Ermessens nach R. 88 Satz 1 EPÜ 1973 das Interesse des Anmelders an einem optimalen Schutz und das Dritter an Rechtssicherheit gegeneinander abwägen und dabei insbesondere sicherstellen muss, dass die veröffentlichten Daten der Anmeldung richtig sind.
In J 6/91 bemerkte die Kammer jedoch, dass die Berichtigung nach der früheren Rechtsprechung unter bestimmten Umständen auch ohne einen entsprechenden Hinweis zulässig war, und zwar
(i) wenn das EPA teilweise dafür verantwortlich war, dass kein Hinweis veröffentlicht worden war (J 12/80, ABl. 1981, 143), und/oder
(ii) wenn nicht ernsthaft gegen die Interessen der Öffentlichkeit verstoßen wurde, weil
- die Unrichtigkeit offensichtlich war (das ergibt sich implizit aus J 8/80, ABl. 1980, 293),
- unter gewissen Umständen nur eine zweite oder weitere Priorität hinzugefügt wurde (J 4/82, ABl. 1982, 385; J 14/82, ABl. 1983, 121; J 11/89),
- die Öffentlichkeit anderweitig über den vollen Umfang des Schutzbegehrens des Anmelders unterrichtet wurde (J 14/82, ABl. 1983, 121).
In J 3/91, J 6/91 und J 2/92 wurde festgestellt, dass die Prioritätserklärung auch nach der Veröffentlichung einer europäischen Patentanmeldung ohne einen entsprechenden Hinweis nach R. 88 Satz 1 EPÜ 1973 berichtigt werden kann, wenn in der veröffentlichten Anmeldung eine offensichtliche Unstimmigkeit enthalten ist, die darauf hindeutet, dass etwas nicht stimmt. In solchen Fällen werden die Interessen Dritter durch die Berichtigung nicht verletzt.
In J 3/91 hätte dem erfahrenen Praktiker eine offensichtliche Unstimmigkeit auffallen können, weil der beanspruchte japanische Prioritätstag (31. Dezember 1983) und der europäische Anmeldetag (3. Januar 1984) nahe beieinander lagen und das japanische Aktenzeichen angegeben war.
In J 6/91 wurde die strittige internationale Anmeldung, die die Priorität einer amerikanischen Continuation-in-part-Anmeldung beanspruchte, selbst als Continuation-in-part-Anmeldung vorgelegt, die sich auf eine ältere amerikanische Anmeldung bezog. Die Kammer ließ – auch mit Bezug auf weitere besondere Umstände – die Hinzufügung eines (ersten) Prioritätsanspruchs zu, der auf diese ältere amerikanische Anmeldung zurückging.
In J 2/92 war als amerikanisches Prioritätsdatum, das in einer PCT-Anmeldung beansprucht war, aufgrund eines Schreibfehlers ein Samstag, an dem das USPTO geschlossen ist, anstelle des vorangegangenen Freitags genannt. Auf dem Prioritätsbeleg war das korrekte Datum angegeben. Aufgrund eines weiteren Versehens im Antrag auf Übermittlung des Prioritätsbelegs nach R. 17.1 b) PCT (eines Schreibfehlers bei der Dokumentennummer) übermittelte das Anmeldeamt – hier das USPTO – der WIPO ein falsches Dokument. Die Kammer erklärte angesichts besonderer Umstände dessen Austausch auch nach der Veröffentlichung der internationalen Anmeldung für zulässig, fügte aber hinzu, dass dies nicht immer möglich sei (s. auch T 33/06).
In den parallelen Fällen T 973/93 und T 972/93 hatte die Prüfungsabteilung den Antrag auf Berichtigung des Prioritätsdatums abgelehnt. Die europäische Patentanmeldung E1 beanspruchte die Priorität einer französischen Anmeldung F1, aus der noch innerhalb des Prioritätsjahres zwei französische Teilanmeldungen F2 und F3 hervorgingen, denen die Priorität der Stammanmeldung F1 zukam. In beiden Fällen ging es um die europäischen Anmeldungen E2 und E3, denen die Priorität von F2 bzw. F3 zukam; irrtümlich wurde jedoch das Datum der Einreichung von F2 und F3 als Prioritätsdatum angegeben. Nach Veröffentlichung von E2 und E3 mit dem falschen Prioritätsdatum wurde im Prüfungsverfahren der Irrtum entdeckt, weil E1 als älteres Recht im Sinne von Art. 54 (3) EPÜ 1973 aufgefunden wurde (Art. 54 EPÜ wurde erheblich geändert – s. Kapitel I.C. "Neuheit").
Die Beschwerdekammer ließ die Berichtigung des Prioritätsdatums zu (in Anlehnung an J 6/91, ABl. 1994, 349). Sie bejahte die Erkennbarkeit des Fehlers, weil zwischen dem Anmeldetag von E2 und E3 und dem irrtümlich angegebenen Prioritätstag nur acht Monate lagen, während üblicherweise das Prioritätsjahr voll ausgenutzt werde. Interessen Dritter seien nicht beeinträchtigt, weil durch die vorsorgliche Einreichung von zwei europäischen Teilanmeldungen zu E1, die inhaltlich mit F2 und F3 übereinstimmten, für die Gegenstände von E2 und E3 Schutz mit dem Zeitrang von F1 erreichbar war.
In J 7/94 (ABl. 1995, 817) hingegen ließ die Kammer eine Berichtigung nicht zu. Die Kammer vertrat die Auffassung, die bloße Tatsache, dass eine bestehende Priorität nicht in Anspruch genommen worden sei, rechtfertige noch nicht deren spätere Hinzufügung im Wege einer Berichtigung. Die Berichtigung von Prioritätsangaben, die nicht so rechtzeitig beantragt wird, dass in die Veröffentlichung der Anmeldung ein entsprechender Hinweis aufgenommen werden kann, ist nur dann zuzulassen, wenn sie aufgrund besonderer Umstände gerechtfertigt ist (Bestätigung der Entscheidung J 6/91, ABI. 1994, 349). S. auch T 796/94.
Nach J 11/92 (ABl. 1995, 25) kann eine unvollständige Prioritätserklärung unter bestimmten Umständen noch durch Hinzufügung einer versehentlich weggelassenen Priorität berichtigt werden, nachdem die europäische Patentanmeldung ohne Hinweis auf den Berichtigungsantrag veröffentlicht wurde, wenn die Öffentlichkeit durch eine vom Anmelder rechtzeitig vorsorglich eingereichte zweite europäische oder Euro-PCT-Anmeldung über den vollen Umfang des europäischen Schutzbegehrens informiert war (J 6/91, ABl. 1994, 349).
In T 713/02 (ABl. 2006, 267) stellte die Kammer fest, dass die Prüfung eines Antrags auf Berichtigung von Prioritätsangaben nach Veröffentlichung der Anmeldung nicht auf den Teil der Sachverhalte und Umstände beschränkt werden darf, der – laut einer Beschwerdekammerentscheidung in einer anderen Sache – einer Berichtigung nicht entgegensteht. So konnte im betreffenden Fall nicht darüber hinweggesehen werden, dass die beantragte Berichtigung durch Hinzufügung eines früheren Prioritätstags eine hoch relevante Druckschrift aus dem Stand der Technik gemäß Art. 54 (2) EPÜ 1973 eliminiert hätte, die der Anmelder zuvor de facto als zum Stand der Technik gehörend anerkannt hatte (s. aber EPA-Mitteilung betreffend T 713/02, ABl. 2006, 293, wonach sich die erstinstanzlichen Organe des EPA derzeit nicht der Feststellung anschließen, dass – außer in Fällen, in denen einem totalen Rechtsverlust abgeholfen werden soll – keine Entscheidungen zugunsten des Anmelders erlassen werden dürfen, bevor nicht die das Erteilungsverfahren abschließende Entscheidung ergangen ist).