BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.3.2 vom 24. April 1991 - T 560/89 - 3.3.2
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | P. A. M. Lançon |
Mitglieder: | M. M. Eberhard |
Patentinhaber/Beschwerdegegner: N. I. Industries, Inc.
Einsprechender/Beschwerdeführer:
1. Linde Aktiengesellschaft, Wiesbaden
2. Svenska Silikatforskningsinstitutet
Stichwort: Füllmasse/N. I. INDUSTRIES
Schlagwort: "einschlägiger Stand der Technik - der Öffentlichkeitaus einem anderen Gebiet der Technik bekanntes Problem -verwandte Werkstoffe" - "erfinderische Tätigkeit (bejaht) -unerwartete Wirkung"
Leitsatz
Ein Fachmann, der auf einem speziellen Gebiet vor einertechnischen Aufgabe steht, würde sich in einem anderen Gebiet derTechnik, aus dem dieselbe Aufgabe der breiten Öffentlichkeitdurch ausgedehnte Diskussion wohlbekannt ist, nach Anregungenumsehen, auch wenn es sich bei diesem anderen Gebiet weder um einbenachbartes noch um ein übergeordnetes allgemeines Gebiethandelt, sofern die auf dem speziellen Gebiet und die auf demanderen Gebiet verwendeten Werkstoffe von der Art her verwandtsind (s. Nr. 5 der Entscheidungsgründe; im Anschluß an T 176/84,ABl. EPA 1986, 50 und T 195/84, ABl. EPA 1986, 121).
Sachverhalt und Anträge
I. Auf die europäische Patentanmeldung Nr. 82 100 325.8 wurde das europäische Patent Nr. 56645 mit zwölf Ansprüchen erteilt. Der unabhängige Anspruch 1 lautete wie folgt:
"Acethylenspeicherbehälter (10) mit
einem Metallmantel (20) und
einer gehärteten monolithischen Calciumsilicat-Füllmasse (30), die mindestens 35 Gew.-% kristalline Phase hat, eine Porosität von mindestens etwa 88 % aufweist und in den Metallmantel eingelagert ist, den sie im wesentlichen ausfüllt, zur Aufnahme einer Acethylengaslösung, wobei die Porosität durch im wesentlichen gleichmäßig verteilte, sehr feine Poren von etwa 0,05 - 25 Mikrometer gewährleistet wird und die Calciumsilicat-Füllmasse (30) im wesentlichen frei von Hohlräumen ist und ein Antiabsetzmittel und ein Faserverstärkungsmaterial aufweist, die im Calciumsilicat im wesentlichen gleichmäßig verteilt sind, dadurch gekennzeichnet, daß die Füllmasse (30) asbestfrei ist und sowohl als Faserverstärkungsmaterial als auch als Antiabsetzmittel eine alkalibeständige Glasfaser in einer solchen Menge vorgesehen ist, daß sie 0,5 - 7 % des Gewichts der gehärteten Calciumsilicat-Füllmasse (30) bildet"
Der unabhängige Anspruch 9 betraf ein Verfahren zur Herstellung dieses Acethylenspeicherbehälters.
II. Die Beschwerdeführerinnen I und II (Einsprechenden I und II) legten gegen das Patent Einspruch ein und beantragten seinen Widerruf wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit. Nach Ablauf der Einspruchsfrist machte die Einsprechende II außerdem geltend, die Änderungen in Anspruch 1 entsprächen nicht den Erfordernissen des Artikels 123 (2) EPÜ. Von den zur Stützung der Einsprüche angezogenen Dokumenten fanden nur folgende Eingang in das Beschwerdeverfahren:
(1) US-A-2 883 040
(2) GB-A-1 401 972
(3) Sonderdruck aus Betonwerk + Fertigteil-Technik, Heft 9, September 1973, "Glasfaserbeton"
(4) Sonderdruck aus der Zeitschrift "Beton", Heft 4/1977, "Erstes Schalendach aus Glasfaserbeton in Deutschland"
(5) Prospekt "CEM-FIL" der Pilkington Group
Drei weitere Dokumente wurden erst nach Ablauf der Einspruchsfrist genannt, darunter insbesondere das Dokument 10, DE-C-1 187 763.
III. Die Einspruchsabteilung wies die Einsprüche zurück. In bezug auf Anspruch 1 sah sie keinen Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ. Die verspätet eingereichten Dokumente ließ sie außer Betracht und wertete das Dokument 1 als nächstliegenden Stand der Technik. Die Einspruchsabteilung vertrat die Auffassung, daß der Einsatz von Glasfasern statt Asbestfasern bei Zementprodukten in der Bauindustrie zwar bekannt sei, keines der angezogenen Dokumente den Leser aber lehre, Glasfasern gezielt in der beanspruchten Menge zu verwenden, um einen Acethylenspeicherbehälter bereitzustellen, dessen Calciumsilicat-Füllmasse so beschaffen sei, daß eine Lösung von gelöstem Acethylengas aufgenommen werden könne, wobei die Glasfasern eine Doppelfunktion als Verstärkungsmaterial und Antiabsetzmittel erfüllten.
IV. Die Beschwerdeführerinnen I und II legten gegen diese Entscheidung Beschwerde ein und versuchten, in der Beschwerdeinstanz fünf weitere, erstmals genannte Dokumente in das Verfahren einzuführen, darunter insbesondere das Dokument 13, DE-C-1 494 773.
V. Am 24. April 1991 fand eine mündliche Verhandlung statt. Obwohl die Beschwerdeführerin II ordnungsgemäß geladen war, erschien sie nicht zur Verhandlung. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) reichte - als einzigen Antrag - einen neuen Satz von zehn Ansprüchen sowie geänderte Seiten 4 und 5 des Patents ein.
Anspruch 1 unterscheidet sich vom erteilten Anspruch dadurch, daß in seinem kennzeichnenden Teil als Untergrenze der Glasfasermenge nun 2 % angegeben ist. Dieselbe Änderung wurde auch im unabhängigen Verfahrensanspruch vorgenommen. Die abhängigen Ansprüche 3 und 12 in der erteilten Fassung wurden gestrichen, die Ansprüche 4 bis 11 neu numeriert.
VI. Die Beschwerdeführerin II machte geltend, die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ seien nicht erfüllt, weil die unabhängigen Ansprüche ein Merkmal - nämlich die Wirkung der Glasfasern als Antiabsetzmittel - enthielten, das in der ursprünglichen Anmeldung weder beansprucht noch in der Beschreibung als erfinderisch gewertet worden sei.
Die Argumente der Beschwerdeführerinnen zur erfinderischen Tätigkeit lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Als man die von Asbestfasern ausgehende gesundheitliche Gefährdung erkannt und nach einem Ersatzmaterial gesucht habe, habe dieses Thema über die Grenzen eines Spezialgebiets hinaus allgemeine Bekanntheit erlangt. Selbst die Öffentlichkeit sei für dieses in erster Linie die Bauindustrie betreffende Problem sensibilisiert worden. Außerdem seien das Calciumsilicat-Produkt des Dokuments 2 und die Füllmasse von Gasspeicherbehältern von den Werkstoffen und ihrer Herstellung her sehr eng verwandt und gehörten zu direkt benachbarten Gebieten der Technik, die sich gegenseitig beeinflußten. Da das Dokument 13 überdies offenbare, daß eine feste Masse für Acethylenspeicherbehälter und Beton ganz ähnliche Eigenschaften aufwiesen und bei der Herstellung zahlreicher fester Massen Zement zum Einsatz komme, sei der Fachmann für Füllmassen auch mit den Erkenntnissen aus den Dokumenten 2 bis 5 vertraut. Daher sei es für den Fachmann, der vor der Aufgabe stehe, die Asbestfasern in der aus dem Dokument 1 bekannten Füllmasse von Acethylenspeicherbehältern durch ein anderes Material zu ersetzen, naheliegend, das in dem Dokument 2 oder in den Dokumenten 3 bis 5 vorgeschlagene Ersatzmaterial für Asbestfasern, nämlich alkalibeständige Glasfasern, zu verwenden. Die Beschwerdeführerinnen beriefen sich auf die Entscheidungen T 176/84 (ABl. EPA 1986, 50) und T 195/84 (ABl. EPA 1986, 121). Die Ermittlung der richtigen Glasfasermenge liege in Anbetracht der Lehre des Dokuments 2 oder der Dokumente 2 bis 5 im Bereich fachmännischen Könnens. Aus dem Dokument 10 sei außerdem die Herstellung einer Füllmasse ohne Einbringung eines Suspensionsmittels in die Aufschlämmung bekannt. Wenn die Suspensionswirkung im Dokument 10 dem Kalk zugeschrieben werde, so sei dies de facto nur eine Vermutung; ebensogut könnten die Asbestfasern zu der - nun im Streitpatent offenbarten -Antiabsetzwirkung beigetragen haben. Daher sei die Wirkung von Glasfasern als Antiabsetzmittel zu erwarten gewesen.
VII. Die Hauptargumente der Beschwerdegegnerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Die Bauindustrie könne nicht als mit dem angesprochenen Spezialgebiet der Acethylenspeicherbehälter eng verwandt angesehen werden, da ihre Erzeugnisse Anforderungen erfüllen müßten, die für Acethylenspeicherbehälter ohne Belang seien; dasselbe gelte auch umgekehrt. Das Spezialgebiet gehöre auch nicht zu einem übergeordneten technischen Gebiet und habe mit der Bauindustrie nur das Problem der Substitution von Asbestfasern gemeinsam. Die Dokumente 2 bis 5 enthielten - abgesehen von Ausführungen zur Festigkeit - keine Angaben über die wesentlichen Eigenschaften eines brauchbaren Acethylenspeicherbehälters.
Überdies machten das Suspensionsmittel und die Asbestfasern im Dokument 1 insgesamt zwischen 12 und 37 Gew.-% der porösen Füllmasse aus, während die im Streitpatent beanspruchte Menge der als Verstärkungsmaterial und Antiabsetzmittel wirkenden Glasfasern überraschend niedrig sei. Der Stand der Technik deute nicht darauf hin, daß auf das im Dokument 1 verwendete Suspensionsmittel verzichtet werden könne, ohne es durch andere Mittel, wie die im Dokument 10 offenbarte besondere Behandlung des Kalks, zu ersetzen. Selbst bei rückschauender Betrachtung könne man durch Kombination der Dokumente 1, 2 und 10 nicht zum beanspruchten Gegenstand gelangen, da das Dokument 10 die Behandlung des Kalks vorschreibe.
VIII. Die Beschwerdeführerinnen beantragten die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage der Seiten 1 bis 3 und 6 bis 11 der europäischen Patentschrift in der erteilten Fassung und der in der mündlichen Verhandlung überreichten Seiten 4, 5 und 12.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Gegen die geänderten Ansprüche bestehen keine Einwände nach Artikel 123 (2) EPÜ. Die in den unabhängigen Ansprüchen 1 und 8 angegebene Porosität von 88 % wird durch Anspruch 2, der für den Glasfasergehalt angegebene Bereich von 2 bis 7 % durch Seite 12, Zeilen 1 - 2 der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung gestützt. In bezug auf die zusätzliche Wirkung der Glasfasern als "Antiabsetzmittel" stimmt die Kammer mit der Einspruchsabteilung darin überein, daß dieses Merkmal in der ursprünglichen Beschreibung auf Seite 7, Zeilen 6 - 8 und Seite 12, Zeilen 1 - 2 eindeutig offenbart ist. Für die Prüfung von Änderungen im Hinblick auf Artikel 123 (2) EPÜ spielt es keine Rolle, ob das betreffende Merkmal in der ursprünglichen Anmeldung als wesentlich und erfinderisch dargestellt wurde; es genügt, wenn das Merkmal dort in Verbindung mit den anderen Merkmalen offenbart ist. Daher kann sich die Kammer den diesbezüglichen Argumenten der Beschwerdeführerin II nicht anschließen.
Die geänderten Ansprüche 1 und 8 erweitern offenkundig auch nicht den Schutzbereich des erteilten Anspruchs 1, da der für die Glasfasermenge angegebene Bereich eingeschränkt worden ist.
3. Nachdem die Kammer die acht verspätet eingereichten Dokumente von Amts wegen geprüft hat, hat sie beschlossen, die Dokumente 10 und 13 in Anbetracht ihrer Relevanz zu berücksichtigen. Das Dokument 10 enthält nämlich wichtige Informationen im Zusammenhang mit der Verwendung eines Suspensionsmittels oder alternativer Mittel, die ein Absetzen von Aufschlämmungen verhindern sollen, während Dokument 13 Ähnlichkeiten zwischen Beton und dem Calciumsilicatgitter von Füllmassen in Acethylenspeicherbehältern aufzeigt. Die übrigen Dokumente sind nicht aufschlußreicher als die rechtzeitig eingereichten Entgegenhaltungen und offenbaren nichts, was die Entscheidung in eine andere Richtung lenken könnte. Daher bleiben sie nach Artikel 114 (2) EPÜ außer Betracht.
4. Das Streitpatent betrifft einen Acethylenspeicherbehälter mit einem Metallmantel und einer porösen, gehärteten monolithischen Calciumsilicat-Füllmasse, die in den Metallmantel eingelagert ist und diesen im wesentlichen ausfüllt, zur Aufnahme einer Acethylengaslösung. Die Füllmasse hat eine Porosität von mindestens 88 %, die durch im wesentlichen gleichmäßig verteilte, sehr feine Poren gewährleistet wird, und ist im wesentlichen frei von Hohlräumen. Die Calciumsilicat-Füllmasse enthält ferner ein in der Füllmasse im wesentlichen gleichmäßig verteiltes Faserverstärkungsmaterial. Acethylenspeicherbehälter dieser Art sind bereits aus dem Dokument 1 bekannt, das die Kammer in Übereinstimmung mit der Einspruchsabteilung und allen Verfahrensbeteiligten für den nächstliegenden Stand der Technik hält.
Die im Dokument 1 beschriebene gehärtete Calciumsilicat-Füllmasse enthält als Faserverstärkungsmaterial inerte Mineralfasern, insbesondere Asbestfasern, und wird aus einem Ausgangsgemisch hergestellt, das neben Kieselerde, Kalk und Asbestfasern ein Suspensionsmittel enthält (s. Anspruch 2, Spalte 2, Zeilen 27 -45; Spalte 3, Zeilen 30 - 34). Wie dem Streitpatent zu entnehmen ist, empfahl es sich "aufgrund der allgemein verbreiteten Besorgnis, daß Asbestfasern Gesundheit und Umwelt gefährden können", nach einem Ersatz für Asbestfasern zu suchen.
Vor dem Hintergrund des nächstliegenden Stands der Technik (Dokument 1) kann die dem Patent zugrunde liegende Aufgabe daher darin gesehen werden, einen Acethylenspeicherbehälter bereitzustellen, der die mit der Verwendung von Asbestfasern verbundenen gesundheitlichen Gefahren und Risiken für die Umwelt vermeidet und dessen Füllmasse die hohe Porosität, die gleichmäßige Verteilung sehr feiner Poren sowie die Festigkeits-, die Schrumpfungs-, Wärmesenkungs- und Gasentnahmeeigenschaften aufweist, die für die Aufnahme einer Lösung von gelöstem Acethylengas erforderlich sind.
Zur Lösung dieser Aufgabe wird im kennzeichnenden Teil des Anspruchs 1 vorgeschlagen, (a) die Asbestfasern durch alkalibeständige Glasfasern zu ersetzen, (b) die Glasfasern sowohl als Faserverstärkungsmaterial als auch als Antiabsetzmittel einzusetzen, so daß sich ein Suspensionsmittel, wie es im Dokument 1 vorgesehen ist, erübrigt, und (c) die Menge der Glasfasern so anzusetzen, daß sie 2 - 7 % des Gewichts der gehärteten Calciumsilicat-Füllmasse ausmacht.
In Anbetracht der im Patent enthaltenen Beispiele und der in den Tabellen festgehaltenen physikalischen Eigenschaften ist die Kammer überzeugt, daß die technische Aufgabe einleuchtend gelöst wurde. Dies haben die Beschwerdeführerinnen auch ohnehin nicht bestritten.
4. Nach Prüfung der Entgegenhaltungen ist die Kammer zu dem Schluß gelangt, daß keines dieser Dokumente einen Acethylenspeicherbehälter offenbart, der eine Calciumsilicat-Füllmasse mit den vorstehend genannten Merkmalen a, b und c aufweist. Da die Neuheit von den Beschwerdeführerinnen nicht in Frage gestellt wurde, braucht hierauf nicht näher eingegangen zu werden.
5. Dagegen bleibt noch zu prüfen, ob der beanspruchte Gegenstand dem Erfordernis der erfinderischen Tätigkeit genügt.
5.1 Die Lehre des Dokuments 1 selbst beschränkt sich nicht auf die Verwendung von Asbestfasern als Verstärkungsmaterial für poröse Calciumsilicat-Füllmassen, weil generell auch der mögliche Einsatz inerter Mineralfasern erwähnt ist (s. Spalte 3, Zeilen 30 - 35). Allerdings geht aus dem Dokument nicht hervor, welche Arten von Mineralfasern sich bei dem stark alkalischen pH-Wert und den bei der Herstellung der Füllmasse herrschenden Fertigungsbedingungen als Ersatz für Asbestfasern eignen würden.
5.2 Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern würde sich ein Fachmann, der auf einem technischen Spezialgebiet nach einer Lösung für eine bestimmte Aufgabe sucht und dort keine brauchbaren Hinweise findet, auf Nachbargebieten oder einem übergeordneten allgemeinen Gebiet, auf dem sich die gleichen oder ähnliche Probleme stellen, nach Anregungen umsehen. Es wird erwartet, daß ihm solche allgemeinen Gebiete geläufig sind (s. T 176/84, ABl. EPA 1986, 50 und T 195/84, ABl. EPA 1986, 121).
Dem Fachmann war bekannt, daß man sich bereits auf anderen technischen Gebieten als dem Spezialgebiet der Acethylenspeicherbehälter, insbesondere in der Bauindustrie, mit dem Problem der gesundheitlichen Gefährdung durch Asbestfasern auseinandergesetzt hatte. Selbst die breite Öffentlichkeit war sich schon vor dem Prioritätstag des in der Bauindustrie bestehenden Problems bewußt, wie die Beschwerdeführerinnen hervorgehoben haben und die Beschwerdegegnerin auch nicht bestreitet, weil dieses Problem weithin diskutiert wurde und öffentliche Sicherheitsvorkehrungen nach sich zog. Außerdem wird im Dokument 13, das die Herstellung einer festen Füllmasse für Acethylenspeicherbehälter betrifft, darauf hingewiesen, daß das Calciumsilicatgitter von Füllmassen trotz unterschiedlicher Herstellung im wesentlichen dieselben chemischen Eigenschaften aufweist wie Beton und daß Zement einer der Bestandteile ist, der bei der Herstellung vieler Füllmassen verwendet wird (s. Spalte 1, Zeile 66 - Spalte 2, Zeile 5). Auch wenn die Bauindustrie nach Einschätzung der Kammer insbesondere in Anbetracht der sehr unterschiedlichen Porositätseigenschaften und ganz anderen Verwendung der Erzeugnisse nicht als Nachbargebiet und auch nicht als übergeordnetes allgemeines Gebiet im Sinne der vorstehend genannten Entscheidungen angesehen werden kann, läßt sich aus dem Dokument 13 doch ableiten, daß die auf dem Spezialgebiet der Acethylenspeicherbehälter und die in der Bauindustrie verwendeten Werkstoffe von der Art her verwandt sind. Unter diesen Umständen wäre der Fachmann angesichts der vorstehend dargelegten Aufgabe nach Meinung der Kammer ganz offenkundig darauf gekommen, sich in dem Bereich der Bauindustrie, in dem Zementprodukte durch Fasern verstärkt werden, nach Anregungen umzusehen. Dabei wäre er auf das Dokument 2 gestoßen, das er aus den nachstehend dargelegten Gründen sicherlich mit großem Interesse aufgenommen hätte.
Das Dokument 2 betrifft zwar Werkstoffe, die in der Bauindustrie in Form von Isolierplatten, -steinen oder -folien verwendet werden, ist jedoch auf die Armierung autoklavisch hergestellter Calciumsilicatprodukte gerichtet, zu deren Herstellung man Gemische aus Kalk und Kieselerde mit einem Kalk-Kieselerde-Molverhältnis von 0,8 - 1,2 und wahlweise zugesetzten anderen Bindemitteln wie Zement, also Materialien, die mit denen der für Acethylenspeicherbehälter verwendeten Füllmassen eng verwandt sind, im Autoklav auf 150 - 200° C erwärmt (s. S. 1, Zeilen 52 -76 und S. 3, Tabelle). Darüber hinaus geht dieses Dokument auch auf das Problem der Gesundheitsgefahren ein, die mit dem Einsatz von Asbestfasern bei solchen Produkten einhergehen können, und schlägt als Ersatz für diese Fasern alkalibeständige Glasfasern vor (s. S. 1, Zeile 44 - S. 2, Zeile 8). Dem Dokument 2 zufolge eignen sich Fasern aus ZrO2-haltigem, alkalibeständigem Glas sehr gut als Verstärkungsmittel in autoklavierten Calciumsilicatprodukten (S. 1, Zeilen 48 - 52).
Nach Überzeugung der Kammer hätten diese Lehre und die Tatsache, daß bei der Herstellung dieser Produkte dieselben stark alkalischen Verhältnisse und hohen Temperaturen herrschen wie im Fall der Füllmassen des Dokuments 1, den Fachmann, der bei den Füllmassen die von Asbestfasern ausgehenden Gesundheitsgefahren vermeiden wollte, veranlaßt, die Asbestfasern durch die Glasfasern zu ersetzen, die im Dokument 2 wegen ihrer ausgesprochen erfolgreichen Wirkung als Verstärkungsmittel empfohlen werden.
Daß die Erzeugnisse des Dokuments 2 für Füllmassen eine zu geringe Porosität aufweisen und daß außer zur Festigkeit keine Angaben über die bei einer Füllmasse erforderlichen Eigenschaften gemacht werden, würde den Fachmann nicht davon abhalten, Versuche mit den Glasfasern durchzuführen, da die Porosität der im Dokument 2 offenbarten Produkte auf ihren spezifischen Verwendungszweck abgestimmt ist und daraus nicht der Schluß gezogen werden kann, daß keine höhere Porosität erreichbar ist. Die Bedingungen, unter denen sich eine hohe Porosität von mindestens 88 % und eine gleichmäßige Verteilung feiner Poren erreichen läßt, sind außerdem schon im Dokument 1 angegeben.
5.3 Um zum Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents zu gelangen, müßte der Fachmann nicht nur die Asbestfasern durch die alkalibeständigen Glasfasern des Dokuments 2 ersetzen, sondern auch das in den Gemischen des Dokuments 1 in einer Menge von 8 - 16,5 Gew.-% vorhandene Suspensionsmittel (s. Spalte 2, Zeilen 26 - 45) weglassen und die richtige Glasfasermenge ermitteln.
5.4 Dem Dokument 1 zufolge muß die Aufschlämmung ein Suspensionsmittel enthalten, damit man eine Calciumsilicat-Füllmasse erhält, die eine höhere Porosität - nämlich im Bereich zwischen 86 % und 93 % -, eine gleichmäßige Verteilung sehr feiner Poren und eine für die kommerzielle Nutzung geeignete Festigkeit aufweist, ohne daß sich Bestandteile absetzen oder Hohlräume ausbilden (s. Spalte 1, Zeilen 38 - 72 und Spalte 2, Zeilen 1 - 3 und 27 - 43). Menge und Art des Suspensionsmittels sollten so gewählt werden, daß ein Absetzen oder die Ausbildung von Schichtungen vor der Verfestigung verhindert wird, gleichzeitig aber die gewünschten physikalischen Eigenschaften der Endmasse nicht beeinträchtigt werden (s. Spalte 2, Zeilen 18 - 22). Angegeben sind Mengen von 8 - 16,5 Gew.-%, berechnet auf trockene Substanz. Nach Aussage des Dokuments 1 kann diese Menge verringert werden, wenn in das Gemisch sehr feinkörnige Kieselerde und amorphe Kieselerden eingebracht werden; die in Spalte 3, Zeilen 15 - 24 angegebenen Stoffanteile entsprechen jedoch einer theoretischen Mindestmenge von etwa 6 Gew.-% Suspensionsmittel.
In Anbetracht dieser Lehre wäre der Fachmann, der sich der Aufgabe gegenüber sah, das mit Asbestfasern verbundene Gesundheitsrisiko zu vermeiden, gleichzeitig aber eine Füllmasse mit hoher Porosität (mindestens 88 %) und gleichmäßig verteilten, feinen Poren bereitzustellen, nicht darauf verfallen, das Suspensionsmittel wegzulassen, selbst wenn die Asbestfasern in der Aufschlämmung des Dokuments 1 durch Glasfasern ersetzt werden, weil sich die Lehre des Dokuments 1 nicht auf Asbestfasern beschränkt, sondern auch andere Arten inerter Mineralfasern einschließt (s. Spalte 2, Zeilen 27 - 35; Spalte 3, Zeilen 34 - 35) und das Dokument 2 keinen Hinweis darauf enthält, daß die Glasfasern auch als Suspensionsmittel fungieren könnten.
5.5 Das Dokument 10 betrifft ebenfalls Calciumsilicat-Füllmassen mit einer hohen Porosität von etwa 90 % für Acethylenspeicherbehälter. Im Zusammenhang mit dem Stand der Technik wird darauf hingewiesen, daß die Zugabe eines Suspensionsmittels wie Aluminiumsulfat oder Bentonit zur Aufschlämmung aus Kalk, Kieselerde und Asbestfasern einerseits die Homogenität der Füllmasse verbessert, andererseits aber gewissermaßen verdünnend wirkt und dadurch ihre Festigkeit herabsetzt (s. Spalte 1, Zeilen 20 - 30). Statt der Zugabe dieses Suspensionsmittels wird vorgeschlagen, den gelöschten Kalk einer Vorbehandlung in einer Kolloidmühle zu unterziehen, um sehr feinteiligen Kalk und eine gleichmäßige Dispersion zu erhalten. Es wird davon ausgegangen, daß dieses feinteilige, gleichmäßig dispergierte Calciumhydroxyd auf die Aufschlämmung die erforderliche Suspensionswirkung ausübt, so daß ein Absetzen oder die Ausbildung von Schichtungen nicht erfolgt und ein gleichmäßiges Gefüge der Füllmasse entsteht (s. Spalte 2, Zeilen 41 - 52; Spalte 4, Zeilen 2 - 9). Der Fachmann hätte daher aus dem Dokument 10 geschlossen, daß auf das Suspensionsmittel tatsächlich verzichtet werden kann, wenn statt dessen der Kalk zur Erzielung der erforderlichen Suspensionswirkung einer besonderen Behandlung unterzogen wird. Abgesehen davon ist dem Dokument 10 ebensowenig wie den Dokumenten 1 oder 2 zu entnehmen, daß alkalibeständige Glasfasern eine Suspensions- oder Antiabsetzwirkung haben könnten. Unter diesen Umständen hätte der Fachmann, selbst wenn er auf das Suspensionsmittel des Dokuments 1 verzichtet hätte, statt dessen die im Dokument 10 beschriebene Vorbehandlung des Kalks vorgenommen, da er nicht damit rechnen konnte, ohne Einsatz von Mitteln, die ein Absetzen und die Ausbildung von Schichtungen in der Aufschlämmung verhindern, eine Füllmasse mit hoher Porosität und gleichmäßiger Verteilung feiner Poren zu erhalten. Daher wäre er nicht zu dem beanspruchten Verfahren und Produkt gelangt, bei dem solche Mittel in Anbetracht der unerwarteten Wirkung der Glasfasern als Suspensionsmittel nicht erforderlich sind.
5.6 Die Kammer kann sich den Argumenten der Beschwerdeführerin I in bezug auf das Dokument 10 (s. Nr. VI) nicht anschließen. Auch wenn der Verfasser nur vermutet, daß die Suspensionswirkung dem feinverteilten Kalk zuzuschreiben ist, ist diese Wirkung doch offenbart und nichts Gegenteiliges bewiesen. Dagegen ist die Vermutung der Beschwerdeführerin, daß die Asbestfasern zur erforderlichen Suspensionswirkung (oder Antiabsetzwirkung) beitragen könnten, tatsächlich im Streitpatent zu finden, in den Entgegenhaltungen jedoch nicht offenbart. Selbst wenn man zugunsten der Beschwerdeführerin annimmt, daß dieser Beitrag bekannt war, hätte der Fachmann aus den Dokumenten 1 und 10 geschlossen, daß die Suspensionswirkung der Asbestfasern nicht ausreicht, um ein Absetzen und eine Schichtung im gewünschten Umfang zu verhindern, weil dort die Zugabe eines Suspensionsmittels oder eine Vorbehandlung des Kalks erforderlich war, um die gewünschte Antiabsetzwirkung zu erzielen. Deshalb konnte angesichts der Dokumente 1, 2 und 10 nicht erwartet werden, daß die alkalibeständigen Glasfasern in dem Maße als Suspensionsmittel wirken würden, daß auf andere Suspensionsmittel verzichtet werden könnte.
Der wohl auf das Dokument 10 zu beziehenden Behauptung der Beschwerdeführerin II, daß die Fasern gemäß Spalte 2, Zeilen 49 -51 auch als Antiabsetzmittel dienen können, kann die Kammer nicht zustimmen. Diese Textstelle offenbart vielmehr, daß die Suspensionswirkung auf das feinverteilte Calciumhydroxyd und nicht auf die Fasern zurückzuführen ist.
5.7 Die übrigen Dokumente 3, 4 und 5 beziehen sich auf glasfaserverstärkten Beton in der Bauindustrie. Da es sich bei der Matrix jedoch nicht um ein autoklavisch hergestelltes Calciumsilicatprodukt handelt, sind diese Dokumente vom Gegenstand des Anspruchs 1 weiter entfernt als das Dokument 2. Außerdem enthalten sie keinen Hinweis darauf, daß die als Verstärkungsmaterial verwendeten alkalibeständigen Glasfasern als Suspensionsmittel fungieren könnten.
5.8 Aus den vorstehend dargelegten Gründen ist die Kammer deshalb der Auffassung, daß es in Anbetracht der Entgegenhaltungen nicht naheliegend war, die alkalibeständigen Glasfasern in der Füllmasse eines Acethylenspeicherbehälters als Verstärkungsmaterial und als Antiabsetzmittel zugleich einzusetzen (Merkmal b), um die vorstehend definierte Aufgabe zu lösen. Unter diesen Umständen braucht nicht weiter geprüft zu werden, ob das zusätzliche Merkmal c auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
Demnach folgt, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 dem Erfordernis der erfinderischen Tätigkeit im Sinne der Artikel 52(1) und 56 EPÜ entspricht.
6. Die vorstehend dargelegten Gründe gelten entsprechend für den Verfahrensanspruch 8, der auf ein Verfahren zur Ausbildung eines Acethylenspeicherbehälters mit den in Anspruch 1 genannten Merkmalen gerichtet ist. Somit wird auch diesem Verfahren eine erfinderische Tätigkeit zugesprochen.
Die Patentfähigkeit der abhängigen Ansprüche 2 bis 7, 9 und 10, die bevorzugte Ausführungsarten der Ansprüche 1 und 8 betreffen, leitet sich aus der der Ansprüche 1 und 8 ab.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die erste Instanz mit der Auflage zurückverwiesen, das Patent auf der Grundlage der europäischen Patentschrift, Seiten 1 bis 3 und 6 bis 11 in der erteilten Fassung und der in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Seiten 4, 5 und 12 in geändertem Umfang aufrechtzuerhalten.