BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.4.1 vom 9. Juli 1997 - T 1105/96 - 3.4.1
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | G. D. Paterson |
Mitglieder: | U. G. O. Himmler |
R. K. Shukla |
Anmelder: HAMAMATSU PHOTONICS K.K.
Stichwort: Anträge/HAMAMATSU
Regel: 67, 68 (2), 86 (3) EPÜ
Schlagwort: "weiterer Hilfsantrag für gewährbar, aber als unzulässig erklärt, falls nicht auf alle früheren Anträge verzichtet wird" - "wesentlicher Verfahrensmangel" - "Beschwerde auf der Grundlage eines weiteren Hilfsantrags stattgegeben"
Leitsätze
I. Ein Anmelder ist berechtigt, zusätzlich zu einem Hauptantrag einen oder mehrere Hilfsanträge zu stellen und alle diese Anträge auch dann aufrechtzuerhalten (d. h., sie nicht zurückzunehmen oder auf sie zu verzichten), wenn ihm die Prüfungsabteilung ihre Auffassung mitteilt, alle Anträge mit Ausnahme des letzten Hilfsantrags (möglicherweise mit weiteren Änderungen) seien unzulässig oder nicht gewährbar; er hat dann Anspruch auf eine mit Gründen versehene, beschwerdefähige Entscheidung über die Zurückweisung jedes einzelnen Antrags.
II. Hat eine Prüfungsabteilung ihre Auffassung mitgeteilt, daß ein weiterer Antrag in Form einer geänderten Fassung eines Anspruchs gewährbar wäre, so stellt die Zurückweisung eines solchen weiteren Antrags im voraus, nämlich für den Fall, daß der Anmelder nicht auf alle im Rang vorgehenden Anträge verzichtet, eine unrechtmäßige Ausübung des Ermessens nach Regel 86 (3) EPÜ und einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne der Regel 67 EPÜ dar.
Sachverhalt und Anträge
I. Im Anschluß an eine mündliche Verhandlung, die am 29. Juli 1996 stattfand, wurde diese Anmeldung durch Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 7. August 1996 mit der Begründung zurückgewiesen, der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags weise keine erfinderische Tätigkeit auf. Ferner wurde in der Entscheidung erklärt, der erste und der zweite Hilfsantrag der Anmelderin seien unzulässig gemäß Regel 86 (3) EPÜ, weil sie sich auf andere, in bezug auf den Hauptantrag uneinheitliche Erfindungen bezögen.
II. Ausweislich der ebenfalls auf den 7. August 1996 datierten Niederschrift über die mündliche Verhandlung wurde der Anmelderin in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt, nach vorläufiger Auffassung der Prüfungsabteilung sei der Hauptantrag mangels erfinderischer Tätigkeit und wegen Verstoßes gegen Artikel 123 (2) EPÜ nicht gewährbar, und der erste und der zweite Hilfsantrag bezögen sich nicht auf dieselbe Erfindung wie der Hauptantrag. Ihr wurde auch mitgeteilt, daß "ein durch Aufnahme der Merkmale der ursprünglichen Ansprüche 1, 3 und 28 geänderter neuer Anspruch auf der Grundlage des zweiten Hilfsantrags (wie schon in einem Bescheid vom 13. Januar 1995 vorgeschlagen) ... annehmbar wäre." Nach dem Vorbringen weiterer Argumente und einer Unterbrechung der Verhandlung wurde die Anmelderin davon unterrichtet, daß der Hauptantrag nicht gewährbar sei und die beiden Hilfsanträge nach Regel 86 (3) EPÜ nicht zulässig seien; ein neuer Hauptantrag auf der Grundlage des vorgeschlagenen neuen Anspruchs aber "wäre ... gewährbar ... und zulässig, sofern auf den Hauptantrag sowie den ersten und den zweiten Hilfsantrag, die derzeit vorliegen, verzichtet wird." Nach einer weiteren Unterbrechung der Verhandlung erklärte die Anmelderin, "daß zur Zeit kein neuer Hilfsantrag gestellt wird und der Hauptantrag sowie der erste und der zweite Hilfsantrag ... als Schlußantrag aufrechterhalten werden." Daraufhin wurde die Entscheidung verkündet, den Hauptantrag nach Artikel 52 (1) EPÜ zurückzuweisen und die beiden Hilfsanträge nach Regel 86 (3) EPÜ nicht zuzulassen.
III. Die Anmelderin legte gegen diese Entscheidung ordnungsgemäß Beschwerde ein. Die Beschwerdeschrift wurde am 16. Oktober 1996 eingereicht; darin hieß es, daß "die Anmelderin beabsichtigt, einen geänderten Anspruchssatz zusammen mit der noch folgenden Beschwerdebegründung einzureichen", und es wurde Abhilfe nach Artikel 109 EPÜ beantragt. Außerdem wurde die Rückzahlung der Beschwerdegebühr nach Regel 67 EPÜ mit der Begründung beantragt, dies "entspreche ... der Billigkeit, da die mündliche Verhandlung mit einem wesentlichen Verfahrensmangel behaftet gewesen sei." Die Beschwerdebegründung wurde am 9. Dezember 1996 eingereicht; sie enthielt ordnungsgemäß eine geänderte Beschreibung sowie geänderte Ansprüche und gründete den Antrag, der Beschwerde gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung abzuhelfen, auf die einschlägigen Teile der Entscheidung sowie auf "die in der mündlichen Verhandlung gemachten Zusagen". Zusammen mit der Begründung wurde ebenfalls am 9. Dezember 1996 ein gesondertes Schreiben eingereicht, in dem die Rückzahlung der Beschwerdegebühr mit der Begründung beantragt wurde, die mündliche Verhandlung sei mit wesentlichen Verfahrensmangeln behaftet gewesen; dieses Schreiben läßt sich wie folgt zusammenfassen:
Als sich die Prüfungsabteilung mit der Frage befaßt habe, ob ein weiterer Hilfsantrag auf der Grundlage eines wie vorgeschlagen geänderten Anspruchs mit dem Gegenstand des ursprünglichen Anspruchs 28 zulässig wäre, hätten wesentliche Verfahrensmängel vorgelegen. Die Prüfungsabteilung habe erklärt, daß "eine solche Änderung vorgenommen werden kann, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß die Anmelderin auf ihren Haupt- sowie ihren ersten und zweiten Hilfsantrag verzichtet." Die Zulässigkeit des weiteren Hilfsantrags von einer solchen Voraussetzung abhängig zu machen, sei "eindeutig ein Mißbrauch der Befugnis der Prüfungsabteilung nach Regel 86 (3) EPÜ." Es wurde auf die Entscheidung T 166/86 verwiesen, die Aufschluß darüber gebe, wie das Ermessen nach Regel 86 (3) EPÜ ordnungsgemäß auszuüben sei. Die Prüfungsabteilung habe zu Unrecht versucht, "die Anmelderin zu zwingen, auf ihr Recht zu verzichten, die bevorstehende Entscheidung ... über den Haupt- sowie den ersten und den zweiten Hilfsantrag mit der Beschwerde anzufechten." Ferner habe sie ihre Entscheidung entgegen der Bestimmung in Regel 68 (2) EPÜ praktisch nicht begründet (siehe Entscheidung T 183/89), "sondern sich statt dessen fälschlich darauf gestützt, die Ausübung ihres Ermessens mit einer Voraussetzung zu verknüpfen."
IV. In einem weiteren Schreiben vom 23. Januar 1997, das im Beschwerdeverfahren eingereicht wurde, beanstandete die Anmelderin, die Prüfungsabteilung habe es unter Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes und zu Unrecht abgelehnt, ihrer Beschwerde nach Artikel 109 EPÜ abzuhelfen, denn in der mündlichen Verhandlung sei ihr Abhilfe zugesichert worden. Auf einen Bescheid der Beschwerdekammer hin, in dem unter anderem darauf hingewiesen wurde, daß die Prüfungsabteilung der Beschwerde wahrscheinlich deshalb nicht abgeholfen habe, weil die Anmelderin zusätzlich das Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels geltend gemacht habe (das nicht im Abhilfeverfahren behandelt werden könne), zog die Anmelderin ihre Behauptung zurück, es sei gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoßen worden.
Entscheidungsgründe
1. Bekanntlich können sowohl im Prüfungs- als auch im Einspruchsverfahren vor dem EPA Änderungen an der Fassung einer Anmeldung oder eines Patents in Form eines Hauptantrags und eines oder mehrerer Hilfsanträge vorgeschlagen werden (siehe Rechtsauskunft 15/84, ABl. EPA 1984, 491; T 79/89, ABl. EPA 1992, 283; T 234/86, ABl. EPA 1989, 79; T 169/96 vom 30. Juli 1996). Ein Hilfsantrag ist ein Antrag, der erst dann zum Tragen kommt, wenn der Hauptantrag oder ein im Rang vorgehender Hilfsantrag für nicht gewährbar erklärt wird (T 153/85, ABl. EPA 1988, 1).
Werden zusätzlich zum Hauptantrag ein oder mehrere Hilfsanträge gestellt (wie im vorliegenden Fall), so ist das EPA an diese Anträge und ihre Rangfolge gebunden. Bevor es über einen Hilfsantrag entscheiden kann, muß es den Hauptantrag und alle im Rang vorgehenden Hilfsanträge prüfen und darüber entscheiden (Art. 113 (2) EPÜ; T 155/88 vom 14. Juli 1989 und T 484/88 vom 1. Februar 1989, jeweils zitiert in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA"; T 169/96 (s. o.)), solange auf diese vorgehenden Anträge nicht verzichtet worden ist und sie deshalb noch anhängig sind (T 169/96 (s. o.)).
Ein Anmelder ist somit berechtigt, zusätzlich zu einem Hauptantrag einen oder mehrere Hilfsanträge zu stellen und alle diese Anträge aufrechtzuerhalten (d. h., sie nicht zurückzunehmen oder auf sie zu verzichten), auch wenn ihm die Prüfungsabteilung ihre Auffassung mitteilt, alle Anträge mit Ausnahme des letzten Hilfsantrags (möglicherweise mit weiteren Änderungen) seien unzulässig oder nicht gewährbar. Hält der Anmelder unter diesen Umständen seinen Hauptantrag und seine früheren Hilfsanträge aufrecht, so hat er Anspruch auf eine mit Gründen versehene, beschwerdefähige Entscheidung über die Zurückweisung jedes einzelnen Antrags.
2. Im vorliegenden Fall erklärte die Prüfungsabteilung in der mündlichen Verhandlung ausweislich der in Nummer II zusammengefaßten Niederschrift vom 7. August 1996 über diese Verhandlung, eine geänderte Fassung des Anspruchs 1 der Anmeldung wäre gewährbar, werde aber nur dann als zulässiger Antrag betrachtet, wenn auf alle anderen im Rang vorgehenden anhängigen Anträge verzichtet werde. Die Anmelderin verzichtete nicht auf die vorgehenden anhängigen Anträge und, was nicht überraschend ist, reichte auch keine geänderte Fassung des Anspruchs 1 ein, wie dies die Prüfungsabteilung angeregt hatte, da ihr ja bereits mitgeteilt worden war, daß diese nicht zulässig wäre, wenn sie nicht auf die vorgehenden Anträge verzichte.
3. In der Entscheidung T 155/88 (s. o.) hieß es im Zusammenhang mit einem Einspruchsverfahren, daß es "eindeutig völlig falsch wäre, wenn eine Einspruchsabteilung versuchen würde, von einem Patentinhaber die Rücknahme eines Haupt- oder eines Hilfsantrags 'zu verlangen'". Ebenso ist es völlig falsch, wenn eine Prüfungsabteilung die Zulässigkeit eines weiteren Antrags davon abhängig macht, daß auf alle im Rang vorgehenden Anträge verzichtet wird. Wie bereits festgestellt, ist ein Anmelder berechtigt, einen Hauptantrag und einen oder mehrere Hilfsanträge zu stellen und auch aufrechtzuerhalten. Im vorliegenden Fall scheint in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung unverhohlen der Versuch gemacht worden zu sein, die Anmelderin zum Verzicht auf die im Rang vorgehenden Anträge und somit auf ihr Recht zu zwingen, die Zurückweisung der vorgehenden Anträge anzufechten.
4. Ob ein nach der Erwiderung auf den ersten Bescheid der Prüfungsabteilung gestellter Haupt- oder Hilfsantrag zulässig ist, liegt im Ermessen der Prüfungsabteilung (R. 86 (3) EPÜ). Dieses Ermessen muß sie rechtmäßig unter Berücksichtigung der relevanten Umstände ausüben. In einem Fall wie diesem, in dem eine Prüfungsabteilung erklärt hat, daß ein weiterer Antrag in Form einer geänderten Fassung für den Hauptanspruch einer Anmeldung gewährbar wäre, ist schwer vorstellbar, unter welchen Umständen die Prüfungsabteilung die Zulässigkeit eines solchen Antrags in Ausübung ihres Ermessens rechtmäßig verneinen könnte. Einen solchen weiteren Hilfsantrag im voraus zurückzuweisen, falls nicht auf alle im Rang vorgehenden Anträge verzichtet wird, stellte im vorliegenden Fall sicherlich einen Verfahrensmißbrauch, eine unrechtmäßige Ausübung des Ermessens nach Regel 86 (3) EPÜ und mithin einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne der Regel 67 EPÜ dar. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr entspricht eindeutig der Billigkeit.
5. Die Anmelderin hat in ihrer Beschwerdebegründung die Erteilung eines Patents in der Fassung beantragt, die die Prüfungsabteilung im Verfahren vor ihr für gewährbar erklärt hatte. Hätte die Anmelderin in der Beschwerdebegründung nicht behauptet, das Prüfungsverfahren sei mit einem wesentlichen Verfahrensmangel behaftet, so hätte die Prüfungsabteilung ihrer Beschwerde nach Artikel 109 EPÜ abhelfen müssen. Der Beschwerde ist deshalb eindeutig stattzugeben.
6. Die Kammer stellt auch fest, daß in der angefochtenen Entscheidung der erste und der zweite Hilfsantrag mit der Begründung als unzulässig erklärt wurden, ihr Gegenstand sei gegenüber dem des Hauptantrags uneinheitlich. In der Entscheidung werden keine rechtlichen oder tatsächlichen Gründe für diese Feststellung genannt, so daß die angefochtene Entscheidung auch gegen Regel 68 (2) EPÜ verstoßen hat.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Entscheidung der Prüfungsabteilung wird aufgehoben; der Beschwerde wird stattgegeben.
2. Die Sache wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, auf der Grundlage der in der Beschwerdebegründung vom 9. Dezember 1996 angegebenen Fassung ein Patent zu erteilen.
3. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird angeordnet.