BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.3.3 vom 10. März 1994 - T 951/91 - 3.3.3*
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | C. Gérardin |
Mitglieder: | R. Lunzer |
| G. Davies |
Patentinhaber/Beschwerdegegner: E. I. Du Pont De Nemours and Company
Einsprechender/Beschwerdeführer: Degussa AG, Frankfurt
Stichwort: Verspätetes Vorbringen/DU PONT
Artikel: 114 EPÜ
Schlagwort: "Ankündigung des verspäteten Vorbringens nicht näher bezeichneter Versuchsdaten - Ergebnisse nicht zugelassen"
Leitsatz
Der Ermessensspielraum der Organe des EPA nach Artikel 114 (2) EPÜ soll gewährleisten, daß Verfahren im Interesse der Beteiligten, der breiten Öffentlichkeit wie auch des EPA rasch zum Abschluß gebracht werden können, und taktische Mißbräuche verhindern. Legt ein Beteiligter die für seine Sache relevanten Tatsachen, Beweismittel und Argumente ohne Angabe stichhaltiger Gründe nicht so frühzeitig und vollständig wie möglich vor und würde deren Zulassung zu einer übermäßigen Verzögerung des Verfahrens führen, so können die Beschwerdekammern diese Zulassung im Rahmen ihres Ermessensspielraums nach Artikel 114 (2) EPÜ durchaus zu Recht ablehnen (Nummer 5.15 der Entscheidungsgründe; T 156/84, ABl. EPA 1988, 372, eingeschränkt).
Sachverhalt und Anträge
I. Das europäische Patent Nr. 116 456 wurde am 25. Mai 1988 auf der Grundlage der am 7. Februar 1984 eingereichten Anmeldung Nr. 84 300 759.2 erteilt, mit der die Priorität der beiden US-Anmeldungen 464411 vom 7. Februar 1983 und 570037 vom 16. Januar 1984 in Anspruch genommen wurde; es umfaßte 66 Patentansprüche, wobei der Anspruch 1 wie folgt lautete:
"Thermoplastische Polyoxymethylenzusammensetzung mit erhöhter Zähigkeit, im wesentlichen bestehend aus ..."
II. Am 22. Februar 1989 legten die Firmen Hoechst AG (Einsprechender I) und Degussa AG (Einsprechender II) unabhängig voneinander unter Hinweis auf Artikel 100 a) EPÜ Einspruch ein und machten mangelnde Neuheit (Art. 54 EPÜ) sowie mangelnde erfinderische Tätigkeit (Art. 56 EPÜ) geltend. Darüber hinaus brachte der Einsprechende I, gestützt auf Artikel 100 b) (Art. 83) EPÜ, vor, daß die Erfindung nicht ausreichend offenbart sei, und bemängelte unter Berufung auf Regel 29 (4) und (5) EPÜ, daß die Zahl der Ansprüche ungebührlich hoch sei; letzteres wurde im weiteren Verlauf des Verfahrens nicht aufrechterhalten. Beide Einsprechenden beantragten den Widerruf des Patents in vollem Umfang. ...
III. In ihrer Entscheidung, die am 18. September 1991 verkündet und am 8. Oktober 1991 schriftlich begründet wurde, befand die Einspruchsabteilung, daß kein rechtswirksamer Einspruchsgrund gegen die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung vorliege. ...
IV. Lediglich der Einsprechende II (Beschwerdeführer) legte am 11. Dezember 1991 Beschwerde gegen diese Entscheidung ein; die Beschwerdegebühr wurde am selben Tag entrichtet und die Beschwerdebegründung am 14. Februar 1992 eingereicht. Sämtliche Einspruchsgründe wurden aufrechterhalten. ...
VI. Mit Schreiben vom 18. November 1993, das am 23. November 1993 einging, kündigte der Beschwerdeführer die Vorlage neuer Versuchsdaten an.
Mit Bescheid vom 15. Dezember 1993 teilte die Kammer den Beteiligten mit, daß eine Entscheidung auf der Grundlage aller zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Unterlagen bereits im Entwurf erstellt sei. Die rund zwanzig Monate nach Einreichung der Beschwerdebegründung angekündigte Vorlage weiterer Versuchsdaten zu einem nicht näher genannten Zeitpunkt werde als ein Mißbrauch des Verfahrens angesehen. In Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 114 (2) EPÜ sei die Kammer daher nicht bereit, dieses neue Material zuzulassen.
VII. Der Einsprechende I schloß sich der Beschwerde nicht an und erklärte mit Schreiben vom 30. November 1992, das am 2. Dezember 1992 einging, daß er seinen Einspruch zurückziehe.
VIII. Der Beschwerdeführer beantragte
i) die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents in vollem Umfang. ...
Entscheidungsgründe
...
Zulässigkeit verspätet eingereichter Versuchsdaten
4. Wie unter der Nummer VI angeführt, war die Entscheidung in dieser Sache am 22. November 1993 im wesentlichen erstellt.
Am 25. November 1993 erhielt die Kammer ein vom 18. November datiertes Schreiben des Beschwerdeführers folgenden Inhalts:
"In vorbezeichneter Angelegenheit kündigt die Beschwerdeführerin an, daß sie binnen einer Frist von zwei Monaten Ergebnisse von Vergleichsversuchen vorlegen wird."
Mit Bescheid vom 15. Dezember 1993 teilte die Kammer mit, daß sie den Versuch, in einem derart fortgeschrittenen Verfahrensstadium, d. h. rund zwanzig Monate nach Einreichung der Beschwerdebegründung, neue Beweismittel vorzubringen, als einen Mißbrauch des Verfahrens ansehe. In Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 114 (2) EPÜ lehne sie daher die Zulassung weiterer Versuchsdaten ab.
5. Soweit der Kammer bekannt, ist die Sachlage im vorliegenden Fall insofern neuartig, als die Kammer von ihrem Ermessen nach Artikel 114 (2) EPÜ, von einem Beteiligten verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel nicht zu berücksichtigen, bereits Gebrauch gemacht hat, bevor ihr diese überhaupt vorlagen. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern können Tatsachen und Beweismittel, die im Beschwerdeverfahren erstmals vorgebracht werden, gemäß Artikel 114 (2) EPÜ nach dem Ermessen der Beschwerdekammern unberücksichtigt bleiben. Bei der Prüfung eines Antrags auf Zulassung verspätet eingereichter Unterlagen hat eine Kammer, die ihr Ermessen zum Nachteil des Einreichenden ausübt, in der Regel aber vor ihrer Entscheidung Gelegenheit, sich eine Meinung über die Relevanz dieser Unterlagen zu bilden. Daher hat die Kammer die Ermessensbefugnis nach Artikel 114 (2) EPÜ im Lichte der Rechtsprechung der Beschwerdekammern und ihrer rechtsgeschichtlichen Entwicklung zu untersuchen.
5.1 Die Beschwerdekammern haben häufig zu entscheiden, ob verspätet eingereichte Unterlagen oder Beweismittel zu berücksichtigen sind oder nicht. Nach Artikel 114 (1) EPÜ ist das EPA verpflichtet, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln; dabei ist es weder auf das Vorbringen noch auf die Anträge der Beteiligten beschränkt. Nach Artikel 114 (2) EPÜ braucht das EPA aber Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten verspätet vorgebracht werden, nicht zu berücksichtigen. Zu diesen beiden Bestimmungen hat sich eine umfangreiche Rechtsprechung herausgebildet.
5.2 Im Einspruchsverfahren hat der Einsprechende seine Beweismittel spätestens am Tag der Einreichung der Einspruchsschrift vorzulegen (Art. 99 (1) EPÜ in Verbindung mit R. 55 c) EPÜ). In diesem Zusammenhang ist zweckmäßigerweise auf die in ABl. EPA 1989, 417 veröffentlichte Mitteilung zum "Einspruchsverfahren im EPA" zu verweisen, die weitere Hinweise zum Zeitpunkt und zur Art und Weise des Vorbringens von Beteiligten in Einspruchsverfahren enthält. So heißt es unter der Nummer 2 dieses Dokuments wie folgt:
"Das Europäische Patentamt ist weiterhin bestrebt, im Interesse der am Einspruchsverfahren Beteiligten und der Öffentlichkeit möglichst rasch zu klären, ob das erteilte Patent im Hinblick auf das Einspruchsvorbringen aufrechterhalten werden kann. Dies soll durch ein zügiges und straffes Verfahren erreicht werden."
Unter der Nummer 13 dieses Dokuments heißt es bezüglich verspätet vorgebrachter Tatsachen und Beweismittel:
"Im Interesse einer Beschleunigung des Verfahrens sollten die Beteiligten grundsätzlich alle Tatsachen, Beweismittel und Anträge zu Beginn des Verfahrens oder - wenn dies nicht möglich ist - zum frühestmöglichen Zeitpunkt vorbringen."
5.3 Dem haben sich die Beschwerdekammern angeschlossen und darauf hingewiesen, daß Einsprechende gemäß dem Erfordernis des zügigen Abschlusses von Verfahren sowie dem Grundsatz der Fairneß gegenüber den anderen Beteiligten alle Einwände innerhalb der Einspruchsfrist vorbringen sollten (siehe T 101/87 vom 25. Januar 1990, T 430/89 vom 17. Juli 1991 und T 237/89 vom 2. Mai 1991, alle unveröffentlicht). Laut T 117/86 (ABl. EPA 1989, 401) brauchen Tatsachen und Beweismittel zur Stützung eines Einspruchs, die nach Ablauf der Frist von neun Monaten und damit verspätet vorgelegt werden, gemäß Artikel 114 (2) EPÜ von der Kammer nicht im Verfahren zugelassen zu werden.
Im vorliegenden Fall hätten die Tatsachen und Beweismittel somit spätestens am 22. Februar 1989, dem Tag der Einreichung der Einspruchsschrift, vorgebracht werden müssen, d. h. vier Jahre und neun Monate vor der Ankündigung des Beschwerdeführers, Versuchsdaten vorlegen zu wollen; daher wären die Beweismittel - falls sie zugelassen worden wären - eindeutig verspätet vorgebracht gewesen.
5.4 Somit liegt hier das von den Beschwerdekammern z. B. in T 117/86 (s. o.), T 182/89 (ABl. EPA 1991, 391) oder T 326/87 (ABl. EPA 1992, 522) klar anerkannte und angewandte Prinzip zugrunde, daß die Beteiligten ihre Sache frühzeitig und vollständig vorbringen und die Argumente und Beweismittel nicht nach und nach oder verspätet einreichen sollen. So heißt es in T 326/87:
"Diese Rechtsprechung legt in Verbindung mit der ausdrücklichen, in allen drei Sprachen klar und eindeutig formulierten Bestimmung des Artikels 114 (2) EPÜ die rechtlichen Grenzen für die in Artikel 114 (1) EPÜ verankerte Ermittlungspflicht der Beschwerdekammern fest ..."
5.5 Der Artikel 114 EPÜ mit seinen beiden Absätzen ist nicht nur - wie oben angeführt - klar formuliert, sondern weist auch die klassische Form einer Rechtsvorschrift auf, deren erster Absatz eine generelle Verpflichtung enthält, die durch eine unter den im zweiten Absatz festgelegten Umständen mögliche Ermessensentscheidung eingeschränkt wird. Unter bestimmten Umständen kann die im zweiten Absatz angesprochene Ermessensausübung der im ersten Absatz verankerten generellen Verpflichtung vorgehen.
5.6 In einer grundlegenden Entscheidung (T 156/84, ABl. EPA 1988, 372) wurde jedoch die Auffassung vertreten, daß der Grundsatz der Ermittlung von Amts wegen (Art. 114 (1) EPÜ) Vorrang vor der dem EPA eingeräumten Befugnis hat, verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel nach Artikel 114 (2) EPÜ unberücksichtigt zu lassen. Dies ergebe sich aus der Verpflichtung des EPA gegenüber der Öffentlichkeit, keine Patente zu erteilen oder aufrechtzuerhalten, von denen es überzeugt sei, daß sie rechtlich keinen Bestand haben. Somit müsse das EPA die Relevanz von Entgegenhaltungen prüfen, die nachträglich in das Verfahren eingeführt werden. Der Artikel 114 (2) EPÜ diene demnach allein dazu, dem EPA die Möglichkeit zu eröffnen, nachgereichte Unterlagen ohne ausführliche Begründung unberücksichtigt zu lassen, wenn diese für die Entscheidung unerheblich seien (Nummer 3.8 der Entscheidungsgründe). In Anlehnung an diese Entscheidung wird das Ermessen nach Artikel 114 (2) EPÜ, neue Tatsachen oder Beweismittel unberücksichtigt zu lassen, von den Beschwerdekammern in der Praxis üblicherweise in Form einer sogenannten "Relevanzprüfung" ausgeübt. Ob verspätet eingereichte Unterlagen berücksichtigt werden, hängt davon ab, ob sie für den Ausgang des Falls möglicherweise relevant sind (T 258/84, ABl. EPA 1987, 119).
5.7 Diese Auslegung ist nach Auffassung der Kammer nicht unbedingt mit dem eindeutigen Wortlaut des Artikels 114 (2) EPÜ vereinbar, wobei auch die Begründung der früheren Entscheidung teilweise fraglich ist. Neben der oben angeführten Berücksichtigung des öffentlichen Interesses wurde dort auch Artikel 115 EPÜ zur Auslegung des Artikels 114 (2) EPÜ herangezogen. Es wurde darauf hingewiesen, daß sich das Ermessen nach Artikel 114 (2) EPÜ, verspätet eingereichte Unterlagen unberücksichtigt zu lassen, auf die "Beteiligten" beziehe, während gemäß Artikel 115 (1) EPÜ, der Einwendungen Dritter betreffe, die "am Verfahren ... nicht beteiligt" seien. Daraus wurde geschlossen, daß das EPA nicht befugt sei, verspätet eingereichte Unterlagen Dritter auszuschließen, und folgendes angemerkt:
"Es wäre lächerlich, wenn der Einsprechende verspätet ermittelte Unterlagen über einen Dritten nach Artikel 115 EPÜ einreichen müßte, damit sie nicht aufgrund von Artikel 114 (2) EPÜ unberücksichtigt bleiben."
Diese Unstimmigkeit war nur zu umgehen, indem entschieden wurde, daß auch von den Beteiligten vorgelegte relevante Unterlagen, die verspätet eingereicht wurden, nicht ausgeschlossen werden können (T 156/84, Nummern 3.5 bis 3.7 der Entscheidungsgründe).
5.8 Ebenso läßt sich zur Auslegung des Artikels 115 EPÜ aber auch Artikel 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge heranziehen, was die Große Beschwerdekammer und die Beschwerdekammern auch vielfach getan haben. Bei Auslegung des oben angeführten Wortlauts dieses Artikels im Lichte seines Zieles und Zweckes wird klar, daß er ausschließlich der Einschränkung, nicht aber der Ausweitung der Rechte Dritter und schon gar nicht der Ausweitung ihrer Rechte über die Rechte der an Verfahren vor dem EPA Beteiligten hinaus dienen soll.
5.9 Dies würde bedeuten, daß das EPA, wenn es gegenüber einem Beteiligten, der sich aufschiebender Mittel bedient und Unterlagen verspätet vorbringt, von seinem Ermessen Gebrauch machen und die Unterlagen unberücksichtigt lassen kann, wie es in Artikel 114 (2) EPÜ eindeutig vorgesehen ist, dieselbe Rechtsfolge erst recht gegenüber einem Dritten zur Anwendung bringen kann, der sich aufschiebender Mittel bedient. Es läßt sich daher nicht bestreiten, daß verspätet eingereichte Unterlagen ungeachtet ihrer Relevanz in Ausübung des Ermessens nach Artikel 114 (2) EPÜ ausgeschlossen werden können, wenn auch diese Relevanz - wie im nächsten Absatz erläutert - einen Einfluß auf die Art und Weise der Ausübung des Ermessens haben kann.
5.10 Ein Gericht ist in der Ausübung seines Ermessens wie jede andere Justizinstanz zu unparteiischem Handeln verpflichtet, es darf also nicht nach Gutdünken handeln, sondern muß dem gesamten Sachverhalt Rechnung tragen. Im Rahmen von Einspruchsverfahren vor dem EPA und anschließenden Einspruchsbeschwerdeverfahren ist die Relevanz verspätet eingereichter Unterlagen ebenso ein Sachverhalt wie der asymmetrische Charakter von Einspruchsverfahren, wobei der Widerruf eines Patents endgültig ist, während ein Einsprechender nach der Zurückweisung seines Einspruchs immer noch die Möglichkeit hat, die Gültigkeit des Patents vor den einzelnen nationalen Gerichten anzufechten.
5.11 Diese Auslegung des Artikels 114 (2) EPÜ steht in Einklang mit der jüngsten Rechtsprechung der Beschwerdekammern. Wie die Kammer in der Entscheidung T 97/90, ABl. EPA 1993, 719 befand, bedeutet der Wortlaut des Artikels 114 (1) EPÜ nicht, daß die Beschwerdekammern das erstinstanzliche Verfahren neu aufrollen müssen mit dem unbeschränkten Recht und sogar der Pflicht, alles neue Material ungeachtet der Frage zu prüfen, wie spät es vorgebracht wurde. Weiter heißt es dort:
"... eine solche Auslegung des Artikels 114 (1) EPÜ läßt nicht nur den Zusammenhang mit dem zweiten Absatz des Artikels 114, sondern auch den mit dem Artikel 111 (1) EPÜ vermissen. Wird Artikel 114 (1) EPÜ in seinem Gesamtzusammenhang ausgelegt, so wird erkennbar, daß der Umfang etwaigen neuen Materials, das von den Beteiligten oder der Kammer selbst in ein Beschwerdeverfahren eingeführt werden darf, klar begrenzt ist, denn Beschwerdesachen müssen mit den in erster Instanz entschiedenen Fällen identisch oder eng verwandt sein und auch bleiben. Diese Auslegung wird von der Rechtsprechung der Kammer eindeutig bestätigt, beispielsweise in den Entscheidungen T 26/88, ABl. EPA 1991, 30, T 326/87" (s. o.), T 153/85, ABl. EPA 1988, 1 "und T 611/90, ABl. EPA 1993, 50 und auch in einer Reihe unveröffentlichter Entscheidungen, z. B. T 137/90" vom 26. April 1991 und "T 38/89" vom 21. August 1990. In derselben Sache fuhr die Kammer wie folgt fort: "Eine ... generelle Verpflichtung zur Prüfung sämtlichen Materials ungeachtet der Frage, wie spät es eingereicht worden ist, würde die Tätigkeit der erstinstanzlichen Organe entweder überflüssig machen oder ihre Aufgabe darauf beschränken, lediglich eine vorläufige Auffassung im Hinblick auf eine spätere richterliche Überprüfung und Entscheidung durch die Beschwerdekammern darzulegen."
5.12 In ihrer Entscheidung G 9/91, ABl. EPA 1993, 408 hat die Große Beschwerdekammer vor kurzem die Rechtslage im Beschwerdeverfahren geklärt und dabei befunden, daß das Beschwerdeverfahren - anders als das rein administrative Einspruchsverfahren - als verwaltungsgerichtliches Verfahren anzusehen sei, wie in ihren jüngst ergangenen Entscheidungen G 7/91, ABl. EPA 1993, 356 und G 8/91, ABl. EPA 1993, 346 (jeweils Nummer 7 der Entscheidungsgründe) dargelegt. Ein solches Verfahren sei seiner Natur nach weniger auf Ermittlungen ausgerichtet als ein Verwaltungsverfahren. Daher erscheine es gerechtfertigt, Artikel 114 (1) EPÜ, obwohl er sich formal gesehen auch auf das Beschwerdeverfahren erstrecke, dort generell restriktiver anzuwenden als im Einspruchsverfahren.
5.13 In den Vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ wird diese Auslegung bestätigt. Nach dem Bericht der Luxemburger Regierungskonferenz zum ersten Vorentwurf des EPÜ aus dem Jahre 1970 "bestimmt" Artikel 113 (2) - der spätere Artikel 114 (2) -
"jedoch, daß die Beschwerdekammer Tatsachen oder Beweismittel, die nicht rechtzeitig vorgebracht worden sind, nicht zu berücksichtigen braucht. Das Beschwerdeverfahren soll nicht dadurch ungebührlich verzögert werden, daß der Beschwerdeführer nachlässig handelt oder sich aufschiebender Mittel bedient."
Im übrigen war schon von Anfang an im Jahre 1961 eine Vorschrift gleichen Inhalts vorgeschlagen worden; damit sollte "verhindert werden, daß von böswilligen oder unachtsamen Beschwerdeführern das Beschwerdeverfahren unnötig verschleppt wird" (EWG-Arbeitsgruppe "Patente", 29. Mai 1961). (Die Entscheidung T 122/84, ABl. EPA 1987, 177 befaßt sich ausführlich mit den Verweisen auf Artikel 114 (1) und (2) EPÜ in den Vorbereitenden Arbeiten).
5.14 Auch wenn nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern und in Anlehnung an die Sache T 156/84 die Relevanz, d. h. die Beweiskraft gegenüber anderen bereits im Verfahren befindlichen Unterlagen das Hauptkriterium ist für die Entscheidung über die Zulässigkeit eines verspätet eingereichten Dokuments, haben die Kammern doch in mehreren Fällen die verspätet eingereichten Beweismittel unberücksichtigt gelassen und deren mögliche Relevanz nicht geprüft.
So entschied die Kammer beispielsweise in den Sachen T 534/89, ABl. EPA 1994, 464 und T 17/91 (Leitsatz veröffentlicht in ABl. EPA 9/1993) in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 114 (2) EPÜ, verspätet eingereichte Beweismittel für eine offenkundige Vorbenutzung ohne Prüfung ihrer möglichen Relevanz unberücksichtigt zu lassen, da das verspätete Vorbringen einen Mißbrauch des Verfahrens vor dem EPA und einen Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben zwischen dem EPA und den an Verfahren vor dem EPA Beteiligten darstelle.
In der Sache T 270/90, ABl. EPA 1993, 725 lehnte die Kammer die Berücksichtigung verspätet eingereichter Versuchsdaten ebenfalls ab, da das verspätete Vorbringen (zwei Wochen vor der mündlichen Verhandlung) einen Mißbrauch des Verfahrens darstelle und gegen den Grundsatz der Fairneß verstoße. Auch in der Sache T 741/91 vom 22. September 1993 (unveröffentlicht) weigerte sich die Kammer, die Relevanz von Beweismitteln zu prüfen, die einen Tag vor einer mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht worden waren. Sie wertete die Einreichung von Beweismitteln zu einem derart späten Zeitpunkt als unzumutbares Verhalten des betreffenden Beteiligten, weshalb die Einspruchsabteilung diese Beweismittel in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 114 (2) EPÜ hätte unberücksichtigt lassen sollen.
Desgleichen befand die Große Beschwerdekammer in der Sache G 4/92, ABl. EPA 1994, 149, daß die Vorlage neuer Beweismittel oder Tatsachen, die durchaus früher hätten vorgebracht werden können, in einer mündlichen Verhandlung grundsätzlich einen Verfahrensmißbrauch darstelle, den eine Instanz des EPA dadurch unterbinden könne, daß sie es in Anwendung des Artikels 114 (2) EPÜ ablehne, diese Tatsachen oder Beweismittel zu berücksichtigen.
5.15 Der Ermessensspielraum der Organe des EPA nach Artikel 114 (2) EPÜ soll gewährleisten, daß Verfahren im Interesse der Beteiligten, der breiten Öffentlichkeit wie auch des EPA rasch zum Abschluß gebracht werden können, und taktische Mißbräuche verhindern. Die Beteiligten müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß verspätet eingereichte Unterlagen unberücksichtigt bleiben, und ihr Bestes zu tun, um die für ihre Sache relevanten Tatsachen, Beweismittel und Argumente so frühzeitig und vollständig wie möglich vorzulegen. Unterläßt ein Beteiligter dies ohne Angabe stichhaltiger Gründe und würde die Zulassung der Beweismittel zu einer übermäßigen Verzögerung des Verfahrens führen, so können die Beschwerdekammern die Zulassung im Rahmen ihres Ermessensspielraums nach Artikel 114 (2) EPÜ durchaus zu Recht ablehnen.
6. Im vorliegenden Fall ist die Kammer der Auffassung, daß der Versuch des Beschwerdeführers, in einem derart fortgeschrittenen Verfahrensstadium neue Beweismittel vorzulegen, als unzumutbares Verhalten zu werten und sie in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 114 (2) EPÜ berechtigt ist, die Zulassung solcher Beweismittel abzulehnen. So hat der Beschwerdeführer erst nahezu fünf Jahre nach Einreichung seiner Einspruchsschrift und rund zwanzig Monate nach Einreichung seiner Beschwerdebegründung versucht, die betreffenden Versuchsdaten als Beweismittel vorzubringen. Legt ein Beteiligter aber Tatsachen oder Beweismittel erst in einem fortgeschrittenen Verfahrensstadium vor, so hat er stichhaltige Gründe für diese Verzögerung anzugeben.
Der Beschwerdeführer hat der Kammer gegenüber weder eine Erklärung für diese Verzögerung abgegeben noch nachgewiesen, daß er an der Einreichung der Beweismittel zu einem früheren Zeitpunkt gehindert war. Im gesamten Zeitraum wurden der Beschwerdegegner wie auch das EPA und die Öffentlichkeit im allgemeinen in Unkenntnis über den vollen Umfang des Vorbringens des Beschwerdeführers gelassen. Eine Zulassung der Beweismittel hätte eine unvertretbare Verzögerung des Verfahrens zur Folge, da dem Beschwerdegegner die Möglichkeit eingeräumt werden müßte, dazu Stellung zu nehmen und im Gegenzug eigene Versuchsdaten vorzulegen. Wie unter den Nummern 5.2 und 5.3 angeführt, liegt es im Interesse der Öffentlichkeit wie auch der am Einspruchsverfahren Beteiligten - und dies gilt gleichermaßen auch bei Einspruchsbeschwerdeverfahren -, möglichst rasch zu klären, ob das erteilte Patent im Hinblick auf das Einspruchsvorbringen aufrechterhalten werden kann oder nicht.
Sachfragen
...
Schlußfolgerung bezüglich der Sachfragen
12. Die Prüfung der vom Beschwerdeführer angesprochenen Sachfragen hat ergeben, i) daß sich der beanspruchte Gegenstand in mindestens einem Merkmal von der ausdrücklichen Lehre der Dokumente 1, 5 und 6 unterscheidet, ii) daß sich die patentgemäße Kombination von Merkmalen aus den angeführten Dokumenten - für sich genommen oder in Verbindung miteinander - nicht in naheliegender Weise ergibt und iii) daß von einer unzureichenden Offenbarung nicht die Rede sein kann. Deshalb hätten wohl auch die vom Beschwerdeführer angekündigten Versuchsdaten an diesen Schlußfolgerungen nichts geändert.
Weitere Verfahrensfragen
...
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
...
* Die Entscheidung ist hier nur auszugsweise abgedruckt. Eine Kopie der ungekürzten Entscheidung in der Verfahrenssprache ist bei der Informationsstelle des EPA in München gegen Zahlung einer Fotokopiergebühr von 1,30 DEM pro Seite erhältlich.