BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.4.2 vom 17. Dezember 1998 - T 315/97 - 3.4.21
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | E. Turrini |
Mitglieder: | M. Chomentowski |
B. J. Schachenmann |
Patentinhaber/Beschwerdegegner: Minnesota Mining and Manufacturing Company
Einsprechender/Beschwerdeführer: Nippon Carbide Industries Co., Ltd. New Tokyo Building
Stichwort: Reformatio in peius/Minnesota Mining
Artikel: 112 (1) a) EPÜ
Schlagwort: "Reformatio in peius"
Leitsatz
Der Großen Beschwerdekammer wird folgende Rechtsfrage vorgelegt:
Muß ein - z. B. durch Streichung eines einschränkenden Anspruchsmerkmals - geänderter Patentanspruch zurückgewiesen werden, durch den der Einsprechende und alleinige Beschwerdeführer schlechtergestellt würde als ohne die Beschwerde?
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerdegegnerin ist Inhaberin des europäischen Patents Nr. 0 225 103, das mit 20 Ansprüchen auf die europäische Patentanmeldung Nr. 86 308 961.1 erteilt wurde, in der unter anderem die Druckschrift US-A-4 505 967 als Stand der Technik aufgeführt ist.
Anspruch 1 in der erteilten Fassung lautet wie folgt:
" 1. Verfahren zur Herstellung von rückstrahlender Folie mit eingekapselten Linsen, das folgende Schritte umfaßt:
(1) Eine im wesentlichen einfache Lage von Linsen wird teilweise in eine Trägerbahn eingebettet.
(2) Spiegelnd reflektierendes Material wird auf die linsentragende Oberfläche der Trägerbahn aufgebracht.
(3) Unter Wärme und Druck werden die Abschnitte des spiegelnd reflektierenden Überzugs, die sich auf den Linsen befinden, mit einem hochmolekularen thermoplastischen Binderfilm mit einem gewichtsgemittelten Molekulargewicht von mindestens 60 000 und einem Schmelzindex von weniger als 750 in Kontakt gebracht, ohne daß diejenigen Abschnitte auf dem spiegelnd reflektierenden Überzug berührt werden, die sich auf der Oberfläche der Trägerbahn zwischen den Linsen befinden.
(4) Die Trägerbahn wird abgezogen.
(5) Auf die freiliegenden Linsen wird eine Deckschicht aufgebracht.
(6) Entlang einem Netz miteinander verbundender Linien wird das Bindermaterial unter Wärme- und Druckeinwirkung so erweicht und verformt, daß es mit der Deckschicht in Kontakt gebracht wird und hermetisch versiegelte Zellen bildet, in denen die Linsen samt einer Zwischenschicht aus Luft eingekapselt sind."
Die Ansprüche 2 bis 8 waren abhängige Verfahrensansprüche, die Ansprüche 9 bis 20 Produktansprüche.
II. Gegen das Patent wurde unter Berufung auf mehrere Dokumente des Stands der Technik wegen mangelnder Neuheit und erfinderischer Tätigkeit Einspruch eingelegt.
III. Die Einspruchsabteilung beschloß, das Patent in geändertem Umfang aufrechtzuerhalten. Insbesondere wurde Schritt 3 des beanspruchten Verfahrens wie folgt geändert (einige der neu aufgenommenen Merkmale sind durch Fettdruck gekennzeichnet):
"(3) Ein hochmolekularer thermoplastischer Binderfilm mit einem gewichtsgemittelten Molekulargewicht von mindestens 60 000, einer allmählichen Viskositätsänderung über einen Temperaturbereich von 50° C im Erweichungsbereich, die durch eine unter einer Größenordnung liegende Reduktion des in dyn pro Quadratzentimeter gemessenen Verlustmoduls angezeigt wird, und einem Schmelzindex von weniger als 750 wird auf die einfache Lage von Linsen auf der Trägerbahn aufgebracht, die Anordnung zwischen Rollen hindurchgeführt, wobei Wärme, Druck und Durchlaufgeschwindigkeit so gewählt werden, daß die Linsen in den thermoplastischen Binderfilm eingebettet werden und dadurch der thermoplastische Binderfilm mit dem spiegelnd reflektierenden Überzug auf den Linsen in Kontakt gebracht wird, jedoch nicht so weit, daß sich der thermoplastische Binderfilm und diejenigen Abschnitte des spiegelnd reflektierenden Überzugs berühren, die sich auf der Oberfläche der Trägerbahn zwischen den Linsen befinden"
IV. Die Einsprechende legte als alleinige Beschwerdeführerin Beschwerde gegen die Zwischenentscheidung ein, mit der die Einspruchsabteilung das Patent in geändertem Umfang aufrechterhalten hatte.
V. In der mündlichen Verhandlung, die am 17. Dezember 1998 vor der Beschwerdekammer stattfand, reichte die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) insgesamt 13 Anspruchssätze als Haupt- und Hilfsanträge ein, von denen sich einige bereits in der Akte befanden und im Verfahren vor der Einspruchsabteilung erörtert worden waren.
Der in der Akte enthaltene Hauptantrag umfaßt die Ansprüche 1 bis 8 in der von der Einspruchsabteilung mit Zwischenentscheidung aufrechterhaltenen Fassung. Anspruch 1 dieses Antrags wird von der Beschwerdeführerin (Einsprechenden) wegen eines im Einspruchsverfahren eingeführten Merkmals angefochten. Es geht um die Definition des thermoplastischen Binderfilms durch seinen Verlustmodul in Schritt 3 des beanspruchten Verfahrens ("eine allmähliche Viskositätsänderung ..., die durch eine ... Reduktion des in dyn pro Quadratzentimeter gemessenen Verlustmoduls angezeigt wird"). Die Beschwerdeführerin behauptet, daß dieses Merkmal unklar sei (Art. 84 EPÜ), über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinausgehe (Art. 123 (2) EPÜ) und einen Gegenstand definiere, der nicht so deutlich und vollständig offenbart sei, daß ein Fachmann ihn ausführen könne (Art. 83 EPÜ).
Der erste Hilfsantrag besteht aus einem Anspruchssatz, der sich von dem des Hauptantrags dadurch unterscheidet, daß in Anspruch 1 das von der Beschwerdeführerin beanstandete Merkmal gestrichen worden ist.
In einigen der anderen Hilfsanträge kommt das im ersten Hilfsantrag gestrichene Merkmal zumindest teilweise wieder vor bzw. sind weitere Änderungen enthalten. So findet sich dieses Merkmal zum Beispiel in Anspruch 1 des siebten Hilfsantrags zusammen mit einigen anderen, im ersten Hilfsantrag nicht vorkommenden Merkmalen wieder, die die zur Erzeugung von Wärme und Druck verwendeten Mittel näher bezeichnen.
Im letzten Hilfsantrag beantragt die Beschwerdegegnerin die Zurückverweisung der Sache an die Einspruchsabteilung mit der Anordnung, alle Anspruchssätze nochmals auf ihre Patentierbarkeit zu prüfen.
Die Beschwerdeführerin beantragte ihrerseits, daß alle von der Beschwerdegegnerin eingereichten Anträge unter dem Gesichtspunkt der Klarheit und der "reformatio in peius" überprüft werden und zudem der Großen Beschwerdekammer folgende Fragen vorgelegt werden:
"1. Muß ein geänderter Anspruch zurückgewiesen werden, durch den die Einsprechende und alleinige Beschwerdeführerin, wenn er von der Beschwerdekammer zugelassen würde, schlechtergestellt würde als vor Einlegung der Beschwerde? (Siehe T 923/92, ABl. EPA 1996, 564, im Gegensatz zu T 752/93 vom 16. Juli 1996, nicht im ABl. EPA veröffentlicht.)
2. Ist es im Fall der Verneinung dieser Frage unter diesen Umständen sachdienlich, die Sache zur weiteren Prüfung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen?"
VI. Die Beschwerdeführerin brachte zur Stützung ihrer Anträge folgende Argumente vor:
Der Hauptantrag der Beschwerdegegnerin enthalte unter anderem das Merkmal "eine allmähliche Viskositätsänderung .... in dyn pro Quadratzentimeter", das in den Ansprüchen der Anmeldung in der eingereichten und in der erteilten Fassung nicht wörtlich zu finden sei, sondern auf eine Bezugnahme auf das Patentdokument US-A-4 505 967 in der ursprünglichen Anmeldung zurückgehe. Der Hauptantrag sei unklar, weil er nicht eindeutig angebe, welche hochmolekularen thermoplastischen Binderfilme mit der vorliegenden Formulierung des Anspruchs erfaßt würden, der das betreffende Merkmal enthalte.
Im ersten Hilfsantrag der Beschwerdegegnerin sei dieses konkrete Merkmal gestrichen worden. Dadurch erstrecke sich der Schutz aus dem Patent auch auf Verfahren zur Herstellung rückstrahlender Folien mit eingebetteten Linsen, bei denen nicht nur - wie bei dem Verfahren nach Anspruch 1 in der mit Zwischenentscheidung aufrechterhaltenen Fassung - hochmolekulare thermoplastische Binderfilme verwendet würden, die eine "allmähliche Viskositätsänderung ... in dyn pro Quadratzentimeter" aufwiesen.
Nun heiße es jedoch in der Entscheidung G 9/92 der Großen Beschwerdekammer (ABl. EPA 1994, 875, s. insbesondere Leitsatz II) und in der gleichlautenden Entscheidung G 4/93 wie folgt: "Ist der Einsprechende der alleinige Beschwerdeführer gegen eine Zwischenentscheidung über die Aufrechterhaltung des Patents in geänderten Umfang, so ist der Patentinhaber primär darauf beschränkt, das Patent in der Fassung zu verteidigen, die die Einspruchsabteilung ihrer Zwischenentscheidung zugrunde gelegt hat. Änderungen, die der Patentinhaber als Beteiligter nach Artikel 107 Satz 2 EPÜ vorschlägt, können von der Beschwerdekammer abgelehnt werden, wenn sie weder sachdienlich noch erforderlich sind."
Im vorliegenden Fall stehe es daher der Beschwerdegegnerin nicht frei, aus Anspruch 1 einfach das beanstandete Merkmal zu streichen, weil dadurch der Schutzbereich des Patents im Beschwerdeverfahren wesentlich erweitert würde. Dies wäre für die Beschwerdeführerin nachteilig. Sollte die Kammer eine solche Änderung für zulässig halten, so würde die Beschwerdeführerin die Zurücknahme der Beschwerde erwägen. Die Beschwerdegegnerin habe lediglich die Möglichkeit, den thermoplastischen Binderfilm in Anspruch 1 auf zwei bestimmte Harze zu beschränken, die beide im angefochtenen Patent ausdrücklich erwähnt seien und nachweislich den durch das beanstandete Merkmal definierten Verlustmodul aufwiesen.
Sollte die Beschwerdekammer diesbezüglich Zweifel haben und dazu tendieren, nicht der Entscheidung G 9/92 zu folgen, dann sollten die obigen Fragen der Großen Beschwerdekammer vorgelegt werden.
VII. Die Beschwerdegegnerin brachte zur Stützung ihrer Anträge im großen und ganzen folgendes vor:
Der fachkundige Leser sei in der Lage festzustellen, welche hochmolekularen thermoplastischen Binderfilme mit der vorliegenden, das Merkmal "eine allmähliche Viskositätsänderung ... in dyn pro Quadratzentimeter" enthaltenden Formulierung erfaßt würden, auch wenn er einige dieser Stoffe aus anderen technischen Gründen nicht in Betracht ziehen würde. Deshalb sei Anspruch 1 des Hauptantrags klar.
Was die Zulässigkeit des ersten Hilfsantrags angehe, so sei folgendes zu berücksichtigen:
Erstens würde eine Streichung des beanstandeten Merkmals in Anspruch 1 des Hauptantrags, durch die man zum ersten Hilfsantrag gelange, nicht zu einer Erweiterung des Schutzbereichs führen, wenn dieses Merkmals als bedeutungslos anzusehen sei.
Zweitens könnten gemäß der Entscheidung G 9/92 (s. Nr. 16 der Gründe) Änderungen, die der Patentinhaber als Beschwerdegegner im Beschwerdeverfahren vorschlage, von der Beschwerdekammer in der Tat abgelehnt werden, wenn sie weder sachdienlich noch erforderlich seien, was dann der Fall sei, wenn die Änderungen nicht durch die Beschwerde veranlaßt seien.
Im vorliegenden Fall sei jedoch das Merkmal "eine allmähliche Viskositätsänderung ... in dyn pro Quadratzentimeter" gestrichen worden, um dem Einwand zu begegnen, daß dadurch Unklarheit entstehe; somit sei der als erster Hilfsantrag im Beschwerdeverfahren eingereichte Änderungsvorschlag im Sinne der Entscheidung G 9/92 sachdienlich und erforderlich, da er durch die Beschwerde veranlaßt sei. Er dürfte daher nicht abgelehnt werden. Dies stehe auch im Einklang mit der Entscheidung T 752/93, in der es heiße, daß solche Änderungen den Umfang der Ansprüche in der von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen Fassung auch erweitern könnten.
Obwohl die Beschwerdegegnerin nichts dagegen habe, daß die Große Beschwerdekammer im Zusammenhang mit dem ersten Hilfsantrag mit der Frage der "reformatio in peius" befaßt werde, würde sie es in jedem Fall begrüßen, wenn die Kammer vorab zu verstehen gäbe, ob sie die Anspruchssätze der anderen Hilfsanträge, von denen einige das beanstandete Merkmal nach Anspruch 1 enthielten, für zulässig und gewährbar halte.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und den Regeln 1 (1) und 64 b) EPÜ; sie ist somit zulässig.
2. Hauptantrag
2.1 Anspruch 1 des Hauptantrags der Beschwerdegegnerin enthält in Verfahrensschritt 3 das Merkmal, wonach der hochmolekulare (HWM-)Binderfilm so beschaffen ist, daß er "eine allmähliche Viskositätsänderung über einen Temperaturbereich von 50° C im Erweichungsbereich, die durch eine unter einer Größenordnung liegende Reduktion des in dyn pro Quadratzentimeter gemessenen Verlustmoduls angezeigt wird", aufweist.
Dieses Merkmal wurde während des Einspruchsverfahrens in den Anspruch 1 in der erteilten Fassung eingefügt, um den Typ des in Verfahrensschritt 3 zu verwendenden thermoplastischen HWM-Binderfilms zu spezifizieren und somit das Verfahren gegenüber demjenigen nach Anspruch 1 in der erteilten Fassung abzugrenzen, in der das Bindermaterial nicht näher spezifiziert wird.
Dieses zusätzliche Merkmal war in den Ansprüchen in der eingereichten Fassung nicht wörtlich enthalten; es wurde auch nicht bestritten, daß die entsprechende Änderung des Streitpatents auf eine Passage in der Beschreibung der Anmeldung in der eingereichten Fassung zurückgeht (s. S. 3, Zeilen 30 bis 35), die wie folgt lautet:
"Beste Ergebnisse werden bei der Ausführung dieser Erfindung erzielt, wenn das thermoplastische HWM-Binderharz eine allmähliche Viskositätsänderung über einen breiten Temperaturbereich aufweist, wie dem US-Patent Nr. 4 505 967 (Bailey), Spalte 8, Zeilen 16 bis 59 und Abb. 6 zu entnehmen ist."
Abbildung 6 der Druckschrift US-A-4 505 967 zeigt in einer Reihe von Kurven A bis E die Verlustmoduln in dyn pro Quadratzentimeter und bei Temperaturen in Grad Celsius für verschiedene polymere Stoffe, die zur Erzielung einer rückstrahlenden Folie gemäß der darin offenbarten Erfindung geeignet sind. Nach dieser Druckschrift wurden die "besten Ergebnisse" jedoch nur mit Stoffen erzielt, die die in den Kurven A und B dargestellten Eigenschaften aufweisen.
2.2 In diesem Zusammenhang wies die Kammer in der mündlichen Verhandlung darauf hin, daß die Abbildung 6 des angeführten Dokuments eine Kurvenreihe A bis E enthalte und daß neben den Kurven A und B für die Stoffe, die für die erfindungsgemäßen Zwecke brauchbar seien, zumindest auch die Kurve E das in Anspruch 1 neu aufgenommene Merkmal zu erfüllen scheine. Die Beschwerdeführerin antwortete auf die Frage, ob Verfahren mit dem Stoff nach Kurve E auch unter den Anspruch 1 des Hauptantrags fielen, daß dieser Stoff zwar aus anderen Gründen weniger geeignet sei, so daß der Fachmann ihn für den gewünschten Zweck nicht eingesetzt hätte, daß er aber in jedem Fall unter den Anspruch falle.
Es ist jedoch festzuhalten, daß sich in diesem Fall eine Diskrepanz ergibt. Die Textpassage in der hier vorliegenden Beschreibung, die sich auf die Druckschrift US-A-4 505 967 bezieht und mit "Beste Ergebnisse..." beginnt, kann nämlich dahingehend ausgelegt werden, daß sie sich auf alle Kurven A bis E bezieht, während es in dieser Druckschrift an der angegebenen Stelle heißt, daß sich nur mit den Stoffen der Kurven A und B der Abbildung 6 des Dokuments US-A-4 505 967 "beste Ergebnisse" erzielen lassen.
Der Fachmann kann also dem Wortlaut des Anspruchs 1 auch bei Auslegung anhand der Beschreibung und der Zeichnungen nicht entnehmen, welche Stoffe er als Binderfilm in dem anspruchsgemäßen Verfahrensschritt 3 einsetzen soll, nämlich nur die Stoffe der Kurven A und B oder die Stoffe der Kurven A, B und zumindest auch E.
2.3 Aus diesen Gründen hält es die Kammer nicht für möglich, dem Hauptantrag der Beschwerdegegnerin stattzugeben. Für das weitere Verfahren ist daher ausschlaggebend, ob dem ersten Hilfsantrag der Beschwerdegegnerin stattgegeben werden kann.
3. Hilfsanträge
3.1 Im ersten Hilfsantrag der Beschwerdegegnerin ist das o. g. Merkmal gestrichen worden. Dadurch erstreckt sich der Schutz aus dem Patent auch auf Verfahren zur Herstellung von rückstrahlender Folie mit eingekapselten Linsen, bei denen nicht nur - wie bei dem Verfahren nach Anspruch 1 in der mit Zwischenentscheidung aufrechterhaltenen Fassung - thermoplastische Binderfilme mit "einer allmählichen Viskositätsänderung über einen Temperaturbereich von 50 °C im Erweichungsbereich, die durch eine unter einer Größenordnung liegende Reduktion des in dyn pro Quadratzentimeter gemessenen Verlustmoduls angezeigt wird", verwendet werden.
Nicht überzeugen kann das Argument der Beschwerdegegenerin, daß die Streichung des beanstandeten Merkmals aus Anspruch 1 des Hauptantrags, durch die man zum ersten Hilfsantrag gelange, nicht zu einer Erweiterung des Schutzbereichs führen könne, wenn dieses Merkmal als unbedeutend anzusehen sei. Dieses Merkmal wird ja nicht deshalb beanstandet, weil es unbedeutend ist, sondern weil es Unklarheit darüber schafft, welches Bindermaterial unter seine Formulierung fällt. So wird z. B. nicht bestritten, daß die Bindermaterialien der Kurven A und B der Abbildung 6 des Dokuments US-A-4 505 967, auf das in der hier vorliegenden Beschreibung Bezug genommen wird, die Merkmalsbedingung erfüllen. Unklar ist jedoch, ob dies auch für die Stoffe mit den Eigenschaften nach Kurve E dieser Abbildung gilt (s. Nr. 2.1).
3.2 Im vorliegenden Fall ist daher unstreitig, daß die zum ersten Hilfsantrag führende Änderung, nämlich die Streichung des Merkmals "eine allmähliche Viskositätsänderung ... in dyn pro Quadratzentimenter" in Schritt 3 des Anspruchs 1, zu einer Erweiterung des Schutzbereichs führt und damit die Beschwerdeführerin schlechtergestellt wird, als wenn sie nicht Beschwerde eingelegt hätte. Die Verschlechterung könnte z. B. in der Erweiterung des Schutzbereichs des angefochtenen Patents oder in dem finanziellen Schaden bestehen, der der Beschwerdeführerin durch die Beschwerdekosten entstanden ist, die sie umsonst verauslagt hätte, wenn sie sich - wie in der mündlichen Verhandlung angekündigt - gezwungen sähe, die Beschwerde zurückzuziehen und das angefochtene Patent in einer Form zu akzeptieren, die ihr nicht vertretbar erscheint.
Unbestritten ist aber auch, daß die beantragte Streichung durch die Beschwerde veranlaßt ist und deshalb als sachdienlich und notwendig angesehen werden könnte, weil damit ein im Beschwerdeverfahren erhobener Einwand ausgeräumt werden soll.
Die Kernfrage, die sich im Zusammenhang mit dem ersten Hilfsantrag der Beschwerdegegnerin stellt, lautet demnach, ob im vorliegenden Verfahren die Einsprechende und alleinige Beschwerdeführerin durch die von der nicht beschwerdeführenden Partei vorgeschlagene Änderung - nämlich die Streichung des einschränkenden Merkmals in Anspruch 1 - schlechtergestellt würde als ohne die Beschwerde und die Änderung deshalb abgelehnt werden müßte, auch wenn sie durch die Beschwerde veranlaßt ist.
3.3 In der Entscheidung T 923/92 (ABl. EPA 1996, 564, Nr. 40 bis 42 der Gründe) heißt es wie folgt: "[geänderte] Anträge wären nach der Entscheidung G 4/93 ... allerdings zurückzuweisen, wenn die Beschwerdeführer bei Zulassung der geänderten Ansprüche durch die Beschwerdekammer schlechter gestellt würden als ohne ihre Beschwerde". In der Entscheidung heißt es weiter, es gelte deshalb zu klären, ob der durch den geänderten Anspruch abgesteckte Schutzbereich größer sei als derjenige nach den Ansprüchen in der von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen Fassung. Da die Kammer damals aufgrund der Sachlage zu dem Schluß gelangte, daß der Schutzbereich bei allen Anträgen derselbe sei und deshalb die Beschwerdeführer nicht schlechtergestellt seien, ließ sie schließlich den Antrag mit den geänderten Ansprüchen zu.
In der Entscheidung T 579/94 vom 18. August 1998 (Nr. 2.1 der Gründe) ging es darum, daß der nicht beschwerdeführende Patentinhaber auf einen Einwand nach Artikel 123 (2) EPÜ hin, der sich gegen einen von der Einspruchsabteilung in geändertem Umfang aufrechterhaltenen Anspruch richtete, einen neuen Anspruchssatz eingereicht hatte. Der Schutzbereich dieses Anspruchssatzes war breiter als derjenige der Ansprüche, die der Zwischenentscheidung zugrunde gelegen hatten. Die Kammer befand deshalb, daß sie mit der Zulassung des neuen Anspruchssatzes gegen den in den Entscheidungen G 9/92 und G 4/93 aufgestellten Grundsatz des "Verbots der reformatio in peius" verstoßen würde. Daß die neuen Ansprüche auf einen Einwand hin eingereicht worden seien, rechtfertige ein Abgehen von dem o. g. Grundsatz nicht, zumal die Einreichung eines neuen Anspruchssatzes nicht die einzige Möglichkeit zur Ausräumung des Einwands gewesen sei.
3.4 Demgegenüber wurde in der Entscheidung T 752/93 vom 16. Juli 1996 (Orientierungssatz und Nr. 2.3 und 2.4 der Gründe) die Auffassung vertreten, daß es bei der o. g. Sachlage nicht erheblich sei, ob die von dem nicht beschwerdeführenden Patentinhaber beantragten Änderungen zu einer Einschränkung oder einer Erweiterung des Schutzbereichs des von der Einspruchsabteilung in geändertem Umfang aufrechterhaltenen Patents führten, solange die Änderungen sachdienlich und erforderlich seien und nicht gegen Artikel 123 (3) EPÜ verstießen.
In der Sache T 1002/95 vom 20. Februar 1998 (Nr. 3.1 bis 3.5 der Gründe) focht die Einsprechende und alleinige Beschwerdeführerin die Zulässigkeit einer Änderung an, mit der ein Mangel nach Artikel 123 (2) EPÜ in einem von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen Anspruch beseitigt werden sollte. Da dieser Mangel nicht in Zusammenhang mit den von ihr in der Beschwerdeschrift erhobenen Beanstandungen stand, war sie der Ansicht, daß sie dadurch schlechtergestellt sei, als wenn sie keine Beschwerde eingereicht hätte. Die Kammer vertrat jedoch die Auffassung, daß ein nicht beschwerdeführender Patentinhaber befugt sei, von sich aus auch Änderungen vorzunehmen, die nicht durch die Beschwerde der Einsprechenden, sondern durch einen Einspruchsgrund nach Artikel 100 EPÜ veranlaßt worden seien. Die Kammer bezog sich dabei auf die neue Regel 57a EPÜ, die ausdrücklich - und ohne zeitliche Befristung - Änderungen an der Beschreibung, den Patentansprüchen und den Zeichnungen eines Patents zuläßt, soweit diese Änderungen durch Einspruchsgründe veranlaßt sind, auch wenn der betreffende Grund vom Einsprechenden nicht geltend gemacht worden ist. Somit sind die in den Entscheidungen G 9/92 und G 4/93 genannten Erfordernisse auch dann erfüllt, wenn die Änderung nicht durch die Beschwerde, sondern durch einen Einspruchsgrund veranlaßt worden ist.
3.5 Aus den oben angeführten Entscheidungen geht hervor, daß die Rechtsprechung der Beschwerdekammern in diesem Punkt nicht einheitlich ist. So gibt es Entscheidungen, in denen der Grundsatz vertreten wird, daß der Einsprechende und alleinige Beschwerdeführer nicht schlechtergestellt sein darf als vor Einlegung der Beschwerde (Nr. 3.3). Aus diesem Grundsatz folgt, daß der Schutzbereich der von der Einspruchsabteilung in geändertem Umfang aufrechterhaltenen Ansprüche allen Änderungen des nicht beschwerdeführenden Patentinhabers hindernd entgegensteht, die zu einer Erweiterung der Ansprüche führen würden. In anderen Entscheidungen (s. Nr. 3.4) hingegen wird die Zulassung solcher Änderungen allein davon abhängig gemacht, ob die Änderungen sachdienlich oder erforderlich sind - wobei es keine Rolle spielt, ob sie durch die Beschwerde oder einen Einspruchsgrund veranlaßt worden sind -, auch wenn dadurch die Ansprüche erweitert werden, die der mit der Beschwerde angefochtenen Zwischenentscheidung zugrunde liegen.
Daß diese Rechtsprechung bei den Beteiligten Rechtsunsicherheit hervorgerufen hat, zeigt sich daran, daß auf die 1994 ergangenen Entscheidungen G 9/92 und G 4/93 der Großen Beschwerdekammer hin die oben erwähnte Rechtsfrage in verschiedenen Fällen gestellt wurde und die Beteiligten in mindestens drei dieser Fälle eine Befassung der Großen Beschwerdekammer beantragten (T 752/93, T 812/94 vom 14. März 1996 und der vorliegende Fall).
3.6 Diese Kammer ist deshalb der Auffassung, daß die Gewichtung der in der Entscheidung G 9/92 genannten Kriterien, nämlich Verschlechterung der Lage des alleinigen Beschwerdeführers einerseits und Sachdienlichkeit und Notwendigkeit der Änderungen andererseits, einer Klärung bedarf. Wie bereits dargelegt, wird hierzu eine Entscheidung beantragt.
Wie den obigen Ausführungen zu entnehmen ist, sind die beiden in Artikel 112 (1) a) EPÜ genannten Voraussetzungen für eine Befassung der Großen Beschwerdekammer erfüllt. Die aufgeworfene Frage ist eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, da dadurch die Rechte der Parteien sowie die Kompetenzen der Beschwerdekammern betroffen sind. Angesichts der einander widersprechenden Entscheidungen in der bisherigen Praxis, in denen einmal dem einen und einmal dem anderen Kriterium aus der Entscheidung G 9/92 der Vorrang eingeräumt wird, geht es dabei auch um die Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung.
Infolgedessen stellt sich die Frage, unter welchen Umständen eine vom Patentinhaber und Beschwerdegegner beantragte Änderung der Ansprüche zulässig ist, wenn dadurch der Einsprechende und alleinige Beschwerdeführer schlechtergestellt wird als vor Einlegung der Beschwerde.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Der Großen Beschwerdekammer wird folgende Rechtsfrage vorgelegt:
Muß ein - z. B. durch Streichung eines einschränkenden Anspruchsmerkmals - geänderter Anspruch zurückgewiesen werden, durch den der Einsprechende und alleinige Beschwerdeführer schlechtergestellt würde als ohne die Beschwerde?