BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer vom 11. Mai 1994 - G 1/94
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | P. Gori |
Mitglieder: | E. Persson |
| C. Andries |
| G. D. Paterson |
| J.-C. Saisset |
| R. Schulte |
| P. van den Berg |
Patentinhaber/Beschwerdegegner: Allied Colloids Limited
Einsprechender/Beschwerdeführer: SNF Floerger
Einsprechender/weiterer Verfahrensbeteiligter:
1) Cyanamid of Great Britain Limited
2) Chemische Fabrik Stockhausen GmbH
Stichwort: Beitritt/ALLIED COLLOIDS
Artikel: 105 EPÜ
Schlagwort: "Zulässigkeit eines Beitritts im Beschwerdeverfahren"
Leitsatz
Ein Beitritt des vermeintlichen Patentverletzers nach Artikel 105 EPÜ ist während eines anhängigen Beschwerdeverfahrens zulässig und kann auf jeden der in Artikel 100 EPÜ genannten Einspruchsgründe gestützt werden.
Sachverhalt und Anträge
I. Nach Zurückweisung des Einspruchs gegen das europäische Patent Nr. 202 780 legte der (einzige) Einsprechende Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein und beantragte, daß das Patent in vollem Umfang widerrufen wird. Im anschließenden Beschwerdeverfahren T 169/92 vor der Technischen Beschwerdekammer 3.3.2 erklärten zwei Dritte unabhängig voneinander gemäß Artikel 105 EPÜ ihren Beitritt. Die Kammer war der Auffassung, die "Formerfordernisse" dieser Bestimmung seien in beiden Fällen erfüllt. Sie stellte jedoch fest, daß die grundsätzliche Frage, ob ein Beitritt nach Artikel 105 EPÜ in der Beschwerdephase des Verfahrens vor dem EPA zulässig sei, von den Beschwerdekammern in der Vergangenheit unterschiedlich beantwortet worden sei. Hierbei verwies sie auf die Entscheidungen in den Beschwerdesachen T 338/89 (EPOR 1991, 268) und T 390/90 (ABl. EPA 1994, 808, in diesem Heft; EPOR 1993, 424). Die Kammer stellte ferner fest, daß der ihr vorliegende Fall in dieser Hinsicht ähnlich gelagert sei wie die Sache T 27/92, in der die Technische Beschwerdekammer 3.2.1 der Großen Beschwerdekammer mit Zwischenentscheidung vom 8. Juli 1993 (ABl. EPA 1994, 853, in diesem Heft) schon einmal die angesprochene Grundsatzfrage vorgelegt hatte (Aktenzeichen G 6/93). Da das bei der Großen Beschwerdekammer laufende Verfahren G 6/93 wegen der Rücknahme der Beitrittserklärung in der Sache T 27/92 ohne Entscheidung eingestellt worden war, die betreffende Frage aber nach Ansicht der Technischen Beschwerdekammer 3.3.2 im Interesse einer einheitlichen Rechtsanwendung nach wie vor der Klärung bedurfte, legte sie der Großen Beschwerdekammer nach Artikel 112 (1) a) EPÜ folgende Rechtsfrage vor:
"Ist ein Beitritt, der ansonsten die Voraussetzungen des Artikels 105 EPÜ erfüllt, zulässig, wenn er während eines anhängigen Beschwerdeverfahrens erklärt wird?"
II. Auf einen Bescheid der Großen Beschwerdekammer vom 26. Januar 1994 hin reichten die ursprünglichen Beteiligten am Beschwerdeverfahren T 169/92 sowie die beiden Beitrittswilligen Stellungnahmen zur vorgelegten Rechtsfrage ein. Am 21. April 1994 fand eine mündliche Verhandlung statt, in der die beiden Beitrittswilligen von Herrn Rechtsanwalt Andrew Waugh bzw. Herrn Gerhard Klöpsch und der Einsprechende (Beschwerdeführer) sowie der Patentinhaber (Beschwerdegegner) der Sache T 169/92 von Herrn Walter Maiwald bzw. Herrn Peter Lawrence vertreten wurden.
III. Die Beitrittswilligen machten, vom Einsprechenden nachdrücklich unterstützt, geltend, daß ein Beitritt nach Artikel 105 EPÜ aus mehreren Gründen auch noch in der Beschwerdephase des Verfahrens vor dem EPA zulässig sein müsse. Sie hoben insbesondere darauf ab, daß ein solcher Beitritt eindeutig im Einklang mit Artikel 105 EPÜ stehe, dessen Hauptzweck es doch sei, durch Nutzung des zentralisierten Verfahrens beim EPA ein kostspieliges und zeitaufwendiges Nichtigkeitsverfahren vor verschiedenen nationalen Gerichten zu vermeiden, solange das Amt noch selbst über die Rechtsgültigkeit des Patents entscheiden könne. Außerdem sei bei richtiger Auslegung dieses Artikels davon auszugehen, daß er trotz des fehlenden expliziten Hinweises auf das Beschwerdeverfahren für die Beschwerdephase des Einspruchsverfahrens ebenso gelte wie für dessen frühere, vor der Einspruchsabteilung stattfindende Phase. Diese Auslegung des Artikels 105 EPÜ werde durch die Materialien zum Übereinkommen eindeutig gestützt. Außerdem müsse es doch im Interesse der Öffentlichkeit liegen, daß dem vermeintlichen Verletzer der Beitritt zum Beschwerdeverfahren gestattet werde, da das EPA dann unter anderem auch dessen Beweismittel zur Frage der Rechtsgültigkeit des Patents berücksichtigen könne, wodurch seine Entscheidungen im allgemeinen noch besser abgesichert würden und das europäische Patentsystem an Geltung gewinne.
IV. Der Patentinhaber, der sich die in der vorgenannten Entscheidung T 390/90 vertretene Auffassung zu eigen machte, war der Meinung, daß ein Beitritt nach Artikel 105 EPÜ in der Beschwerdephase des Verfahrens vor dem EPA nicht mehr zugelassen werden dürfe. Unter Verweis auf das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (dessen Grundsätze in der Vergangenheit von der Großen Beschwerdekammer und den Beschwerdekammern angewandt worden seien) und insbesondere die in Artikel 31 verankerte allgemeine Auslegungsregel brachte er vor, daß bei der Auslegung des Artikels 105 EPÜ von der gewöhnlichen Bedeutung des Begriffs "Einspruchsverfahren" auszugehen sei, unter dem im Kontext des fünften Teils des EPÜ nur das Verfahren vor einer Einspruchsabteilung verstanden werden könne. Dem Hinweis der Beitrittswilligen und des Einsprechenden auf die Materialien zum EPÜ hielt er entgegen, daß zwar während der Vorarbeiten zum EPÜ verschiedentlich für die Eröffnung einer Beitrittsmöglichkeit in der Beschwerdephase plädiert, diese Frage dann aber faktisch doch offengelassen und in das Ermessen des EPA gestellt worden sei ("Kissinger-Kompromiß"). Wenn man einen Beitritt in der Beschwerdephase tatsächlich generell hätte zulassen wollen, hätte man dies schließlich ohne weiteres durch einige ergänzende Worte in Artikel 105 EPÜ klarstellen können, was aber nicht geschehen sei. Der Patentinhaber trug ferner vor, daß die Zulassung eines Beitritts in der Beschwerdephase nicht durchweg im Interesse der Öffentlichkeit wäre. Er halte Artikel 105 EPÜ nicht für das richtige Instrument, um eine einheitliche Anwendung des europäischen Patentrechts herbeizuführen. Bei einem Beitritt in dieser Phase ergäbe sich zwangsläufig eine Verzögerung des Verfahrens, zumal wenn "neue Fragen" angesprochen würden; dies aber laufe dem allgemeinen Interesse an einer Beschleunigung des Verfahrens zuwider. Wenn ein Beitritt in der Beschwerdephase zugelassen würde, könnten vermeintliche Patentverletzer überdies durch geschickte zeitliche Planung ihres Beitritts nach Artikel 105 EPÜ europäische Patente für geraume Zeit "sabotieren". Daraus könnten der Industrie, die sich dann an der zügigen Durchsetzung ihrer Patentrechte gehindert sähe, schwerwiegende Probleme erwachsen.
V. Im einzelnen wurden in der mündlichen Verhandlung auch einige Aspekte des Beitritts in der Beschwerdephase erörtert, die strenggenommen nicht unter die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage fallen. Dabei ging es unter anderem um die Frage, ob ein vermeintlicher Verletzer, wenn ihm denn grundsätzlich ein Beitritt im Beschwerdeverfahren offenstünde, auch neue, im vorangegangenen Verfahren nicht in Betracht gezogene Einspruchsgründe vorbringen dürfe. Die Beitrittswilligen und der Einsprechende verfochten den Standpunkt, daß ein vermeintlicher Verletzer im Beschwerdeverfahren eine in jeder Hinsicht selbständige Stellung innehaben und das Patent ohne jegliche Auflagen anfechten können müsse, während der Patentinhaber geltend machte, daß in der Beschwerdephase des Verfahrens grundsätzlich keine "neuen Fragen" zur Sprache gebracht werden dürften oder die Sache andernfalls zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückverwiesen werden müsse.
Entscheidungsgründe
1. In ihrer Entscheidung in der Sache G 4/91 (ABl. EPA 1993, 339, berichtigte englische Übersetzung, 707) hat die Große Beschwerdekammer die im Rahmen der jetzigen Rechtsfrage abzuklärenden allgemeinen Aspekte eines Beitritts nach Artikel 105 EPÜ in der Beschwerdephase des Verfahrens vor dem EPA schon einmal angeschnitten. Aufgrund der eng umrissenen Fragestellung in der Sache G 4/91 beschränkte sich die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer im damaligen Fall aber auf die Feststellung, daß eine während der zweimonatigen Beschwerdefrist nach Artikel 108 EPÜ eingereichte Beitrittserklärung wirkungslos ist, wenn nach Erlaß einer abschließenden Entscheidung durch eine Einspruchsabteilung von keinem der Beteiligten am Einspruchsverfahren Beschwerde eingelegt wird.
2. Wie in der Vorlageentscheidung ausgeführt wird, ist die grundsätzliche Frage, ob ein Beitritt nach Artikel 105 EPÜ während eines anhängigen Beschwerdeverfahrens zulässig ist, von den Beschwerdekammern in der Vergangenheit unterschiedlich beantwortet worden. In der Sache T 338/89 vertrat die Kammer die Auffassung, daß ein solcher Beitritt zulässig sei, da in Regel 66 (1) EPÜ auf die Vorschriften für das Verfahren vor der Stelle verwiesen werde, die die mit der Beschwerde angefochtene Entscheidung erlassen hat (hier die Einspruchsabteilung), und diese Vorschriften somit im Beschwerdeverfahren entsprechend anzuwenden seien. In der Entscheidung T 390/90 schloß die Kammer eine solche Anwendung des Artikels 105 EPÜ auf Beschwerdeverfahren dagegen aus und begründete dies mit der von der Großen Beschwerdekammer in den Fällen G 7/91 und G 8/91 (ABl. EPA 1993, 346) herausgestellten unterschiedlichen Rechtsnatur des administrativen Einspruchs- und des verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens; sie hielt einen Beitritt nach Artikel 105 EPÜ in einem anhängigen Beschwerdeverfahren daher für unzulässig. In der Sache T 27/92 stellte die Kammer in ihrer Zwischenentscheidung fest, daß sie sich diesem Urteil, das die Konsequenzen aus der unterschiedlichen Rechtsnatur des Verfahrens vor der Einspruchsabteilung einerseits und der Beschwerdekammer andererseits zu stark verallgemeinere, nicht vorbehaltlos anschließen könne.
3. Die Beitrittswilligen wollten ihre Forderung nach Zulassung eines Beitritts nach Artikel 105 EPÜ im Beschwerdeverfahren nicht auf Regel 66 (1) EPÜ stützen, da man sich damit, wie es einer von ihnen (Cyanamid) formulierte, auf "sehr dünnes Eis" begäbe. Daher haben sie, wie dem vorstehenden Teil "Sachverhalt und Anträge" zu entnehmen ist, geltend gemacht, daß Artikel 105 EPÜ selbst - bei richtiger Auslegung anhand seines in den Materialien zum EPÜ erläuterten Zwecks - eine wesentlich solidere Rechtsgrundlage für die Zulassung eines solchen Beitritts darstelle.
4. Die Große Beschwerdekammer teilt die Auffassung, daß der in Regel 66 (1) EPÜ enthaltene Verweis auf die Vorschriften für das Verfahren vor der ersten Instanz - im vorliegenden Fall also der Einspruchsabteilung - keine ausreichende Rechtsgrundlage dafür bietet, Artikel 105 EPÜ entsprechend auf Beschwerdeverfahren anzuwenden. In Anbetracht des Aufbaus des EPÜ ist davon auszugehen, daß sich dieser Verweis nur auf die in der Ausführungsordnung enthaltenen Vorschriften bezieht. Er betrifft also nicht die grundlegenden Bestimmungen des Artikels 105 EPÜ. Die einzige Regel, in der es um den Beitritt nach Artikel 105 EPÜ geht, ist Regel 57 (4) EPÜ. Sie sieht aber lediglich vor, daß im Falle eines Beitritts zum Einspruchsverfahren auf bestimmte Formerfordernisse verzichtet werden kann, und erhellt die der Kammer vorliegende Grundsatzfrage in keiner Weise. Ob ein Beitritt nach Artikel 105 EPÜ zulässig ist, kann daher nur im Wege der Auslegung des Artikels selbst geklärt werden.
5. In Artikel 105 EPÜ ist nur vom "Einspruchsverfahren", nicht aber vom "Beschwerdeverfahren" die Rede. Dies schließt jedoch, wie vor allem einer der beiden Beitrittswilligen (Cyanamid) hervorgehoben hat, nicht zwangsläufig aus, daß die Bestimmung auch für Beschwerdeverfahren gilt, da sich im Regelwerk des EPÜ eindeutige Beispiele für Bestimmungen finden, die sehr wohl auch für das Beschwerdeverfahren gelten, obwohl explizit nur das Einspruchsverfahren erwähnt wird. Ein solches Beispiel ist Artikel 68 EPÜ, der die Wirkung des Widerrufs eines europäischen Patents regelt. Sein Kontext läßt erkennen, daß sich die in diesem Artikel enthaltene Bezugnahme auf den Umfang, in dem das Patent im Einspruchsverfahren widerrufen wird, auch auf ein etwaiges späteres Beschwerdeverfahren erstrecken muß.
6. Ob auch in Artikel 105 EPÜ mit dem Begriff "Einspruchsverfahren" sinngemäß ebenfalls das Beschwerdeverfahren gemeint ist, liegt allerdings nicht so klar auf der Hand wie im obigen Beispiel. Da Artikel 105 EPÜ im fünften Teil des EPÜ steht und dieser ausdrücklich dem Einspruchsverfahren gewidmet ist, könnte man durchaus im Sinne des Patentinhabers argumentieren, daß die Bestimmungen in diesem Teil des EPÜ nur dann für das Beschwerdeverfahren gelten, wenn ausdrücklich darauf hingewiesen wird, wie dies beispielsweise in dem die Kosten betreffenden Artikel 104 (1) EPÜ der Fall ist.
7. Was den Zweck des Artikels 105 EPÜ anbelangt, so besteht Einvernehmen darüber, daß sich durch Nutzung des zentralisierten Verfahrens beim EPA anstelle paralleler Verletzungs- oder Nichtigkeitsverfahren vor mehreren nationalen Gerichten unnötige Doppelarbeit vermeiden und zugleich die Gefahr verringern läßt, daß widersprüchliche Entscheidungen über die Rechtsgültigkeit ein und desselben Patents ergehen. Dies spricht zweifellos recht überzeugend dafür, daß vermeintlichen Verletzern auch noch in der Beschwerdephase der Beitritt zum Verfahren vor dem EPA ermöglicht werden sollte. Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings auch das vom Patentinhaber vorgebrachte Argument, daß ein solcher Beitritt leicht zu verfahrensrechtlichen Komplikationen und einer Verzögerung der Entscheidung über die Rechtsgültigkeit des Streitpatents führen kann. Auch eine Analyse des Sinns und Zwecks der Bestimmung schafft also nicht letzte Gewißheit darüber, wie Artikel 105 EPÜ bezüglich eines Beitritts im Beschwerdeverfahren auszulegen ist.
8. In dieser Situation erscheint es der Großen Beschwerdekammer angezeigt, die Materialien zum EPÜ heranzuziehen, um sich ein endgültiges Urteil zu bilden. Wie es scheint, stützen diese Materialien eindeutig die von den Beitrittswilligen vertretene Auslegung des Artikels 105 EPÜ. Schon als erstmals beschlossen wurde, eine dem jetzigen Artikel 105 entsprechende Bestimmung in das EPÜ aufzunehmen, war man sich allgemein darüber einig, daß ein Beitritt grundsätzlich auch in der Beschwerdephase des Verfahrens vor dem EPA zulässig sein sollte (s. BR 144d/71); an dieser Auffassung hielten die Delegierten der an der Regierungskonferenz über die Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens beteiligten Staaten während der gesamten Vorarbeiten am EPÜ fest, auch wenn sie verschiedentlich von den interessierten Kreisen in Frage gestellt wurde (s. BR 177d/72). Das Problem der Verfahrensverzögerung, das sich durch einen späten Beitritt ergeben könnte, wurde während der vorbereitenden Arbeiten zwar bedacht, aber nicht als hinreichender Grund empfunden, einen solchen Beitritt - auch nicht in der Beschwerdephase des Verfahrens - zu verweigern. Um das Problem zu lösen, wurde allerdings die jetzige Regel 57 (4) EPÜ eingeführt und so die Anwendung eines vereinfachten Verfahrens ermöglicht (s. BR 209d/72). Artikel 105 EPÜ wurde dann 1973 auf der Münchner Diplomatischen Konferenz erörtert und in seine endgültige Fassung gebracht. In dem Punkt, über den die Große Beschwerdekammer in der vorliegenden Sache zu befinden hat, wurden keine Änderungen vorgenommen (s. M/PR/I, S. 49 - 50).
9. Vor diesem Hintergrund ist das Vorbringen des Patentinhabers nicht haltbar, daß der Gesetzgeber die Frage der Zulässigkeit eines Beitritts nach Artikel 105 EPÜ zum Beschwerdeverfahren offenlassen und die Entscheidung dem EPA anheimstellen wollte. Nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer kann kein Zweifel daran bestehen, daß ein solcher Beitritt im Rahmen dieser Bestimmung zugelassen werden sollte.
10. Die Große Beschwerdekammer gelangt folglich zu dem Schluß, daß Artikel 105 EPÜ, wie von den Beitrittswilligen geltend gemacht, dahingehend ausgelegt werden muß, daß sich der darin verwendete Begriff "Einspruchsverfahren" nicht auf das Verfahren vor einer Einspruchsabteilung beschränkt, sondern auch ein anschließendes, noch anhängiges Beschwerdeverfahren vor einer Beschwerdekammer einschließt. Die der Großen Beschwerdekammer vorliegende Frage ist mithin zu bejahen.
11. Wie bereits unter Nummer V des Teils "Sachverhalt und Anträge" erwähnt, wurden bei der Verhandlung der vorliegenden Sache vor der Großen Beschwerdekammer auch einige Aspekte des Beitritts zum Beschwerdeverfahren angesprochen, die strenggenommen nicht unter die der Kammer vorgelegte Rechtsfrage fallen. Die meisten dieser Fragen, so etwa die, ob ein Dritter, der dem Beschwerdeverfahren beitritt, die Einspruchsgebühr nach Artikel 105 (2) EPÜ oder die Beschwerdegebühr oder möglicherweise beide zu entrichten hat, wurden nur von den Beteiligten zur Sprache gebracht; die Große Beschwerdekammer will an dieser Stelle einer Prüfung dieser Fragen nicht vorgreifen, die, wenn sie sich im Einzelfall stellen sollten, von den Beschwerdekammern auf der Grundlage eines umfassenden Meinungsaustauschs aller Beteiligten entschieden werden können.
12. Ein Punkt wurde jedoch im vorliegenden Fall vor der Großen Beschwerdekammer umfassend behandelt, da er eng mit der Grundsatzfrage des Beitritts zum Beschwerdeverfahren zusammenhängt und daher der Klärung bedarf; dies ist die Frage, ob ein vermeintlicher Verletzer neue, im vorangegangenen Verfahren vor der Einspruchsabteilung nicht geprüfte Einspruchsgründe vorbringen darf. Nummer V des Teils "Sachverhalt und Anträge" ist zu entnehmen, daß die Beitrittswilligen und der Patentinhaber in diesem Punkt entgegengesetzter Meinung waren.
13. Die Große Beschwerdekammer hat in der Sache G 10/91 (ABl. EPA 1993, 420) ausgeführt, daß der Hauptzweck des mehrseitigen Beschwerdeverfahrens darin besteht, der unterlegenen Partei eine Möglichkeit zur sachlichen Anfechtung der Entscheidung der Einspruchsabteilung zu geben, und die Prüfung von Einspruchsgründen, die nicht als Grundlage für die Entscheidung der Einspruchsabteilung gedient haben, nicht dieser Zweckbestimmung entspricht. Daß sich ein dem Beschwerdeverfahren beitretender vermeintlicher Verletzer auf neue Einspruchsgründe beruft, paßt sicherlich nicht zu diesem Grundverständnis des Beschwerdeverfahrens. Andererseits soll der vermeintliche Verletzer durch den Beitritt aber gerade Gelegenheit erhalten, sich gegen die Maßnahmen des Patentinhabers zur Wehr zu setzen. Wenn man ihn daran hindern würde, das Patent, das er angeblich verletzt, mit allen verfügbaren Mitteln, also auch mit neuen, vom eigentlichen Einsprechenden nicht geltend gemachten Einspruchsgründen nach Artikel 100 EPÜ, anzufechten, würde der Zweck des Beitritts verfehlt. Überdies bestünde dann die Gefahr, daß das EPA und die nationalen Gerichte die Rechtsgültigkeit eines europäischen Patents ganz unterschiedlich beurteilen, weil sie ihren Entscheidungen jeweils andere Tatsachen und Gründe zugrunde legen. Deshalb ist die Große Beschwerdekammer der Auffassung, daß ein Beitritt nach Artikel 105 EPÜ zu einem anhängigen Beschwerdeverfahren auf jeden der in Artikel 100 EPÜ genannten Einspruchsgründe gestützt werden kann. Falls der Beitretende einen neuen Einspruchsgrund vorbringt, sollte allerdings nach dem Grundsatz verfahren werden, den die Große Beschwerdekammer in der Sache G 10/91 für den Ausnahmefall der Zulassung neuer Einspruchsgründe im normalen Beschwerdeverfahren aufgestellt hat, und die Sache zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückverwiesen werden, sofern nicht besondere Gründe für eine andere Vorgehensweise sprechen, also etwa der Patentinhaber selbst keine Zurückverweisung der Sache wünscht.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage ist wie folgt zu beantworten:
Ein Beitritt des vermeintlichen Patentverletzers nach Artikel 105 EPÜ ist während eines anhängigen Beschwerdeverfahrens zulässig und kann auf jeden der in Artikel 100 EPÜ genannten Einspruchsgründe gestützt werden.