5. Ausschlüsse und Ausnahmen in Bezug auf biotechnologische Erfindungen
Grundsätzlich sind biotechnologische Erfindungen nach dem EPÜ patentierbar. Für europäische Patentanmeldungen und Patente, die biotechnologische Erfindungen zum Gegenstand haben, sind die maßgebenden Bestimmungen des EPÜ in Übereinstimmung mit den Vorschriften der Regeln 26 bis Regel 29 anzuwenden und auszulegen. Die Richtlinie 98/44/EG der Europäischen Union vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen (ABl. EPA 1999, 101) ist hierfür ergänzend heranzuziehen. Dabei sind insbesondere auch die Erwägungsgründe (abgekürzt als Ewg.) zu berücksichtigen, die den Bestimmungen der Richtlinie vorangestellt sind. Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Auslegung der EU-Richtlinie 98/44/EG sind für das EPA nicht bindend, können aber dennoch als überzeugend angesehen werden (T 2221/10 und T 1441/13).
Biotechnologische Erfindungen sind auch dann patentierbar, wenn sie einen Gegenstand aus der nachstehenden, nicht erschöpfenden Liste betreffen:
i)Biologisches Material, das mithilfe eines technischen Verfahrens aus seiner natürlichen Umgebung isoliert oder hergestellt wird, auch wenn es in der Natur schon vorhanden war
Somit kann biologisches Material auch als patentierbar gelten, wenn es bereits in der Natur vorkommt (siehe auch G‑II, 3.1).
Auch wenn der menschliche Körper in den einzelnen Phasen seiner Entstehung und Entwicklung sowie die bloße Entdeckung eines seiner Bestandteile, einschließlich der Sequenz oder Teilsequenz eines Gens, keine patentierbaren Erfindungen darstellen können (siehe G‑II, 5.3), so kann doch ein isolierter Bestandteil des menschlichen Körpers oder ein auf andere Weise durch ein technisches Verfahren gewonnener Bestandteil, der gewerblich anwendbar ist, einschließlich der Sequenz oder Teilsequenz eines Gens, eine patentierbare Erfindung sein, selbst wenn der Aufbau dieses Bestandteils mit dem eines natürlichen Bestandteils identisch ist. Ein solcher Bestandteil ist von der Patentierbarkeit nicht a priori ausgeschlossen, da er – zum Beispiel – das Ergebnis technischer Verfahren zu seiner Identifizierung, Reinigung, Bestimmung und Vermehrung außerhalb des menschlichen Körpers ist, zu deren Anwendung nur der Mensch fähig ist und die die Natur selbst nicht vollbringen kann (EU-Richtlinie 98/44/EG, Ewg. 21).
Bei der Prüfung einer Patentanmeldung oder eines Patents, die Gensequenzen oder -teilsequenzen zum Gegenstand haben, werden dieselben Patentierbarkeitskriterien zugrunde gelegt wie in allen anderen Bereichen der Technologie (EU-Richtlinie 98/44/EG, Ewg. 22). Die gewerbliche Anwendbarkeit einer Sequenz oder Teilsequenz eines Gens muss in der Patentanmeldung in der eingereichten Fassung konkret beschrieben werden (siehe G‑III, 4).
ii)Pflanzen oder Tiere, wenn die Ausführung der Erfindung technisch nicht auf eine bestimmte Pflanzensorte oder Tierrasse beschränkt ist und die Pflanze bzw. das Tier nicht ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen wird
Erfindungen, deren Gegenstand Pflanzen oder Tiere sind, sind patentierbar, wenn die Anwendung der Erfindung technisch nicht auf eine Pflanzensorte oder Tierrasse beschränkt ist (EU-Richtlinie 98/44/EG, Ewg. 29). Die Pflanzen bzw. Tiere dürfen aber nicht ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen werden (siehe G‑II, 5.4).
Das Patentierungsverbot von Pflanzen und Tieren, die ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen werden, gilt für Patentanmeldungen mit einem Anmeldetag und/oder einem Prioritätstag nach dem 1. Juli 2017. Es gilt nicht für Patente, die vor diesem Datum erteilt wurden, oder für anhängige Patentanmeldungen mit einem Anmeldetag und/oder einem Prioritätstag vor dem 1. Juli 2017 (siehe G 3/19, ABl. EPA 2020, A119).
Wenn ein technisches Merkmal einer beanspruchten Pflanze oder eines beanspruchten Tieres, z. B. der Austausch eines einzelnen Nucleotids im Genom, sowohl aus einem technischen Eingriff (z. B. gezielte Mutagenese) als auch aus einem im Wesentlichen biologischen Verfahren (natürliches Allel) hervorgehen kann, ist ein Disclaimer erforderlich, um den beanspruchten Gegenstand auf das technisch erzeugte Produkt einzugrenzen (siehe Beispiele in G‑II, 5.4.2.1 und G-II, 5.4). Ein solcher Disclaimer ist nur erforderlich für Patentanmeldungen mit einem Anmeldetag und/oder einem Prioritätstag nach dem 1. Juli 2017. Nicht erforderlich ist er für Patente, die vor diesem Datum erteilt wurden, oder für anhängige Patentanmeldungen mit einem Anmeldetag und/oder einem Prioritätstag vor dem 1. Juli 2017 (siehe G 3/19, ABl. EPA 2020, A119). Wenn hingegen das betreffende Merkmal nur durch einen technischen Eingriff, z. B. ein Transgen, erworben werden kann, ist kein Disclaimer erforderlich. Zu den Grundsätzen der Gewährbarkeit von Disclaimern siehe H‑V, 4.
Ein Anspruch, der Pflanzensorten umfasst, sie aber nicht individuell angibt, ist nicht auf eine oder mehrere Pflanzensorten gerichtet (siehe G 1/98, Nr. 3.8 der Entscheidungsgründe). Ist in einem Erzeugnisanspruch keine bestimmte Pflanzensorte individuell angegeben, so ist der Gegenstand der beanspruchten Erfindung nicht im Sinne des Art. 53 b) auf eine oder mehrere Pflanzensorten beschränkt oder gerichtet (G 1/98, Nrn. 3.1 und 3.10 der Entscheidungsgründe) und somit nicht von der Patentierbarkeit ausgeschlossen. Detailliertere Angaben zu Patentierbarkeitsausschlüssen von Pflanzensorten finden sich in G‑II, 5.4.1.
Ein "mikrobiologisches Verfahren" ist jedes Verfahren, bei dem mikrobiologisches Material verwendet, ein Eingriff in mikrobiologisches Material durchgeführt oder mikrobiologisches Material hervorgebracht wird.