4. Würdigung von Beweismitteln
Wenn Beweismittel vorgelegt werden, so ist zunächst zu prüfen, welche Tatsache behauptet wird, und dann, ob diese Tatsache für die Entscheidung relevant ist. Falls sie dafür nicht relevant ist, wird die Behauptung nicht weiter in Betracht gezogen, und dementsprechend sind auch die Beweismittel nicht näher zu prüfen. Falls die behauptete Tatsache relevant ist, dann ist zu untersuchen, ob die Tatsache durch die vorgelegten Beweismittel bewiesen ist oder nicht.
Da das EPÜ keine Vorschriften darüber enthält, wie das Ergebnis einer Beweisaufnahme zu bewerten ist, gilt für die Prüfung von Beweismitteln der Grundsatz der freien Beweiswürdigung, d. h. Inhalt und Bedeutung eines Beweismittels für das Verfahren sind in jedem einzelnen Fall unter Berücksichtigung der speziellen Umstände zu beurteilen (z. B. Zeit, Ort, Art des Beweismittels, Stellung des Zeugen in der Firma usw.). Aus dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung folgt auch, dass die Instanzen des EPA befugt sind, die von den Beteiligten angebotenen Beweismittel in jeder geeigneten Weise zu bewerten oder auch als unwichtig oder irrelevant zu erachten. Wann ein Beweismittel ausreichend ist, ist im Einzelfall zu entscheiden.
Bei der Entscheidung, ob sie einen behaupteten Sachverhalt akzeptiert, kann die Abteilung den Grundsatz des "Abwägens der Wahrscheinlichkeit" anwenden, d. h. sie ist überzeugt davon, dass der eine Tatsachenkomplex mit größerer Wahrscheinlichkeit richtig ist als der andere. Des Weiteren gilt: Je schwerwiegender eine Tatfrage ist, desto stichhaltiger muss das zugrunde liegende Beweismaterial sein (siehe T 750/94). Kann die Entscheidung zum Beispiel wegen einer behaupteten Vorbenutzung möglicherweise zum Widerruf des Patents führen, so ist das vorliegende Beweismaterial sehr kritisch und genau zu prüfen. Insbesondere bei einer angeblichen Vorbenutzung ist ein strengeres, der festen Überzeugung gleichkommendes Kriterium anzulegen (d. h. die Vorbenutzung muss zweifelsfrei stattgefunden haben) weil der Patentinhaber nur wenige oder gar keine Möglichkeiten hat, das Gegenteil zu beweisen (siehe T 97/94).
Bei einander widersprechenden Behauptungen der Parteien muss die Abteilung entscheiden, welche Beweismittel am überzeugendsten sind. Ist es nicht möglich, aufgrund der eingereichten Beweismittel zu entscheiden, welche Behauptung richtig ist, so ist nach Beweislast zu entscheiden, d. h. es ist gegen diejenige Partei zu entscheiden, die die Beweislast hatte, aber den Beweis nicht überzeugend führen konnte.