Kapitel VI – Ermittlung von Amts wegen; verspätet vorgebrachte Tatsachen, Beweismittel oder Einspruchsgründe; Einwendungen Dritter
Nach der Veröffentlichung einer europäischen Patentanmeldung gemäß Art. 93 kann jeder Dritte Einwendungen gegen die Patentierbarkeit der Erfindung erheben. Zwar betreffen die meisten Einwendungen Dritter die mangelnde Neuheit und/oder mangelnde erfinderische Tätigkeit, sie können aber auch gegen die Klarheit (Art. 84), ausreichende Offenbarung (Art. 83), Patentierbarkeit (Art. 52 (2) und Art. 52 (3), Art. 53 bzw. Art. 57) der Erfindung oder gegen unzulässige Änderungen (Art. 76 (1), Art. 123 (2) und Art. 123 (3)) gerichtet werden.
Einwendungen Dritter sind schriftlich einzureichen und zu begründen. Sie müssen in Deutsch, Englisch oder Französisch abgefasst werden. Der Dritte ist am Verfahren vor dem EPA nicht beteiligt. Die Einwendungen sollten vorzugsweise über das vom EPA zu diesem Zweck bereitgestellte Online-Tool eingereicht werden (siehe ABl. EPA 2017, A86). Einwendungen können anonym eingereicht werden.
Schriftliche Beweismittel, insbesondere zur Stützung des Vorbringens vorgelegte Veröffentlichungen, können in jeder Sprache eingereicht werden. Das EPA kann jedoch verlangen, dass innerhalb einer zu bestimmenden Frist eine Übersetzung in einer seiner Amtssprachen eingereicht wird; andernfalls werden die Beweismittel nicht berücksichtigt.
Obgleich dem Dritten der Eingang der Einwendungen bestätigt wird (sofern sie nicht anonym eingereicht wurden), teilt ihm das EPA nicht im Einzelnen mit, welche Maßnahmen es auf seine Einwendungen hin trifft. Allerdings wird das Ergebnis der Prüfung durch die zuständige Abteilung kurz im entsprechenden amtlichen Bescheid des EPA (z. B. einer Mitteilung oder der Ankündigung der Erteilung) angegeben und somit der Öffentlichkeit bekannt gemacht.
Die Einwendungen werden in den öffentlichen Teil der Akte aufgenommen, auch wenn sie anonym eingereicht wurden. Sie werden dem Anmelder bzw. Patentinhaber ohne Verzögerung mitgeteilt, der dazu Stellung nehmen kann. Falls sie die Patentfähigkeit ganz oder teilweise infrage stellen, wird die Prüfungs- oder Einspruchsabteilung sie beim nächsten verfahrensrechtlichen Schritt berücksichtigen. Beziehen sich die Einwendungen auf einen angeblichen Stand der Technik, der nicht durch ein Dokument, sondern beispielsweise durch eine Benutzung zugänglich ist, so wird diese nur berücksichtigt, wenn die angeblichen Tatsachen entweder vom Anmelder bzw. Patentinhaber nicht bestritten werden oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwiesen sind.
Einwendungen Dritter, die im Prüfungsverfahren nach Versand der Mitteilung nach Regel 71 (3), aber vor Übergabe des Erteilungsbeschlusses (EPA Form 2006A) an die interne Poststelle des EPA eingehen, werden von der Prüfungsabteilung berücksichtigt. Falls sie relevant sind, wird die Sachprüfung wieder aufgenommen. Falls nicht, wird eine kurze sachliche Stellungnahme in die Akte aufgenommen.
Gehen Einwendungen Dritter ein, nachdem die Entscheidung in der mündlichen Verhandlung verkündet (z. B. im Falle einer Zurückweisung oder im Einspruchsverfahren), im schriftlichen Verfahren erlassen oder an die interne Poststelle des EPA übergeben worden ist (z. B. nach Ergehen des Erteilungsbeschlusses oder wenn im Einspruchsverfahren keine mündliche Verhandlung stattgefunden hat), so werden sie in die Akte aufgenommen, ohne dass ihr Inhalt beachtet wird.
Einwendungen Dritter, die eingehen, wenn das Verfahren nicht mehr anhängig ist, werden weder berücksichtigt noch für die Akteneinsicht zur Verfügung gestellt. Sollte jedoch das Verfahren vor dem EPA wieder anhängig werden, z. B. mit Beginn eines Einspruchs- bzw. Beschränkungsverfahrens, werden sie in der Akteneinsicht zugänglich gemacht und finden Berücksichtigung.
Das EPA wird sich nach Kräften bemühen, den nächsten verfahrensrechtlichen Schritt durch die Prüfungsabteilung innerhalb von drei Monaten nach Eingang von Einwendungen Dritter nach Art. 115 zu vollziehen, sofern die Einwendungen angemessen begründet sind und nicht anonym erhoben wurden. Steht bei Eingang der Einwendung eine Erwiderung des Anmelders auf eine Mitteilung aus, beginnt der Zeitraum von drei Monaten mit dem Erhalt der Erwiderung.
Im Allgemeinen wendet das EPA im Falle von Einwendungen Dritter, die in der internationalen Phase eingereicht werden, ab dem Eintritt der Euro-PCT-Anmeldung in die europäische Phase seine Praxis für die Behandlung von im direkten europäischen Verfahren eingereichten Einwendungen entsprechend an.
Wurde eine Einwendung Dritter in der internationalen Phase eingereicht, berücksichtigt das EPA als Bestimmungsamt/ausgewähltes Amt ihren Inhalt beim Eintritt in die europäische Phase, sobald ihr dieser zugänglich ist. Die Prüfungsabteilung wird sich nach Kräften bemühen, den nächsten verfahrensrechtlichen Schritt innerhalb von drei Monaten nach Ablauf der Frist nach Regel 161 zu vollziehen, allerdings nur, wenn der Dritte ausdrücklich den Wunsch nach beschleunigter Bearbeitung in der europäischen Phase geäußert hat, wenn die Einwendung nicht anonym eingereicht wurde und wenn sie begründet war. Ein Dritter, der ein solches Ergebnis in der europäischen Phase erzielen möchte, muss dies daher in der Einwendung klarstellen oder die Einwendung beim EPA als Bestimmungsamt/ausgewähltem Amt einreichen.