Kapitel VIII – Fristen, Rechtsverlust, Weiterbehandlung, beschleunigte Bearbeitung und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Ist nach Versäumung einer gegenüber dem EPA einzuhaltenden Frist eine europäische Patentanmeldung zurückzuweisen oder zurückgewiesen worden oder gilt sie als zurückgenommen, so kann die Anmeldung weiterbehandelt werden, wenn der Anmelder innerhalb von zwei Monaten nach der Mitteilung über die Fristversäumung oder einen Rechtsverlust einen entsprechenden Antrag stellt. Der Antrag auf Weiterbehandlung muss durch Entrichtung der vorgeschriebenen Gebühr gestellt werden. Die versäumte Handlung ist innerhalb der Antragsfrist nachzuholen. Der Antrag gilt erst dann als gestellt, wenn die entsprechende Weiterbehandlungsgebühr entrichtet worden ist. Wurde die Weiterbehandlungsgebühr fristgerecht entrichtet, aber die versäumte Handlung nicht innerhalb der Antragsfrist nachgeholt, so ist der Antrag nicht zulässig.
Wenn mehrere Handlungen dieselbe Rechtsgrundlage haben, bilden sie eine einheitliche Verfahrenshandlung und unterliegen einer einheitlichen Frist (siehe J 26/95). Die Weiterbehandlung in Bezug auf eine solche Frist unterliegt der Zahlung einer gemeinsamen Gebühr für die Weiterbehandlung. Die Höhe der gemeinsamen Gebühr hängt von der Zahl und der Art der versäumten Handlungen ab, die die einheitliche Verfahrenshandlung bilden.
Die folgenden Beispiele sollen dies veranschaulichen:
– Die Beantragung der Prüfung nach Art. 94 (1) in Verbindung mit Regel 70 (1) erfordert die Stellung eines schriftlichen Prüfungsantrags und die Entrichtung der Prüfungsgebühr. Da beide Handlungen dieselbe Rechtsgrundlage haben, bilden sie eine einheitliche Verfahrenshandlung und unterliegen einer einheitlichen Frist. Wurden beide Handlungen versäumt, setzt sich die gemeinsame Gebühr für die Weiterbehandlung aus der Pauschalgebühr und 50 % der Prüfungsgebühr zusammen (Art. 2 (1) Nr. 12 GebO erster und dritter Spiegelstrich GebO). Wurde nur die Prüfungsgebühr nicht rechtzeitig entrichtet, beträgt die Weiterbehandlungsgebühr 50 % der Prüfungsgebühr (Art. 2 (1) Nr. 12 GebO erster Spiegelstrich GebO). Wurde nur der schriftliche Prüfungsantrag versäumt, entspricht die Weiterbehandlungsgebühr der Pauschalgebühr (Art. 2 (1) Nr. 12 GebO dritter Spiegelstrich GebO).
– Die Anmeldegebühr und die Zusatzgebühr für Anmeldungen, die mehr als 35 Seiten umfassen, sind innerhalb der durch Regel 38 (1) und (2) festgelegten Frist zu entrichten. Da die Zusatzgebühr Teil der Anmeldegebühr ist, ist die Zahlung dieser beiden Gebühren eine einheitliche Verfahrenshandlung, die einer einheitlichen Frist unterliegt. Somit ist eine einzige Weiterbehandlungsgebühr fällig. Wurden beide Gebühren nicht fristgerecht entrichtet, setzt sich die gemeinsame Gebühr für die Weiterbehandlung aus 50 % der Anmeldegebühr und 50 % der Zusatzgebühr zusammen (vgl. Art. 2 (1) Nr. 12 GebO erster Spiegelstrich GebO). Wurde nur eine Gebühr nicht fristgerecht entrichtet, beträgt die gemeinsame Gebühr für die Weiterbehandlung 50 % dieser versäumten Gebühr (vgl. Art. 2 (1) Nr. 12 GebO erster Spiegelstrich GebO).
Eine Ausnahme vom oben genannten Prinzip betrifft Regel 71 (3):
– Bei Einverständnis mit der nach Regel 71 (3) mitgeteilten Fassung müssen innerhalb von vier Monaten die Erteilungs- und Veröffentlichungsgebühr und gegebenenfalls Anspruchsgebühren (Regel 71 (4)) entrichtet und eine Übersetzung der Patentansprüche eingereicht werden (Regel 71 (5)). Da diese Handlungen dieselbe Rechtsgrundlage haben, bilden sie eine einheitliche Verfahrenshandlung, die einer einheitlichen Frist unterliegt. Als Ausnahme von dem Prinzip, dass die gemeinsame Gebühr für die Weiterbehandlung nach der Anzahl der versäumten Handlungen berechnet wird, ist nach Art. 2 (1) Nr. 12 GebO zweiter Spiegelstrich GebO bei verspäteter Vornahme einer oder aller der nach Regel 71 (3) erforderlichen Handlungen (Entrichtung der Erteilungs- und Veröffentlichungsgebühr und Einreichung der Übersetzung der Patentansprüche) nur eine pauschale Weiterbehandlungsgebühr zu entrichten. Wurden außerdem die Anspruchsgebühren nicht fristgerecht entrichtet, setzt sich die gemeinsame Gebühr für die Weiterbehandlung aus der Pauschalgebühr und 50 % der Anspruchsgebühren zusammen (vgl. Art. 2 (1) Nr. 12 GebO zweiter und erster Spiegelstrich GebO). Wurden nur die Anspruchsgebühren nicht fristgerecht entrichtet, beträgt die gemeinsame Gebühr für die Weiterbehandlung 50 % der Anspruchsgebühren (Art. 2 (1) Nr. 12 GebO erster Spiegelstrich GebO). Bei europäischen Patentanmeldungen, die vor dem 1. April 2009 eingereicht wurden, und bei internationalen Anmeldungen, die vor diesem Zeitpunkt in die europäische Phase eingetreten sind, sind etwaige Seitengebühren nach Art. 2 (2) Nr. 7.2 GebO Teil der Erteilungs- und Druckkostengebühr. Wurden nur die Seitengebühren nicht fristgerecht entrichtet, entspricht die Gebühr für die Weiterbehandlung daher der Pauschalgebühr (Art. 2 (1) Nr. 12 GebO zweiter Spiegelstrich GebO).
Handlungen, die keine gemeinsame Verfahrenshandlung darstellen, unterliegen Fristen, die unabhängig voneinander ablaufen und die jeweils zur Folge haben, dass die Anmeldung als zurückgenommen gilt. Laufen solche Fristen an demselben Datum ab, führt die Versäumnis jeder unabhängigen Frist dazu, dass die Anmeldung als zurückgenommen gilt (siehe J 26/95). Dies gilt unabhängig davon, ob der Anmelder über die Nichtvornahme von Verfahrenshandlungen in einer Mitteilung oder in mehreren Mitteilungen informiert wird. In solchen Fällen ist eine Weiterbehandlungsgebühr für jede versäumte Frist zu entrichten. Ein Beispiel findet sich in E‑VIII, 3.1.3.
Weiterbehandlung kann auch zwischen dem Ablauf der versäumten Frist und der Zustellung der Mitteilung über die Fristversäumung oder den Rechtsverlust beantragt werden.
Über den Antrag auf Weiterbehandlung entscheidet das Organ, das über die versäumte Handlung zu entscheiden hat.
Handelt es sich bei der versäumten Handlung um eine sachliche Erwiderung (z. B. auf den erweiterten europäischen Recherchenbericht oder eine Mitteilung nach Art. 94 (3)), so gilt ein bloßer Verfahrensantrag (z. B. auf mündliche Verhandlung) nicht als Nachholung der versäumten Handlung; die Weiterbehandlung kann nicht gewährt werden (siehe B‑XI, 8 und C‑IV, 3).
Die Weiterbehandlung ist der Regelrechtsbehelf bei Fristversäumnissen im Verfahren vor der Erteilung, und zwar selbst dann, wenn das Versäumnis einen Teilrechtsverlust zur Folge hat (z. B. Erlöschen eines Prioritätsanspruchs). Von der Möglichkeit der Weiterbehandlung ausgeschlossen sind dagegen die Fristen nach Art. 121 (4) sowie nach den Regeln 6 (1), Regel 16 (1) a), Regel 31 (2), Regel 36 (2), Regel 40 (3), Regel 51 (2) bis Regel 51 (5), Regel 52 (2) und Regel 52 (3), Regel 55, Regel 56, Regel 56a (1) und Regel 56a (3) bis Regel 56a (7), Regel 58, Regel 59, Regel 62a, Regel 63, Regel 64, Regel 112 (2) sowie Regel 164 (1) und Regel 164 (2).