7. Auswahlerfindungen
Overview
Bei Auswahlerfindungen geht es um eine Auswahl nicht ausdrücklich erwähnter Einzelelemente von Einzelelementen, Teilmengen oder Teilbereiche Teilbereichen aus einer allgemeineren Offenbarung im Stand der Technik, siehe auch G‑VI, 5 in oder sich überschneidend mit einer bekannten Menge oder einem bekannten Bereich.
Zur Feststellung der Neuheit muss ermittelt werden, welcher Gegenstand der Öffentlichkeit durch eine Offenbarung im Stand der Technik zugänglich gemacht wurde und somit zum Stand der Technik gehört. In diesem Zusammenhang gilt es nicht nur Beispiele, sondern den gesamten Inhalt der Vorveröffentlichung zu berücksichtigen. Sachverhalte, die in einem Dokument des Stands der Technik "verborgen" (in nicht erkennbarer Weise umfasst) sind, sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht worden (siehe T 666/89).
Die Beurteilung der Neuheit von Auswahlerfindungen hängt ab von der Zahl von identifizierten Auswahlaktionen gegenüber dem Stand der Technik. Die folgenden beiden Szenarien sind zu unterscheiden:
(i)Eine Auswahlaktion identifiziert
Bei einer einzigen Auswahlaktion kann es folgende Szenarien geben:
(a)Die Auswahl ist eine Auswahl von Einzelelementen oder von Teilmengen einer größeren Menge.
Eine Auswahl eines oder mehrerer Elemente aus einer einzelnen Liste konkret offenbarter Elemente verleiht noch keine Neuheit.
(b)Die Auswahl ist eine Auswahl eines aus einem größeren Zahlenbereich des Stands der Technik ausgewählten Teilbereichs. Ob die Auswahl eines Teilbereichs als neu betrachtet werden kann, hängt von den spezifischen Umständen ab:
Eine beanspruchte Auswahl eines Teilbereichs gilt nicht als neu, wenn ein im Stand der Technik offenbarter spezifischer Wert in den beanspruchten Bereich fällt, unabhängig davon, ob dieser Wert von einem konkreten Beispiel stammt oder als Endpunkt eines Bereichs offenbart ist.
i)Um die Neuheit einer Auswahl zu ermitteln, ist zu entscheiden, ob die ausgewählten Elemente in individualisierter (konkreter) Form im Stand der Technik offenbart sind. Eine Auswahl aus einer einzelnen Liste konkret offenbarter Elemente verleiht noch keine Neuheit. Muss jedoch eine Auswahl aus zwei oder mehr Listen einer gewissen Länge getroffen werden, um eine spezifische Kombination von Merkmalen zu erhalten, so verleiht die daraus resultierende Merkmalskombination, die im Stand der Technik nicht eigens offenbart ist, Neuheit ("Zwei-Listen-Prinzip"). Beispiele für eine solche Auswahl aus zwei oder mehr Listen sind die Auswahl von:
ii) Ein aus einem größeren Zahlenbereich des Stands der Technik ausgewählter Teilbereich gilt als neu, wenn jedes der zwei folgenden Kriterien erfüllt ist (siehe T 261/15):
– der ausgewählte Teilbereich ist im Vergleich zu dem bekannten Bereich eng,
– der ausgewählte Teilbereich hat genügend Abstand von konkreten im Stand der Technik offenbarten Beispielen.
Die Bedeutung der Begriffe "eng" und "genügend Abstand" ist von Fall zu Fall zu entscheiden.
In diesem Zusammenhang ist zu beurteilen, ob der Fachmann angesichts der Lehre des Stands der Technik ernsthaft in Erwägung ziehen würde, im ausgewählten Teilbereich zu arbeiten. Kann dies mit einiger Wahrscheinlichkeit bejaht werden, ist der ausgewählte Teilbereich nicht neu. Ausdrücklich erwähnte Zwischenwerte oder ein konkretes Beispiel des Stands der Technik im ausgewählten Teilbereich sind ebenfalls neuheitsschädlich. Zur Herstellung der Neuheit reicht es daher möglicherweise nicht aus, bestimmte neuheitsschädliche Werte auszuschließen, die aus dem Bereich des Stands der Technik bekannt sind.
Das Konzept des "ernsthaft in Betracht Ziehens" unterscheidet sich grundsätzlich von dem Konzept, das zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit angewendet wird ‒ nämlich zu prüfen, ob der Fachmann "mit einiger Aussicht auf Erfolg versucht hätte", die technische Lücke zwischen einem bestimmten Stand der Technik und einem Anspruch, dessen erfinderische Tätigkeit infrage steht, zu überbrücken (siehe G‑VII, 5.3), da es bei der Feststellung einer Vorwegnahme keine solche Lücke geben kann.
Beispiel: Anspruch 1 definiert einen Bereich von 3,0 – 6,0 Gew.-% eines Tensids in einer Flüssigwaschmittel-Zusammensetzung. D1 offenbart eine Flüssigwaschmittel-Zusammensetzung umfassend ein Tensid in einem allgemeinen Bereich von 1 - 30 Gew.-% und einem konkreten Beispiel von 25 Gew.-%. Die Auswahl des beanspruchten Teilbereichs ist neu, weil der beanspruchte Bereich eng gegenüber dem Bereich des Stands der Technik ist, aber auch Abstand von dem konkreten Beispiel hat. Wenn jedoch ein konkretes Beispiel von D1 einen Wert von 4,5 Gew.-% eines Tensids offenbart oder wenn ein bevorzugterer Bereich von 5 - 20 Gew.-% in D1 offenbart ist, dann ist D1 neuheitsschädlich für den Anspruch 1. Wenn D1 hingegen ein Beispiel mit 2,8 Gew.-% Tensid offenbart, ist zu bestimmen, ob der Wert 2,8 Gew.-% genügend Abstand vom beanspruchten Bereich 3,0 – 6,0 Gew.-% hat. Dazu wird beurteilt, ob der Fachmann ernsthaft in Erwägung ziehen würde, in dem beanspruchten Bereich zu arbeiten.
So wurde beispielsweise in T 1571/15 betreffend eine durch ihre Zusammensetzung definierte Legierung festgestellt, dass der Fachmann nicht ernsthaft erwägen würde, im ausgewählten Teilbereich zu arbeiten, obwohl dieser im zentralen Abschnitt eines im Stand der Technik offenbarten Bereichs lag, weil dieser Stand der Technik einen Hinweis auf einen anderen Abschnitt enthielt.
Dasselbe Prinzip gilt für Markush-Formeln. Ein Anspruch kann zum Beispiel eine chemische Verbindung definieren, bei der ein Substituent eine Alkylkette mit 5 bis 10 Kohlenstoffatomen ist. Dieser Anspruch ist nicht neu angesichts einer chemischen Verbindung aus dem Stand der Technik mit 8 Kohlenstoffatomen. Bei einem Dokument des Stands der Technik, das eine Alkylkette unspezifischer Länge und eine konkrete Verbindung mit 11 Kohlenstoffatomen offenbart, ist zu beurteilen, ob der beanspruchte Bereich genügend Abstand von dem bekannten Beispiel hat.
(ii)Mehrere Auswahlaktionen identifiziert
Im Falle mehrerer Auswahlaktionen wird die Beurteilung der Lage komplexer. Je nach Art der Auswahlaktionen lassen sich allgemein die folgenden drei Szenarien unterscheiden:
(a)Die identifizierten Auswahlaktionen liegen in der Auswahl einzelner Elemente oder in der Auswahl von Teilmengen aus mehreren größeren Mengen. Dies bedeutet eine Auswahl aus zwei oder mehr Listen einer gewissen Länge. Eine Liste ist eine Beschreibung gleicher, d. h. nichtkonvergenter Alternativen.
Als Liste einer "gewissen Länge" gilt in der Regel eine Liste mit mindestens zwei oder drei Bestandteilen. Ob eine Liste die erforderliche Länge hat, ist im jeweiligen Einzelfall zu entscheiden. Muss eine Auswahl aus zwei oder mehr Listen einer gewissen Länge getroffen werden, um eine spezifische Kombination von Merkmalen zu erhalten, so verleiht die daraus resultierende Merkmalskombination, die im Stand der Technik nicht eigens offenbart ist, Neuheit ("Zwei-Listen-Prinzip"). Neuheit wird jedoch nicht verliehen, wenn es im Stand der Technik einen Hinweis auf die spezifische Kombination gibt. Ähnlich verleiht auch die bloße Verkürzung von Listen in der Regel keine Neuheit, wenn die Listen nicht unter die erforderliche Länge verkürzt werden.
Zum Beispiel kann ein Anspruch die Verwendung von Natriumchlorid (NaCl) als Katalysator in einer chemischen Reaktion definieren. Wenn D1 die Verwendung eines Alkalimetallhalogenids als Katalysator beschreibt, wobei das Alkalimetall aus Li, Na, K und Rb ausgewählt und das Halogenid aus F, Cl, Br und I ausgewählt wird, ist eine Auswahl aus zwei Listen erforderlich, um zu der spezifischen Kombination des Anspruchs zu gelangen. Mangels weiterer Informationen in D1 ist der Anspruch neu gegenüber D1.
Dasselbe Prinzip gilt auch für chemische Verbindungen, die mit einer Markush-Formel beschrieben werden. Dazu gehören chemische Einzelverbindungen aus einer bekannten generischen Formel, wobei die ausgewählte Verbindung aus der Auswahl spezifischer Substituenten aus zwei oder mehr Listen von Substituenten in der bekannten generischen Formel hervorgeht. Dasselbe gilt für spezifische Gemische, die aus der Auswahl einzelner Komponenten aus Listen von Komponenten hervorgehen, die das Gemisch des Stands der Technik bilden. Ähnliche Erwägungen gelten auch für Ausgangsmaterialien für die Herstellung eines Endprodukts.
(b)Die identifizierten Auswahlaktionen bestehen in der Auswahl mehrerer Teilbereiche aus größeren Zahlenbereichen. In diesem Kontext ist ein Teilbereich ein Bereich, der entweder vollständig innerhalb des Bereich des Stands der Technik liegt oder der sich mit einem Endpunkt des Bereichs des Stands der Technik überschneidet und damit einen Überschneidungsbereich mit dem Bereich des Stands der Technik bildet. Diese beiden Szenarien sind nachstehend veranschaulicht, wo der Überschneidungsbereich als "xxxx" markiert ist.
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Anspruch |
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Stand der Technik |
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Anspruch |
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Stand der Technik |
Das oben genannte Zwei-Listen-Prinzip findet entsprechend Anwendung. Anders als im Fall einer einzigen Auswahlaktion wie unter (i) b) beschrieben, reicht es nicht aus, dass der Stand der Technik für jeden beanspruchten Bereich einzeln genommen einen spezifischen Wert oder Endpunkt eines Bereichs offenbart, der in diesen Bereich fällt, um den Gegenstand des Anspruchs vorwegzunehmen. Das heißt, die Auswahl mehrerer Teilbereiche ist, wenn es keine Hinweise auf die Kombination der spezifischen Teilbereiche gibt, neu gegenüber den breiteren Bereichen. Liegt ein konkretes Beispiel knapp außerhalb der beanspruchten Bereiche, ist zu beurteilen, ob der Fachmann ernsthaft erwägen würde, in allen beanspruchten Bereichen zu arbeiten.
Wenn die Auswahl der mehrfachen Teilbereiche Elemente betrifft, die miteinander interagieren, was in der Regel für die Bestandteile von Legierungen und Zusammensetzungen der Fall ist, sind die verschiedenen Auswahlaktionen nicht isoliert, sondern in Kombination zu betrachten (T 261/15, Nr. 2.3.1 der Entscheidungsgründe).
Anspruch 1 definiert zum Beispiel eine Legierung, die 5 – 8 Gew.-% Mg und 12 - 16 Gew.-% Zn sowie andere Metalle umfasst. D1 offenbart eine ähnliche Legierung, aber definiert die Bereiche von 7 - 20 Gew.-% Mg und 14 - 22 Gew.-% Zn sowie ein konkretes Beispiel einer Legierung mit 16 Gew.-% Mg und 21 Gew.-% Zn. Mangels Hinweisen oder weiterer Informationen in D1 gibt es keinen Grund, warum der Fachmann ernsthaft ein Ausführungsbeispiel einer Legierung in Erwägung ziehen würde, das in beide beanspruchte Bereiche fällt.
(c)Die identifizierten Auswahlaktionen liegen in einer Auswahlkombination aus Listen und Teilbereichen. In diesem Fall sind beide vorstehend unter (ii) a) und (ii) b) beschriebenen Prinzipien anzuwenden. Dieser Fall tritt häufig im Bereich der Chemie auf, wenn eine Verbindung durch eine Markush-Formel beschrieben wird. So kann zum Beispiel ein Unterschied gegenüber dem Stand der Technik die Auswahl eines spezifischen Substituenten aus einer Liste von Substituenten sein, und ein weiterer Unterschied kann in der Auswahl eines Teilbereichs aus einem größeren Zahlenbereich von Wiederholungseinheiten liegen, die im Stand der Technik offenbart sind.
iii)Bei sich überschneidenden Zahlenbereichen des beanspruchten Gegenstands und des Stands der Technik gelten für die Neuheitsprüfung dieselben Grundsätze wie in den vorstehend unter i) und ii) beschriebenen Fällen.
Ausdrücklich erwähnte Eckwerte des bekannten Bereichs, ausdrücklich erwähnte Zwischenwerte oder ein konkretes Beispiel des Stands der Technik im Überschneidungsbereich sind neuheitsschädlich. Wie auch im Fall der Auswahl eines Teilbereichs reicht es nicht aus, bestimmte neuheitsschädliche Werte, die aus dem Bereich des Stands der Technik bekannt sind, auszuschließen, sondern es ist auch zu prüfen, ob der Fachmann unter Berücksichtigung der technischen Gegebenheiten sowie des von ihm zu erwartenden allgemeinen Fachwissens ernsthaft erwogen hätte, die technische Lehre aus dem bekannten Dokument im Überschneidungsbereich anzuwenden.
iv)Diese Grundsätze sind auch auf sich überschneidende chemische Formeln anwendbar. Die Neuheit kann bejaht werden, wenn sich der beanspruchte Gegenstand im Überschneidungsbereich durch eine neue technische Lehre vom Stand der Technik unterscheidet, siehe T 12/90, Nr. 2.6 der Entscheidungsgründe. Eine neue technische Lehre liegt vor, wenn bestimmte technische Elemente gegenüber der Offenbarung im Stand der Technik neu sind. Ein Beispiel für ein neues technisches Element ist ein spezifisch ausgewählter chemischer Rest, der im Überschneidungsbereich allgemein vom Stand der Technik abgedeckt wird, aber im bekannten Dokument nicht individualisiert ist. Trifft dies nicht zu, ist zu prüfen, ob der Fachmann ernsthaft erwägen würde, im Überschneidungsbereich zu arbeiten bzw. ob er annehmen würde, dass der Überschneidungsbereich direkt und unmissverständlich im Stand der Technik impliziert ist (siehe z. B. T 536/95). Kann dies bejaht werden, so liegt keine Neuheit vor.
Dies gilt analog auch, wenn die beanspruchte chemische Formel einen Teilbereich einer aus dem Stand der Technik bekannten chemischen Formel definiert.