5. Aufgabe-Lösungs-Ansatz
Unter dem nächstliegenden Stand der Technik ist die in einer einzigen Quelle offenbarte Kombination von Merkmalen zu verstehen, die den erfolgversprechendsten Ausgangspunkt für eine Entwicklung darstellt, die zur beanspruchten Erfindung führt. Die erste Überlegung bei der Bestimmung des nächstliegenden Stands der Technik ist die, dass er auf einen ähnlichen Zweck oder eine ähnliche Wirkung wie die Erfindung gerichtet oder zumindest demselben Gebiet der Technik wie die beanspruchte Erfindung oder einem eng verwandten Gebiet zuzuordnen sein muss. In der Praxis ist der nächstliegende Stand der Technik in der Regel der, der einem ähnlichen Verwendungszweck entspricht und die wenigsten strukturellen und funktionellen Änderungen erfordert, um zu der beanspruchten Erfindung zu gelangen (siehe T 606/89).
In manchen Fällen gibt es mehrere gleichwertige Ausgangspunkte für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit, z. B. wenn dem Fachmann mehrere gangbare Lösungswege offenstehen, d. h. mehrere von unterschiedlichen Dokumenten ausgehende Lösungswege, die zur Erfindung führen könnten. Dann kann es bei der Erteilung des Patents nötig sein, für alle diese Ausgangspunkte, d. h. für alle gangbaren Lösungswege, den Aufgabe-Lösungs-Ansatz durchzuführen.
Die Durchführung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes von verschiedenen Ausgangspunkten, z. B. ausgehend von verschiedenen Dokumenten des Stands der Technik, ist jedoch nur dann erforderlich, wenn überzeugend gezeigt wurde, dass diese Dokumente gleichwertige Ausgangspunkte darstellen. Vor allem beim Einspruchsverfahren ist die Struktur des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes kein Forum, in dem der Einsprechende beliebig viele Angriffe auf die erfinderische Tätigkeit in der Hoffnung entwickeln kann, dass einer davon Erfolg hat (T 320/15, Nr. 1.1.2 der Entscheidungsgründe).
Bei einer Zurückweisung oder einem Widerruf genügt es, ausgehend von einem relevanten Stand der Technik zu zeigen, dass dem Gegenstand des Anspruchs die erfinderische Tätigkeit fehlt. Es muss nicht erörtert werden, welches Dokument der beanspruchten Erfindung "am nächsten" kommt; relevant ist allein die Frage, ob das gewählte Dokument ein geeigneter Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist (siehe T 967/97, T 558/00, T 21/08, T 308/09 und T 1289/09). Dies gilt auch, wenn die nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz ermittelte Aufgabe nicht der vom Anmelder/Patentinhaber angegebenen entspricht.
Folglich kann der Anmelder oder Patentinhaber nicht das Argument entkräften, dass der beanspruchte Gegenstand nicht erfinderisch ist, indem er argumentiert, dass es einen vielversprechenderen Ausgangspunkt gibt: ein Stand der Technik, auf dessen Grundlage die beanspruchte Erfindung als nicht naheliegend angesehen wird, kann nicht "näher" sein als ein Dokument, auf dessen Grundlage die beanspruchte Erfindung naheliegend erscheint, weil in diesem Fall offensichtlich ist, dass der erste Stand der Technik nicht der vielversprechendste Ausgangspunkt ist, um zur Erfindung zu gelangen (T 1742/12, Nr. 6.5 der Entscheidungsgründe; T 824/05, Nr. 6.2 der Entscheidungsgründe).
Der nächstliegende Stand der Technik ist aus der Sicht des Fachmanns am Tag vor dem wirksamen Anmelde- oder Prioritätstag der beanspruchten Erfindung zu beurteilen. Der Prüfer darf keine künstliche Auslegung des nächstliegenden Stands der Technik aufgrund seiner vorherigen Kenntnis der Anmeldung vornehmen (siehe auch G‑VII, 8).
Bei der Bestimmung des nächstliegenden Stands der Technik wird berücksichtigt, was der Anmelder in seiner Beschreibung und den Patentansprüchen selbst als bekannt angibt. All diese Angaben über den bekannten Stand der Technik werden vom Prüfer als richtig angesehen, es sei denn, der Anmelder erklärt, dass er sich geirrt hat (siehe C‑IV, 7.3 vii)).