2.2 Einreichung von Unterlagen zur Vorbereitung oder während der mündlichen Verhandlung
Bei der Ausübung ihres Ermessens nach Art. 114 (2) und Regel 116 (1) und (2) muss die Abteilung alle relevanten Umstände des Einzelfalls beurteilen.
Sie prüft zunächst, ob die verspätet vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel relevant sind (siehe E‑VI, 2) bzw. ob die verspätet eingereichten Änderungen zulässig sind, und zwar prima facie. Sind diese Tatsachen oder Beweismittel nicht prima facie relevant, d. h. scheinen sie den Ausgang des Verfahrens nicht zu beeinflussen (T 320/15), bzw. sind diese Änderungen nicht eindeutig zulässig (siehe H‑II, 2.7.1), so werden sie nicht zugelassen.
Stellt z. B. die Einspruchsabteilung in der Anlage zur Ladung fest, dass das Patent wahrscheinlich widerrufen und ein rechtzeitig gestellter Änderungsantrag zugelassen wird, und reicht der Patentinhaber in Reaktion darauf nach dem gemäß Regel 116 (1) bestimmten Zeitpunkt und möglicherweise sogar erst in der mündlichen Verhandlung Änderungen ein, so kann die Einspruchsabteilung solche Anträge grundsätzlich als verspätet eingereicht betrachten und bei der Bewertung, ob sie in das Verfahren zuzulassen sind, das Kriterium der "eindeutigen Gewährbarkeit" anwenden (siehe H‑II, 2.7.1). Sie sollte jedoch eine Zulassung der Anträge in Betracht ziehen, wenn sie sich auf die Gegenstände abhängiger Ansprüche in der erteilten Fassung beziehen.
Die Konvergenz von Anträgen ist ein weiterer relevanter Faktor, den die Abteilung bei ihrer Ermessensausübung berücksichtigen kann (Konvergenz ist unter H‑III, 3.3.2.2 definiert).
Für die Zwecke der Zulässigkeit wird die Relevanz eines verspätet eingereichten Dokuments normalerweise in Relation zu den geänderten Ansprüchen beurteilt, denen es entgegengehalten wird. Dokumente, die für einen ursprünglichen Anspruchssatz nur begrenzt relevant sind, können infolge späterer Änderungen in diesen Ansprüchen an Relevanz gewinnen (T 366/11).
Vor der Zulassung dieser Eingaben prüft die Einspruchsabteilung als Nächstes die Verfahrensökonomie, einen etwaigen Verfahrensmissbrauch (z. B. ob einer der Beteiligten offensichtlich das Verfahren verschleppt) und die Frage, ob es den Beteiligten zugemutet werden kann, sich in der zur Verfügung stehenden Zeit mit den neuen Tatsachen oder Beweismitteln oder den vorgeschlagenen Änderungen vertraut zu machen.
Was die Verfahrensökonomie anbelangt, so kann die Abteilung, wenn die verspätet vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel zwar relevant sind, aber eine längere Vertagung der Verhandlung verursachen würden, entscheiden, sie nicht zum Verfahren zuzulassen. Denkbar wäre z. B., dass ein Zeuge erst noch ermittelt werden muss oder dass erst noch langwierige Tests erforderlich sind. Die Abteilung kann allerdings auch die Verhandlung verschieben, wobei sie im Einspruchsverfahren unter Umständen die Kostenverteilung (Art. 104) überprüfen muss. Ebenfalls aus Gründen der Verfahrensökonomie werden in der Regel verspätet eingereichte Anträge, die auf Gegenständen beruhen, die vorher nicht von den Ansprüchen abgedeckt waren, nicht zum Verfahren zugelassen. Die Zulassung solcher Anträge könnte zu einer Verlegung der mündlichen Verhandlung und gegebenenfalls zu einer Entscheidung über die Kostenverteilung führen.
Ein Verfahrensmissbrauch liegt beispielsweise vor, wenn:
– der Patentinhaber kurzfristig eine Vielzahl von Hilfsanträgen stellt, die nicht durch den Verhandlungsverlauf bedingt sind;
– der Einsprechende eine öffentliche Vorbenutzung durch ihn selbst bewusst erst in einem späten Stadium des Verfahrens erwähnt, obwohl er schon früher im Besitz des entsprechenden Beweismaterials war (siehe T 534/89);
– der Anmelder bzw. der Patentinhaber eine große Zahl von Anträgen oder unvollständige Varianten von Anträgen vorlegt und die Abteilung auffordert, einen davon auszuwählen, sodass die Verantwortung, den Inhalt der Anmeldung bzw. des Patents festzulegen, auf die Abteilung abgewälzt wird. Jeder Verfahrensbeteiligte ist verpflichtet, seine Sache selbst vorzubringen und seine eigenen Anträge zu formulieren (siehe T 446/00).
Bezüglich der Frage, ob es den Beteiligten zugemutet werden kann, sich in der zur Verfügung stehenden Zeit mit den neuen Tatsachen oder Beweismitteln oder den vorgeschlagenen Änderungen vertraut zu machen:
– kann sich auch erst in der mündlichen Verhandlung herausstellen, dass der anhängige Antrag, mit dem die Einspruchsgründe ausgeräumt werden sollten, nach dem EPÜ nicht gewährbar ist. Der Einsprechende muss sich stets darauf einstellen, Gegenstände zu erörtern, die auf abhängigen Ansprüchen in der erteilten Fassung beruhen, sofern sich deren Zahl in vertretbaren Grenzen hält;
– steht es dem Patentinhaber grundsätzlich frei, früher eingereichte Änderungen zurückzunehmen und das Patent in seiner erteilten Fassung zu verteidigen, solange dies nicht einem Verfahrensmissbrauch gleichkommt.