3.9 Auf computerimplementierte Erfindungen gerichtete Ansprüche
Ein häufiger Typ computerimplementierter Erfindungen betrifft Gegenstände, bei denen sämtliche Verfahrensschritte vollständig durch Computerprogrammbefehle auf Mitteln ausgeführt werden können, die im Kontext der Erfindung allgemeine Funktionen der Datenverarbeitung erfüllen. Solche Mittel können beispielsweise in einem PC, einem Smartphone oder einem Drucker integriert sein. Zwar sind bei solchen Erfindungen unterschiedliche Anspruchsstrukturen möglich, doch beginnt der Anspruchssatz in der Regel mit einem Verfahrensanspruch. Daneben können weitere Ansprüche anderer Kategorien mit einem dem Verfahren entsprechenden Gegenstand aufgenommen werden, damit der umfassende Schutz der Erfindung gewährleistet ist. Betrifft die Erfindung Software, die in einen Speicher geladen, über ein Netzwerk übertragen oder auf einem Datenträger verbreitet werden kann, so kann es neben einem Anspruch auf ein computerimplementiertes Verfahren auch einen Anspruch auf ein Computerprogramm[produkt] geben. Ein Anspruch auf ein Computerprogramm[produkt] unterscheidet sich in der Anspruchskategorie von demjenigen auf ein entsprechendes computerimplementiertes Verfahren (T 424/03 und G 3/08). Die nachstehende nicht erschöpfende Liste enthält Beispiele für zulässige Anspruchsformulierungen (T 410/96, T 1173/97 und T 2140/08) in einem solchen Anspruchssatz:
i)Verfahrensanspruch (Anspruch 1)
– Computerimplementiertes Verfahren, umfassend die Schritte A, B, ...
– Von einem Computer ausgeführtes Verfahren, umfassend die Schritte A, B, ...
ii)Vorrichtungs-/Systemanspruch (Anspruch 2)
– Vorrichtung/System zur Datenverarbeitung, umfassend Mittel zur Ausführung [der Schritte] des Verfahrens nach Anspruch 1.
– Vorrichtung/System zur Datenverarbeitung, umfassend Mittel zur Ausführung von Schritt A, Mittel zur Ausführung von Schritt B, ...
– Vorrichtung/System zur Datenverarbeitung, umfassend einen Prozessor, der so angepasst/konfiguriert ist, dass er das Verfahren/die Schritte des Verfahrens nach Anspruch 1 ausführt.
iii)Anspruch auf ein Computerprogramm[produkt] (Anspruch 3)
– Computerprogramm[produkt], umfassend Befehle, die bei der Ausführung des Programms durch einen Computer diesen veranlassen, das Verfahren/die Schritte des Verfahrens nach Anspruch 1 auszuführen.
– Computerprogramm[produkt], umfassend Befehle, die bei der Ausführung des Programms durch einen Computer diesen veranlassen, die Schritte A, B, ... auszuführen.
iv)Anspruch auf ein computerlesbares (Speicher)medium/einen computerlesbaren Datenträger (Anspruch 4)
– Computerlesbares (Speicher)medium, umfassend Befehle, die bei der Ausführung durch einen Computer diesen veranlassen, das Verfahren/die Schritte des Verfahrens nach Anspruch 1 auszuführen.
– Computerlesbares (Speicher)medium, umfassend Befehle, die bei der Ausführung durch einen Computer diesen veranlassen, die Schritte A, B, ... auszuführen.
– Computerlesbarer Datenträger, auf dem das Computerprogramm[produkt] nach Anspruch 3 gespeichert ist.
– Datenträgersignal, das das Computerprogramm[produkt] nach Anspruch 3 überträgt.
In der oben genannten Formulierung ii) werden Vorrichtungsmerkmale des Typs "Mittel für eine Funktion" ("Mittel zur ...") als Mittel verstanden, die nicht nur für die Durchführung der relevanten Schritte/Funktionen geeignet sind, sondern vielmehr eigens dafür konzipiert wurden (T 410/96). Es gibt keine Präferenz für eine bestimmte der möglichen Formulierungen wie "umfassend Mittel zu", "so angepasst, dass" oder "so konfiguriert, dass". Diese Formulierungen verleihen dem Anspruchsgegenstand Neuheit gegenüber einer unprogrammierten oder anders programmierten Datenverarbeitungsvorrichtung.
Enthält der Anspruchssatz je einen Anspruch gemäß jeder der oben genannten Formulierungen i) bis iv), so ist kein Einwand nach Regel 43 (2) zu erheben. In diesen Fällen wird deshalb im Recherchenstadium keine Aufforderung nach Regel 62a (1) verschickt, denn die Erfordernisse der Regel 43 (2) sind erfüllt.
Gibt es jedoch mehr als einen Anspruch mehrere unabhängige Ansprüche gemäß einer bestimmten der Formulierungen i) bis iv), die nicht unter die Ausnahmen nach Regel 43 (2) fallen (F‑IV, 3.2) (z. B. zwei oder mehr Computerprogramm[produkt]ansprüche, die nicht als unter eine der Ausnahmen nach Regel 43 (2) fallen fallend betrachtet werden können), so kann wird ein Einwand nach Regel 43 (2) erhoben werden (F‑IV, 3.2).
Bei der Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit eines wie oben formulierten Anspruchssatzes (Formulierungen i) bis iv)) beginnt die Abteilung in der Regel mit dem Verfahrensanspruch. Wird der Gegenstand des Verfahrensanspruchs für neu und erfinderisch befunden, ist in der Regel auch der Gegenstand der übrigen Ansprüche aus einem gemäß den genannten Formulierungen strukturierten Anspruchssatz neu und erfinderisch, sofern diese Ansprüche die Merkmale umfassen, die all jenen entsprechen, die die Patentierbarkeit des Verfahrens gewährleisten.
Auf computerimplementierte Erfindungen gerichtete Ansprüche, die anders formuliert sind als gemäß den unter i) bis iv) genannten Formulierungen, werden in Bezug auf die Erfordernisse der Klarheit, der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit fallweise bewertet (siehe auch F‑IV, 3.9.2).
Wird die Erfindung beispielsweise in einer verteilten Computerumgebung verwirklicht oder umfasst sie miteinander in Beziehung stehende Erzeugnisse, so kann es notwendig sein, auf die spezifischen Merkmale der verschiedenen Gegenstände Bezug zu nehmen und ihre Wechselwirkung zu definieren, um das Vorliegen aller wesentlichen Merkmale sicherzustellen, anstatt – wie in den oben genannten Formulierungen ii) bis iv) – bloß auf einen anderen Anspruch zu verweisen. In solchen Fällen können auch weitere unabhängige Ansprüche auf miteinander in Beziehung stehende Erzeugnisse und die entsprechenden Verfahren nach Regel 43 (2) a) gewährbar sein (F‑IV, 3.2 und F-IV, 3.9.3).
Ist eine Nutzerinteraktion erforderlich, so kann ein Einwand nach Art. 84 erhoben werden, wenn aus dem Anspruch nicht erkennbar ist, welche Schritte der Nutzer ausführt.
Abgesehen von den Formulierungen i) bis iv) kann ein Anspruch auf eine computerimplementierte Datenstruktur auch dann nach Regel 43 (2) gewährbar sein, wenn diese durch ihre eigenen technischen Merkmale definiert wird, z. B. durch eine genau definierte Struktur wie in T 858/02, möglicherweise mit Bezugnahmen auf das entsprechende Verfahren oder System ihrer Verwendung. Eine computerimplementierte Datenstruktur umfasst allerdings nicht zwingend Merkmale des Prozesses, durch den sie erzeugt wird. Sie ist auch nicht zwingend durch das Verfahren beschränkt, in dem sie verwendet wird. Deshalb kann ein Anspruch auf eine computerimplementierte Datenstruktur in der Regel nicht durch eine bloße Bezugnahme auf ein Verfahren oder als Ergebnis eines Prozesses definiert werden. Zu Datenstrukturen siehe auch G‑II, 3.6.3.
Zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit bei Ansprüchen, die Merkmale bezüglich Ausnahmen nach Art. 52 (2) aufweisen, was bei computerimplementierten Erfindungen häufig der Fall ist, siehe G‑VII, 5.4.