1. Beweisaufnahme durch die Organe des EPA
Der Beteiligte bzw. die Beteiligten können in anhängigen Verfahren jederzeit Beweismittel zur Stützung behaupteter Tatsachen vorlegen (siehe E‑III, 5, E‑X, 1.2, D‑IV, 5.3 und D-IV, 5.4 sowie D‑VI, 3). Dies muss möglichst frühzeitig geschehen. Wenn solche Beweismittel in einem früheren Verfahrensstand hätten eingereicht werden können, hat das zuständige Organ zu entscheiden, ob die Einführung der neuen Beweismittel verfahrensfördernd ist (siehe E‑VI, 2).
Im Allgemeinen ist es angebracht, dass die Parteien Beweismittel zur Unterstützung aller für den Fall relevanten angeblichen Tatsachen einreichen, um z. B. aufzuzeigen, ob eine bestimmte Technik in der Industrie allgemein bekannt war oder ob ein Vorurteil gegen eine bestimmte Technik bestand.
Von einem Beteiligten geltend gemachte Tatsachen sind jedoch in aller Regel auch ohne Vorlage von Beweismitteln dann als richtig zu unterstellen, wenn über sie kein Zweifel besteht, sie in sich nicht widersprüchlich sind oder kein Widerspruch erhoben wird. In diesem Falle brauchen die Tatsachen nicht durch Beweismittel erhärtet zu werden.
Insbesondere im Einspruchsverfahren werden jedoch Fälle eintreten, in denen das Vorbringen des oder der Beteiligten bewiesen werden muss. Dies wird z. B. dann der Fall sein, wenn ein Stand der Technik, etwa in Gestalt einer mündlichen Beschreibung, einer Benutzung oder auch einer Firmendruckschrift, geltend gemacht wird und Zweifel darüber bestehen, ob oder wann er der Öffentlichkeit zugänglich geworden ist.
Die in Verfahren vor dem EPA zulässigen Beweismittel sind (nicht erschöpfend) in Art. 117 (1) aufgeführt:
– Vorlegung von Unterlagen
– Vernehmung der Beteiligten
– Vernehmung von Zeugen
– Abgabe einer schriftlichen Erklärung unter Eid
– Einholung von Auskünften, z. B. bei einem Verlag über den Veröffentlichungstag eines Buchs
– Begutachtung durch Sachverständige (siehe E‑IV, 1.8.1)
– Einnahme des Augenscheins
Wie der Beweis im Einzelfall am zweckmäßigsten geführt wird, hängt von dem zu beweisenden Sachverhalt und der Verfügbarkeit der Beweismittel ab. Zum Nachweis einer Vorbenutzung im Einspruchsverfahren bietet der Einsprechende in der Regel als Beweismittel die Vorlage von Unterlagen und die Vernehmung von Zeugen und Beteiligten an, oder er legt schriftliche Erklärungen unter Eid vor. Die Würdigung dieser Beweismittel liegt im Ermessen der Einspruchsabteilung; feste Regeln, wie die einzelnen Beweiskategorien zu beurteilen sind, gibt es nicht (zur Würdigung von Beweismitteln siehe E‑IV, 4).
Wenn die vorgelegten Unterlagen (z. B. Patentdokumente) keinen Zweifel über ihren Inhalt und den Zeitpunkt lassen, zu dem sie der Öffentlichkeit zugänglich waren, und für das Streitpatent relevanter sind als andere angebotene Beweismittel, kann die Einspruchsabteilung aus Gründen der Verfahrensökonomie die anderen Beweismittel zunächst unberücksichtigt lassen.
Wird die Aussage eines Zeugen angeboten, so kann die Einspruchsabteilung dessen Vernehmung beschließen, um den Sachverhalt nachzuprüfen, für den dieser Zeuge benannt wird, z. B. die Vorbenutzung des beanspruchten Erzeugnisses in einem Betrieb oder das Bestehen einer Geheimhaltungsverpflichtung. Zum Zweck der ausreichenden Substanziierung muss dieser Sachverhalt klar aus dem Einspruch hervorgehen, da Zeugen die Tatsachenbehauptungen erhärten, nicht aber anstelle des Einsprechenden vortragen sollen. Dasselbe gilt auch für die Vernehmung der Beteiligten (siehe auch E‑IV, 1.6).
Die in Art. 117 (1) g) genannte "Abgabe einer schriftlichen Erklärung unter Eid" existiert in manchen nationalen Rechtssystemen nicht. An ihre Stelle tritt dann das entsprechende Instrument in dem jeweiligen nationalen System (siehe T 558/95).
Ob eine schriftliche Erklärung unter Eid abgegeben wird, ist nur eines von mehreren Kriterien, die die Einspruchsabteilung bei der Würdigung der beigebrachten Beweismittel anwendet. Abgesehen von ihrer Relevanz für den Fall sind sonstige Kriterien das Verhältnis zwischen der Person, die die Erklärung abgibt, und den Verfahrensbeteiligten, das persönliche Interesse dieser Person, der Zusammenhang, in dem die Erklärung abgegeben wurde usw. Eine solche Erklärung geht nicht über ihren wörtlichen Inhalt hinaus und erlaubt der Einspruchsabteilung keine Beurteilung der Faktoren, die damit zusammenhängen oder dazu den Hintergrund bilden. Werden die Tatsachenbehauptungen von der Gegenseite bestritten, so legt die Einspruchsabteilung ihrer Entscheidung in der Regel eine solche Erklärung nicht zugrunde, sondern lädt die Person, die die Erklärung abgibt, als Zeugen, wenn der Beteiligte dies anbietet. Bei der folgenden Zeugenvernehmung können die Einspruchsabteilung und die Beteiligten dem Zeugen Fragen stellen, und so kann die Einspruchsabteilung den Sachverhalt auf der Grundlage der Aussage dieser Person ermitteln. Wird diese Person nicht als Zeuge angeboten, so berücksichtigt die Einspruchsabteilung diese Beweismittel nicht weiter.
Die Einnahme des Augenscheins dient der unmittelbaren Sinneswahrnehmung von der betreffenden Sache oder dem betreffenden Vorgang. Sie kann z. B. in einer Vorführung eines Erzeugnisses oder Verfahrens bestehen, die ein Anmelder oder Patentinhaber zum Beweis der von der Prüfungs- oder Einspruchsabteilung bestrittenen Funktionsweise des Gegenstands des Patents beantragt hat.
Normalerweise verbleiben in Form von Unterlagen eingereichte Beweismittel in der Akte. Nur in Ausnahmefällen und auf begründeten Antrag hin können als Beweismittel eingereichte Unterlagen außer Acht gelassen und zurückgegeben werden, so z. B. wenn die Unterlagen unter Verletzung einer Vertraulichkeitsvereinbarung eingereicht wurden, es sich um Aussagen Dritter handelt und die übrigen Beteiligten den Antrag billigten (siehe T 760/89).