5. Ausschlüsse und Ausnahmen in Bezug auf biotechnologische Erfindungen
Für biotechnologische Erfindungen wurde in Regel 28 die nachstehende Liste mit Ausnahmen von der Patentierbarkeit nach Art. 53 a) und Art. 53 b) festgelegt. Die nicht erschöpfende Aufzählung in Art. 53 a) dient der Veranschaulichung und soll die Begriffe der "öffentlichen Ordnung" und der "guten Sitten" auf diesem Gebiet der Technik konkretisieren. Eine mögliche sittenwidrige Verwendung ist nur zu berücksichtigen, wenn sie in der Anmeldung spezifisch in Erwägung gezogen oder zumindest nahegelegt wird und somit als erklärte Verwendung gelten kann (G‑II, 4.1 und T 866/01).
Nach Regel 28 (2) sind Pflanzen oder Tiere, die ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen werden, vom Patentschutz ausgeschlossen. Dieses Patentierungsverbot von Pflanzen und Tieren, die ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen werden, gilt für Patentanmeldungen mit einem Anmeldetag und/oder einem Prioritätstag nach dem 1. Juli 2017. Es gilt nicht für Patente, die vor diesem Datum erteilt wurden, oder für anhängige Patentanmeldungen mit einem Anmeldetag und/oder einem Prioritätstag vor dem 1. Juli 2017 (siehe G 3/19, ABl. EPA 2020, A119).
Nach Art. 53 a) in Verbindung mit Regel 28 (1) werden europäische Patente insbesondere nicht erteilt für biotechnologische Erfindungen, die zum Gegenstand haben:
i)Verfahren zum Klonen von Menschen
Für die Zwecke dieser Ausnahme ist als Verfahren zum Klonen von Menschen jedes Verfahren, einschließlich der Verfahren zur Embryonenspaltung, anzusehen, das darauf abzielt, einen Menschen zu schaffen, der im Zellkern dieselbe Erbinformation wie ein anderer lebender oder verstorbener Mensch besitzt (EU-Richtlinie 98/44/EG, Ewg. 41).
iii)Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken
Ein Anspruch auf ein Erzeugnis, das am Anmeldetag ausschließlich durch ein Verfahren hergestellt werden konnte, das zwangsläufig mit der Zerstörung der menschlichen Embryonen einhergeht, aus denen das Erzeugnis gewonnen wird, ist sogar dann nach Regel 28 (1) c) von der Patentierbarkeit ausgeschlossen, wenn dieses Verfahren nicht Teil des Anspruchs ist (siehe G 2/06). Wann die Zerstörung stattfindet, ist unerheblich (T 2221/10).
Somit ist bei der Prüfung von Gegenständen, die sich auf menschliche embryonale Stammzellen beziehen, nach Art. 53 a) und Regel 28 (1) c) Folgendes zu berücksichtigen:
a)die gesamte Lehre der Anmeldung, nicht nur die Anspruchskategorie und der Wortlaut, und
b)die einschlägige Offenbarung in der Beschreibung, um festzustellen, ob Erzeugnisse wie Stammzellkulturen ausschließlich durch die mit der Zerstörung einhergehende Verwendung eines menschlichen Embryos hergestellt werden oder nicht. Zu diesem Zweck ist die Offenbarung in der Beschreibung vor dem Hintergrund des Stands der Technik am Anmeldetag zu betrachten.
Eine Anmeldung, die pluripotente menschliche Stammzellen einschließlich menschlicher embryonaler Stammzellen, die Verwendung dieser Stammzellen oder davon abgeleitete Erzeugnisse betrifft, fällt nicht unter das Patentierungsverbot nach Art. 53 a) und Regel 28 (1) c) (T 385/14), wenn i) das wirksame Datum der Anmeldung (d. h. ein gültiger Prioritätstag oder, wenn keine Priorität beansprucht wurde oder die Priorität nicht gültig ist, ein Anmeldetag) am oder nach dem 5. Juni 2003 liegt und ii) ihre technische Lehre unter Verwendung von menschlichen embryonalen Stammzellen umgesetzt werden kann, die aus parthenogenetisch aktivierten menschlichen Eizellen gewonnen wurden. In solchen Fällen müssen alle Offenbarungen, Ausführungsformen, Beispiele usw., die die Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen umfassen, die nach Art. 53 a) von der Patentierbarkeit ausgeschlossen sind, aus der Beschreibung gestrichen werden oder es muss eindeutig darauf hingewiesen werden, dass sie nicht Teil der beanspruchten Erfindung sind (z. B. durch die Verwendung der Formulierung "menschliche embryonale Bezugsstammzelle") (siehe F‑IV, 4.3).
Fetale und postnatale menschliche Zellen sind grundsätzlich nicht von der Patentierbarkeit ausgeschlossen.
Nährmedien, Träger und Vorrichtungen, die zur Verwendung bei menschlichen embryonalen Stammzellen "geeignet" sind oder sogar für diesen Zweck "besonders entwickelt" wurden, sind nicht per se von der Patentierbarkeit ausgeschlossen. Für ihre Herstellung ist die Verwendung von menschlichen Embryonen als Ausgangsmaterial in der Regel nicht erforderlich.
Der Ausschluss der Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken von der Patentierbarkeit gilt nicht für Erfindungen, die therapeutische oder diagnostische Zwecke verfolgen und auf den menschlichen Embryo zu dessen Nutzen angewandt werden (EU-Richtlinie 98/44/EG, Ewg. 42).
iv)Verfahren zur Veränderung der genetischen Identität von Tieren, die geeignet sind, Leiden dieser Tiere ohne wesentlichen medizinischen Nutzen für den Menschen oder das Tier zu verursachen, sowie die mithilfe solcher Verfahren erzeugten Tiere
Ein Anspruch, der auf genetisch veränderte Tiere oder auf Verfahren zur genetischen Veränderung von Tieren gerichtet ist, muss die Erfordernisse von Regel 28 (1) d) und Art. 53 a) erfüllen (siehe T 315/03 und T 19/90).
Bei der Prüfung, ob die Erfordernisse der Regel 28 (1) d) erfüllt sind, ist Folgendes festzustellen:
a)dass sich der betreffende Gegenstand auf ein Verfahren zur Veränderung der genetischen Identität von Tieren oder auf die mithilfe dieses Verfahrens erzeugten Tiere bezieht,
b)die Wahrscheinlichkeit eines Leidens der Tiere,
c)die Wahrscheinlichkeit eines wesentlichen medizinischen Nutzens und
d)die erforderliche Korrelation zwischen Leiden und wesentlichem medizinischen Nutzen in Bezug auf die beanspruchten Tiere.
Der Beweismaßstab, der für das Leiden der Tiere und den wesentlichen medizinischen Nutzen anzulegen ist, ist die Wahrscheinlichkeit. Die Korrelation ist gemäß dem Konzept des Abwägens der Wahrscheinlichkeit zu ermitteln (E‑IV, 4.3)
In Bezug auf Art. 53 a) wird eine sorgfältige Abwägung der Leiden der Tiere und einer möglichen Gefährdung der Umwelt einerseits gegen den Nutzen der Erfindung für die Menschheit andererseits insoweit stattfinden, als diese beiden Aspekte durch Beweismittel gestützt werden (siehe T 19/90 und T 315/03).
Der oben angeführte wesentliche medizinische Nutzen umfasst jeglichen Nutzen im Bereich der Forschung, der Vorbeugung, der Diagnose oder der Therapie (EU-Richtlinie 98/44/EG, Ewg. 45).
Vorstehendes ist auf den gesamten Schutzumfang des Anspruchs anzuwenden.
Was Anmeldungen betrifft, die sich auf nicht genetisch veränderte Tiere beziehen, so gilt in allen Fällen, in denen Tiere leiden oder eine mögliche Gefährdung der Umwelt besteht, dass die Bestimmungen des Art. 53 a) unter Berücksichtigung des Nutzens der Erfindung für die Menschheit zu beurteilen sind (T 1553/15).
Außerdem können der menschliche Körper in den einzelnen Phasen seiner Entstehung und Entwicklung sowie die bloße Entdeckung eines seiner Bestandteile, einschließlich der Sequenz oder Teilsequenz eines Gens, keine patentierbaren Erfindungen darstellen (siehe aber G‑II, 5.2). Diese Phasen der Entstehung und Entwicklung des menschlichen Körpers schließen auch die Keimzellen ein (EU-Richtlinie 98/44/EG, Ewg. 16).
Eine Parthenote ist weder ein menschlicher Körper in einer Phase seiner Entstehung und Entwicklung noch einer seiner Bestandteile (d. h. eine menschliche Keimzelle); Parthenoten oder davon abgeleitete Zellen sind daher nicht grundsätzlich nach Regel 29 (1) von der Patentierbarkeit ausgeschlossen.
Von der Patentierbarkeit auszunehmen sind nach Art. 53 a) Verfahren zur Herstellung von Chimären aus Keimzellen oder totipotenten Zellen von Menschen oder Tieren (EU-Richtlinie 98/44/EG, Ewg. 38).