6.1 Erste oder weitere medizinische Verwendung bekannter Erzeugnisse
Die Behandlung einer Krankheit mit einem Stoff oder Stoffgemisch, dessen Verwendung zur Behandlung dieser Krankheit bereits bekannt ist, stellt, wenn sie sich von der bekannten Behandlung nur durch eine Dosierungsanleitung unterscheidet, eine spezifische weitere medizinische Anwendung im Sinne des Art. 54 (5) dar (siehe G 2/08). Therapeutische Anwendungen eines Stoffs/Stoffgemischs können daher nicht nur auf der Behandlung einer anderen Krankheit beruhen, sondern auch auf der Behandlung derselben Krankheit mit einem anderen therapeutischen Verfahren, das sich zum Beispiel in der Dosierung und/oder Verabreichungsweise, der Gruppe behandelter Individuen oder der Art/dem Weg der Verabreichung unterscheidet (G 2/08).
Ein Anspruch, der auf die weitere therapeutische Anwendung eines Stoffs/Stoffgemischs gerichtet ist, muss die zu behandelnde Krankheit angeben, die Art des hierfür verwendeten therapeutischen Mittels und, sofern dies für die Begründung von Neuheit und erfinderischer Tätigkeit relevant ist, das zu behandelnde Individuum. Betrifft die weitere therapeutische Anwendung eine andere Therapie derselben Krankheit mithilfe desselben Stoffs/Stoffgemischs, muss der Anspruch auch alle technischen Merkmale der Therapie definieren, die die gewünschte technische Wirkung erzeugen (G 2/08).
Ein unabhängiger Anspruch, der auf eine weitere therapeutische Anwendung eines Stoffs/Stoffgemischs gerichtet ist und auf der Verwendung dieses Erzeugnisses bei der Behandlung einer anderen Krankheit beruht, ist wie folgt zu formulieren:
Stoff X |
zur Anwendung |
in einem Verfahren für die Behandlung von Y oder |
Der Begriff "zur Anwendung" ist obligatorisch, damit sich die Formulierung eng an den Wortlaut des Art. 54 (5) anlehnt.
Ist der unabhängige Anspruch auf ein Stoffgemisch gerichtet, kann die Definition des Stoffgemischs vor oder nach dem Begriff "zur Anwendung" eingefügt werden. Beispiel: "X enthaltendes Stoffgemisch zur Anwendung bei der Therapie von Y" oder "Stoffgemisch zur Anwendung bei der Therapie von Y, das X enthält".
Wenn die weitere therapeutische Anwendung auf der Verwendung desselben Erzeugnisses bei einer anderen Behandlung derselben Krankheit beruht, ist der unabhängige Anspruch wie folgt zu formulieren:
Stoff X zur Anwendung |
in einem Verfahren für die Behandlung von Y oder |
dadurch gekennzeichnet, dass/wobei |
Weitere Merkmale (z. B. der Stoff/das Stoffgemisch topisch dreimal täglich verabreicht wird …) |
Zweckgebundene Stoffansprüche, die nicht ausschließlich eine nach Art. 53 c) von der Patentierbarkeit ausgenommene medizinische Verwendung definieren (siehe Anspruch 4 in der nachstehenden Tabelle), werden so ausgelegt, dass sie auf ein für die beanspruchte Verwendung geeignetes Erzeugnis als solches gerichtet sind.
Die nachstehende Tabelle zeigt Beispiele für Ansprüche, die keine weitere medizinische Verwendung im Sinne des Art. 53 c) definieren, …
… denn … |
||
1. Stoff X oder X enthaltendes Stoffgemisch |
in einem/für ein Verfahren zur Behandlung von Y oder |
ohne den Begriff "zur Anwendung" ist nicht erkennbar, ob der Anspruch auf das für die genannte Verwendung geeignete Erzeugnis gerichtet ist oder ob er durch die medizinische Verwendung beschränkt wird. |
2. Den Stoff X enthaltendes (entzündungshemmendes) Arzneimittel oder Pharmazeutikum oder X enthaltendes Stoffgemisch |
für die topische Behandlung |
der Anspruch enthält weder ein Indiz für eine therapeutische Funktion noch für eine therapeutische Anwendung des beanspruchten Erzeugnisses. Zudem ist ohne den Begriff "zur Anwendung" nicht erkennbar, ob der Anspruch auf das für die genannte Verwendung geeignete Erzeugnis gerichtet ist oder ob er durch die medizinische Verwendung beschränkt wird. |
3. Stoff X oder |
als entzündungshemmendes |
ohne den Begriff "zur Anwendung" ist nicht erkennbar, ob der Anspruch auf das für die genannte Verwendung geeignete Erzeugnis gerichtet ist oder ob er durch die medizinische Verwendung beschränkt wird. |
4. Stoff X oder |
zur Verwendung als antimykotischer/ |
der Anspruch definiert keine spezifische medizinische Verwendung des beanspruchten Erzeugnisses. Er umfasst nicht medizinische Verwendungen, weil antimykotische/antibakterielle Wirkstoffe z. B. auch in der Landwirtschaft zur Behandlung von Pflanzen verwendet werden. |
Wenn der Stand der Technik entweder das Erzeugnis als solches in einer Form offenbart, die für die beanspruchte Verwendung geeignet erscheint, oder eine erste medizinische Anwendung dieses Erzeugnisses, dann sind die Ansprüche 1 - 4 nicht neu. Der Neuheitseinwand könnte ausgeräumt werden, indem der Anspruch wie oben (erste Tabelle) beschrieben umformuliert wird.
Diese Änderungen können von der Prüfungsabteilung in der Mitteilung gemäß Regel 71 (3) vorgeschlagen werden, ohne dass der Anmelder zuvor konsultiert werden muss (siehe C‑V, 1.1 f)).
In den folgenden Beispielen würden die Ansprüche nicht als neu betrachtet:
Beispiel 1
X enthaltendes Stoffgemisch zur Verwendung durch topische Behandlung/
Anwendung
Im Stand der Technik ist bereits ein X enthaltendes Stoffgemisch bekannt.
Gründe für den Einwand: Da der Anspruch keine spezifische therapeutische Indikation für X nennt, ist das Merkmal "topische Behandlung/
Anwendung" de facto rein illustrativ und schränkt den Schutzumfang des Anspruchs nicht ein.
Ferner bezieht sich der Begriff "topische Behandlung/Anwendung" nicht zwingend auf eine Anwendung in einem Verfahren nach Art. 53 c), sondern könnte sich auch auf eine kosmetische Behandlung beziehen. Der Gegenstand des beanspruchten Stoffgemischs wäre folglich durch das im Stand der Technik bereits bekannte X enthaltende Stoffgemisch vorweggenommen.
Beispiel 2
X enthaltendes Stoffgemisch zur therapeutischen Verwendung durch topische Verabreichung
Im Stand der Technik ist bereits ein X enthaltendes Stoffgemisch für eine medizinische Anwendung bekannt.
Gründe für den Einwand: Die Art der Verabreichung kann ein kritischer Faktor der medizinischen Behandlung sein und als einschränkendes Merkmal angesehen werden, jedoch nur im Zusammenhang mit einer weiteren (spezifischen) medizinischen Indikation (T 51/93). "Topische Verabreichung" definiert nur die Verabreichungsart, nicht aber irgendeine dadurch erzielte therapeutische Wirkung. Da der Anspruch keine spezifische therapeutische Indikation nennt, ist das Merkmal "durch topische Verabreichung" rein illustrativ und kein beschränkendes technisches Merkmal, das dem Anspruch Neuheit verleihen kann. Der Gegenstand des beanspruchten Stoffgemischs wäre folglich durch das X enthaltende Stoffgemisch vorweggenommen, das im Stand der Technik bereits für eine medizinische Verwendung bekannt ist.
Beispiel 3
Erzeugnis X zur Verwendung in einem Verfahren zur Empfängnisverhütung
Gründe für den Einwand: Der Anspruch wäre nicht neu gegenüber der Offenbarung des Erzeugnisses X an sich, weil Schwangerschaft keine Krankheit ist. Ein solcher Anspruch kann in der Regel als Verfahren zur Empfängnisverhütung unter Verwendung des Erzeugnisses X neu formuliert werden. Eine Neuformulierung kann insofern ausgeschlossen sein, als das Verhütungsverfahren eine persönliche, private Verwendung umfasst und somit nicht dem Erfordernis der gewerblichen Anwendbarkeit entspricht (T 74/93).