1. Prioritätsrecht
"Mehrere Prioritäten können in Anspruch genommen werden", d. h. für eine europäische Anmeldung können Prioritätsrechte in Anspruch genommen werden, die auf mehr als einer früheren Anmeldung basieren (G 2/98).
Der Begriff "Teilpriorität" bezieht sich auf den Fall, in dem nur einem Teil des von einem generischen "ODER"-Anspruch umfassten Gegenstands der Prioritätstag einer früheren Anmeldung zusteht (G 1/15).
Die frühere Anmeldung kann in demselben oder mit Wirkung für denselben Staat oder dasselbe Mitglied der WTO oder aber in verschiedenen oder mit Wirkung für verschiedene Staaten oder Mitglieder der WTO eingereicht worden sein, doch darf die früheste Anmeldung in jedem Fall nicht früher als 12 Monate vor dem Anmeldetag der europäischen Anmeldung eingereicht worden sein. Der Gegenstand einer europäischen Anmeldung erhält den Prioritätstag der frühesten prioritätsbegründenden Anmeldung, in der er offenbart ist.
Werden zum Beispiel in der europäischen Anmeldung zwei Ausführungsformen (A und B) einer Erfindung beschrieben und beansprucht, wobei A in einer französischen Anmeldung und B in einer deutschen Anmeldung offenbart worden ist und beide Anmeldungen innerhalb der vorausgegangenen 12 Monate eingereicht worden sind, so können sowohl der Prioritätstag der französischen Anmeldung als auch der der deutschen Anmeldung für die entsprechenden Teile der europäischen Anmeldung in Anspruch genommen werden; die Ausführungsform A erhält den französischen und die Ausführungsform B den deutschen Prioritätstag als wirksames Datum. Werden die Ausführungsformen A und B als Alternativen in einem einzigen Patentanspruch beansprucht, so erhalten diese Alternativen gleichermaßen die verschiedenen Prioritätstage als wirksames Datum.
Basiert dagegen eine europäische Anmeldung auf einer früheren Anmeldung, die ein Merkmal C offenbart, und auf einer zweiten früheren Anmeldung, die ein Merkmal D offenbart, von denen aber keine die Kombination von C und D offenbart, so kann für diese Kombination lediglich der Anmeldetag der europäischen Patentanmeldung selbst beansprucht werden. Mit anderen Worten, es ist nicht zulässig, Prioritätsunterlagen "mosaikartig" zusammenzufassen. Ein Ausnahmefall könnte vorliegen, wenn in einer Prioritätsunterlage auf eine andere verwiesen und ausdrücklich angegeben wird, dass Merkmale aus den beiden Unterlagen auf eine bestimmte Art und Weise kombiniert werden können.
Nach G 1/15 kann das Recht auf Teilpriorität für einen Anspruch, der aufgrund eines oder mehrerer generischer Ausdrücke oder anderweitig alternative Gegenstände umfasst (generischer "ODER"-Anspruch) nicht verweigert werden, sofern diese alternativen Gegenstände im Prioritätsdokument erstmals, direkt – oder zumindest implizit –, eindeutig und ausführbar offenbart sind. Andere materiellrechtliche Bedingungen oder Einschränkungen finden in diesem Zusammenhang keine Anwendung.
Bei der Prüfung, ob einem Gegenstand innerhalb eines generischen "ODER"-Anspruchs eine Teilpriorität zukommt, ist zunächst der im Prioritätsdokument offenbarte relevante Gegenstand zu bestimmen, d. h. der in Bezug auf den im Prioritätsintervall offenbarten Stand der Technik relevante Gegenstand. Dafür werden der in der Schlussfolgerung der Stellungnahme G 2/98 formulierte Offenbarungstest sowie die vom Anmelder bzw. Patentinhaber zur Stützung seines Prioritätsanspruchs vorgebrachten Erläuterungen herangezogen, um festzustellen, was der Fachmann dem Prioritätsdokument hätte entnehmen können. Im nächsten Schritt wird geprüft, ob dieser Gegenstand von dem Anspruch der Anmeldung bzw. des Patents umfasst wird, für den die Priorität in Anspruch genommen wird. Lautet die Antwort ja, wird der Anspruch de facto konzeptionell in zwei Teile geteilt: der erste Teil entspricht der Erfindung, die im Prioritätsdokument unmittelbar und eindeutig offenbart worden ist, der zweite dem verbleibenden Teil des späteren generischen "ODER"-Anspruchs, dem diese Priorität nicht zusteht, der aber selbst ein Prioritätsrecht nach Art. 88 (3) EPÜ begründet.
Ist z. B. in der Prioritätsunterlage die Verwendung einer speziellen Zusammensetzung offenbart, während in der Anmeldung die Verwendung einer allgemeiner definierten Zusammensetzung beansprucht wird, so wird festgestellt, dass der Anspruch zwei alternative Gruppen von Gegenständen umfasst, auch wenn diese darin nicht eigens genannt sind:
– Alternative a betreffend die Verwendung einer speziellen Zusammensetzung (z. B. Kalziumsalz der Säure als Wirkstoff und tribasisches Phosphatsalz mit mehrwertigem Kation) und
– Alternative b betreffend die Verwendung einer allgemeiner definierten Zusammensetzung (z. B. die Säure oder ein geeignetes Salz der Säure als Wirkstoff und ein anorganisches Salz mit mehrwertigem Kation, wobei der Wirkstoff und das anorganische Salz nicht das Kalziumsalz der Säure und ein tribasisches Phosphatsalz in Kombination sind).
Alternative a ist der im Prioritätsdokument offenbarte Gegenstand, der als solcher im Anspruch nicht definiert, aber von diesem umfasst war. Alternative b ist der übrige Gegenstand des Anspruchs, der im Prioritätsdokument nicht offenbart war. In diesem Fall kommt dem Gegenstand der Alternative a die Priorität zu, dem der Alternative b jedoch nicht.
Die Grundsätze der Entscheidung G 1/15 finden auch bei der Feststellung Anwendung, ob eine Anmeldung, deren Priorität beansprucht wird, die erste Anmeldung im Sinne von Art. 87 (1) EPÜ ist. Genauso wie eine Prioritätsanmeldung und ein Patent, das die Priorität dieser Anmeldung beansprucht, teilweise dieselbe Erfindung betreffen können, können sich auch die Prioritätsanmeldung und eine vom selben Anmelder eingereichte frühere Anmeldung auf dieselbe Erfindung beziehen. In diesem Fall wäre die Prioritätsanmeldung nur in Bezug auf denjenigen Teil der Erfindung, der nicht derselbe ist wie in der früheren Anmeldung, die erste Anmeldung (T 282/12).
Teilprioritätsrechte können auch gesondert übertragbar sein (T 969/14). Dies hat jedoch Folgen für das verbleibende Prioritätsrecht, weil dem Übertragenden nur ein eingeschränktes Recht verbleibt und er das Teilprioritätsrecht nicht mehr beanspruchen kann (ein Anmelder kann nur ein Recht in Anspruch nehmen, dessen Inhaber er ist). Mit der Übertragungsvereinbarung für die Teilpriorität erhalten der bisherige und der neue Rechtsinhaber jeweils ein Teilprioritätsrecht entsprechend zwei eindeutig unterschiedenen und genau definierten Alternativen.