2. Festlegung der Prioritätstage
Die grundlegende Prüfung, ob einem Patentanspruch der Prioritätstag einer Prioritätsunterlage zukommt, ist – was das Erfordernis "derselben Erfindung" angeht (siehe F‑VI, 1.3 iv)) – identisch mit der Prüfung, ob eine Änderung einer Anmeldung das Erfordernis des Art. 123 (2) erfüllt (siehe H‑IV, 2). Dies bedeutet, dass der beanspruchte Prioritätstag in dieser Hinsicht nur gültig ist, wenn der Gegenstand des Patentanspruchs unmittelbar und eindeutig aus der Offenbarung der Erfindung in der Prioritätsunterlage herleitbar ist, wobei auch Merkmale in Betracht zu ziehen sind, die in der Unterlage zwar nicht ausdrücklich genannt, aber für den Fachmann vom Inhalt mit erfasst sind (siehe G 2/98). Zum Beispiel kann einem Patentanspruch für ein Gerät mit "lösbarer Verschlussvorrichtung" der Prioritätstag einer Offenbarung dieses Geräts zukommen, die verschiedene Ausführungen von Verschlussmechanismen wie Mutter und Schraube, Schnappverschluss oder Klinkenverschluss zeigt.
Zur Festlegung eines Prioritätstags ist es nicht notwendig, dass der Gegenstand der Erfindung, für die die Priorität in Anspruch genommen wird, in einem Patentanspruch der früheren Anmeldung enthalten ist. Es reicht aus, wenn die Gesamtheit der Anmeldungsunterlagen der früheren Anmeldung diesen Gegenstand "deutlich offenbart". Die Beschreibung und die Patentansprüche oder Zeichnungen der früheren Anmeldung sind daher bei der Entscheidung dieser Frage als eine Gesamtheit anzusehen; nicht zu berücksichtigen sind allerdings Gegenstände, die lediglich in dem sich auf den Stand der Technik beziehenden Teil der Beschreibung oder in einem Disclaimer enthalten sind.
Das Erfordernis, dass die Offenbarung deutlich sein muss, bedeutet, dass es nicht ausreicht, wenn lediglich in groben Zügen und ganz allgemein auf den betreffenden Gegenstand Bezug genommen wird. Für einen Patentanspruch auf eine detaillierte Ausführungsform eines bestimmten Merkmals könnte aufgrund einer bloßen allgemeinen Bezugnahme auf dieses Merkmal in einer Prioritätsunterlage keine Priorität beansprucht werden. Eine exakte wörtliche Übereinstimmung ist jedoch nicht erforderlich. Es genügt, wenn sich bei einer angemessenen Beurteilung zeigt, dass tatsächlich derselbe Gegenstand des Patentanspruchs offenbart wurde.
Durch einen nach Art. 123 (2) zulässigen Disclaimer (siehe H‑V, 4.2.1 und H-V, 4.2.2) wird die Identität der Erfindung im Hinblick auf Art. 87 (1) nicht geändert. Daher könnte ein solcher Disclaimer bei der Abfassung und Einreichung einer europäischen Folgeanmeldung aufgenommen werden, ohne dass dadurch das Prioritätsrecht aus der früheren Anmeldung berührt wird, die den Disclaimer nicht enthält (siehe G 1/03, G 2/03 und G 2/10).