3. Beurteilung der Einheitlichkeit
Overview
Die Beurteilung der Einheitlichkeit der Erfindung dient dazu festzustellen, ob die Anspruchsgegenstände irgendetwas gemeinsam haben, das eine einzige allgemeine erfinderische Idee darstellt (Art. 82). Enthält einer der Ansprüche eine oder mehrere Alternativen, so wird jede der Alternativen bei der Prüfung auf Einheitlichkeit als ein einzelner Anspruch betrachtet.
Für eine materiellrechtliche Beurteilung der Einheitlichkeit der Erfindung
i)muss – im Lichte der Anmeldung als Ganzes – der gegebenenfalls vorhandene gemeinsame Gegenstand der Ansprüche bestimmt werden, die auf die verschiedenen beanspruchten Erfindungen gerichtet sind, welche der Prüfer eingangs identifiziert (siehe F‑V, 2.2, F‑V, 3.2 und F-V, 3.4),
ii)muss der gemeinsame Gegenstand mit dem "verfügbaren Stand der Technik" verglichen werden, um zu prüfen, ob der gemeinsame Gegenstand einen Beitrag zu diesem Stand der Technik leistet, d. h. ob er "besondere technische Merkmale" im Sinne der Regel 44 (1) umfasst,
iii)müssen, falls der gemeinsame Gegenstand keine besonderen technischen Merkmale umfasst, die übrigen technischen Merkmale analysiert werden, die nicht Teil des ermittelten gemeinsamen Gegenstands sind, um festzustellen, ob es einen verbindenden technischen Zusammenhang zwischen bestimmten Ansprüchen gibt.
Mangelnde Einheitlichkeit kann z. B. zwischen den abhängigen Ansprüchen bestehen, wenn der ihnen zugrunde liegende unabhängige Anspruch keine Merkmale umfasst, die einen Beitrag zum verfügbaren Stand der Technik leisten. In diesem Fall böte der unabhängige Anspruch nämlich nicht den in Regel 44 (1) geforderten verbindenden technischen Zusammenhang zwischen den abhängigen Ansprüchen, weil er keine "besonderen technischen Merkmale" umfasst.
(i) Bestimmung des gemeinsamen Gegenstands
Unter einem gemeinsamen Gegenstand ist eine potenzielle einzige allgemeine erfinderische Idee der Ansprüche zu verstehen. Er kann sich in Merkmalen ausdrücken, die gleich oder entsprechend sind (siehe F‑V, 2), d. h. in Merkmalen, die entweder miteinander identisch sind oder die – alleine oder in Kombination – eine gemeinsame technische Wirkung haben oder eine Lösung für eine gemeinsame technische Aufgabe bereitstellen.
Die technische Aufgabe bei der Beurteilung der Einheitlichkeit kann sich von der technischen Aufgabe bei einer Beurteilung der Patentierbarkeit unterscheiden, weil das übergeordnete Ziel darin besteht herauszufinden, was die Ansprüche gemeinsam haben.
Wird die technische Aufgabe für die Zwecke der Beurteilung der Einheitlichkeit analysiert, so ist der Ausgangspunkt gewöhnlich das, was der Anmelder in der Beschreibung als das Erreichte angibt. Dafür muss er die Erfindung so darstellen, dass die technische Aufgabe und deren Lösung verstanden werden können, und muss gegebenenfalls vorteilhafte Wirkungen der Erfindung unter Bezugnahme auf den bisherigen Stand der Technik angeben (Regel 42 (1) c)). Diese technische Aufgabe definiert a priori den gemeinsamen Gegenstand der Ansprüche.
Die Abteilung braucht sich jedoch bei der Beurteilung der Einheitlichkeit der Erfindung nicht nur auf die allgemeine Vorstellung davon zu beschränken, was der Anmelder subjektiv als seine Erfindung beansprucht (G 1/89 und G 2/89).
Die vom Anmelder in der Beschreibung angegebene technische Aufgabe kann sich bei näherer Betrachtung als ungeeignetes Mittel dafür erweisen, die Anspruchsgegenstände so miteinander zu verbinden, dass sie ein einziges allgemeines erfinderisches Konzept bilden. Dies kann der Fall sein, wenn sich entweder angesichts der Angaben in der Beschreibung und des allgemeinen Fachwissens erweist, dass einzelne Ansprüche verschiedene Aufgaben lösen (Einheitlichkeitsprüfung a priori), oder wenn ein im Rahmen der Recherche ermittelter Stand der Technik eine vom Anmelder in der Beschreibung angegebene Lösung der verbindenden technischen Aufgabe offenbart oder naheliegend macht (Nichteinheitlichkeit a posteriori). Im zweiten Fall bildet die vom Anmelder genannte technische Aufgabe möglicherweise nicht mehr die in Art. 82 verlangte einzige allgemeine erfinderische Idee, weil sie nicht als erfinderisch gelten kann.
So offenbart z. B. ein Dokument aus dem Stand der Technik nach Art. 54 (2), das alle Merkmale eines unabhängigen Anspruchs enthält, –zumindest implizit – auch die vom Anmelder genannte technische Aufgabe, denn die Merkmale des unabhängigen Anspruchs müssen diese Aufgabe per definitionem lösen.
Die Abteilung analysiert dann, ob den Ansprüchen ein anderer Gegenstand gemeinsam ist, d. h. sie ermittelt im Lichte der Anmeldung als Ganzes etwaige technische Merkmale der Ansprüche, die gleich sind oder einander entsprechen. Bei der Beurteilung, ob technische Merkmale einander entsprechen, ist es wichtig, dass die gelösten technischen Aufgaben, die mit den technischen Wirkungen assoziiert werden, weder zu eng noch zu allgemein formuliert werden. Werden sie zu eng formuliert, obwohl sie auch allgemeiner hätten formuliert werden können, so haben sie möglicherweise nichts gemeinsam, was zu dem falschen Schluss führen könnte, dass die technischen Merkmale einander nicht entsprechen. Werden sie zu allgemein formuliert, obwohl sie auch enger hätten formuliert werden können, so sind möglicherweise die gemeinsamen Aspekte der Aufgabe bekannt, was ebenfalls zu dem falschen Schluss führen könnte, dass mangelnde Einheitlichkeit vorliegt.
Beispielsweise könnten eine Membran und ein Diaphragma die technische Wirkung der "Gewährleistung einer Federwirkung" erzielen und somit einander entsprechende Merkmale sein.
Ein gemeinsamer Gegenstand kann nicht nur in den Merkmalen von Ansprüchen derselben Kategorie enthalten sein, sondern auch in den Merkmalen von Ansprüchen unterschiedlicher Kategorien. Im Fall eines Erzeugnisses, eines speziell angepassten Verfahrens zur Herstellung des Erzeugnisses und der Verwendung des Erzeugnisses kann beispielsweise das Erzeugnis der gemeinsame Gegenstand sein, der bei der Verwendung und beim Verfahren als Wirkung oder Ergebnis des Verfahrens vorhanden ist.
Ein gemeinsamer Gegenstand kann auch in Merkmalen miteinander in Beziehung stehender Erzeugnisse enthalten sein (z. B. Stecker und Steckdose). Auch wenn entsprechende Merkmale in miteinander in Beziehung stehenden Erzeugnissen relativ unterschiedlich formuliert sein können, können sie trotzdem Teil eines gemeinsamen Gegenstands sein, wenn sie im Rahmen ihrer Interaktion zur selben technischen Wirkung oder zur Lösung derselben technischen Aufgabe beitragen.
Es kann auch Fälle geben, in denen sich kein gemeinsamer Gegenstand ermitteln lässt. In einem solchen Fall ist die Anmeldung uneinheitlich, weil kein technischer Zusammenhang im Sinne der Regel 44 (1) zwischen den unabhängigen Ansprüchen besteht und die Anmeldung keine einzige allgemeine erfinderische Idee im Sinne des Art. 82 verwirklicht.
(ii) Vergleich des gemeinsamen Gegenstands mit dem verfügbaren Stand der Technik
Wird in den Ansprüchen ein gemeinsamer Gegenstand ermittelt, d. h. ein Gegenstand, der gleiche oder entsprechende technische Merkmale umfasst, muss dieser mit dem verfügbaren Stand der Technik verglichen werden. Definiert der gemeinsame Gegenstand einen nicht naheliegenden Beitrag zum Stand der Technik, so umfasst er besondere technische Merkmale und die betreffenden Erfindungen hängen so zusammen, dass sie eine einzige allgemeine erfinderische Idee verwirklichen. Ist dagegen der gemeinsame Gegenstand aus dem verfügbaren Stand der Technik bekannt oder wird durch diesen nahegelegt, so ist die Anmeldung nicht einheitlich. Diese Prüfung sollte auf der Grundlage einer Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit gegenüber dem verfügbaren Stand der Technik erfolgen. Das Naheliegen ist gegebenenfalls anhand des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes zu beurteilen.
Der gemeinsame Gegenstand kann Merkmale umfassen, die technische Alternativen definieren. Ist die gemeinsame, durch diese technischen Alternativen zu erzielende technische Wirkung schon bekannt, als allgemein wünschenswert anerkannt (bloßes Desideratum) oder naheliegend, so können diese alternativen Merkmale keinen technischen Zusammenhang im Sinne der Regel 44 (1) definieren, weil kein erfinderischer Gehalt in der Formulierung der Aufgabe liegt.
Der verfügbare Stand der Technik, d. h. der zur Beurteilung der Einheitlichkeit herangezogene Stand der Technik, kann je nach Verfahrensstadium ein anderer sein. Wird die Beurteilung beispielsweise vor der Recherche vorgenommen ("Einheitlichkeitsprüfung a priori"), kann der einzige verfügbare Stand der Technik in dem vom Anmelder in der Beschreibung angegebenen Stand der Technik und dem allgemeinen Fachwissen bestehen. Während der Recherche wird möglicherweise ein anderer Stand der Technik ermittelt und bildet dann den verfügbaren Stand der Technik für die "Einheitlichkeitsprüfung a posteriori". Der verfügbare Stand der Technik kann sich also im Laufe des Verfahrens ändern, weswegen die Einheitlichkeitsprüfung iterativ ist.
(iii) Analyse der übrigen technischen Merkmale
Führt der unter Schritt ii) beschriebene Vergleich des gemeinsamen Gegenstands zu einer Feststellung mangelnder Einheitlichkeit, so müssen in einem nächsten Schritt die in den Ansprüchen vorhandenen Gruppen verschiedener Erfindungen bestätigt oder präzisiert werden (siehe F‑V, 3.2).
Zur Bestimmung dieser Gruppen von Erfindungen müssen die übrigen technischen Merkmale, die nicht Teil des ermittelten gemeinsamen Gegenstands sind, analysiert werden. In den meisten Fällen wird jede der Gruppen mehrere Ansprüche umfassen. Die Gruppierung erfolgt auf der Grundlage der technischen Aufgaben, die den übrigen technischen Merkmalen jedes einzelnen Anspruchs zugrunde liegen. Dabei werden Ansprüche, die sich auf übrige technische Merkmale beziehen, die ein und dieselbe technische Aufgabe lösen, jeweils einer Gruppe zugeordnet. Wenn allerdings die technische Aufgabe im Stand der Technik erfolgreich gelöst worden ist, können Ansprüche, die sich auf dieselbe technische Aufgabe beziehen, verschiedenen Gruppen zugeordnet werden (siehe F‑V, 3.3.1 iii) c)).
Die den Ansprüchen zugrunde liegenden technischen Aufgaben müssen mit Sorgfalt formuliert werden. Unter Umständen genügt es nicht, die übrigen technischen Merkmale jedes Anspruchs einzeln zu analysieren, sondern es muss ihre Wirkung im Kontext des jeweiligen Anspruchs als Ganzem und unter Berücksichtigung der Beschreibung analysiert werden. Vermieden werden sollte eine sehr enge Formulierung der technischen Aufgaben der verschiedenen Erfindungen im Rahmen einer Einheitlichkeitsprüfung, da diese ja darauf abzielt zu prüfen, ob sich Gemeinsamkeiten zwischen den Erfindungen feststellen lassen. Daher ist es häufig erforderlich, die den einzelnen Ansprüchen zugrunde liegenden sehr spezifischen technischen Aufgaben zu einer allgemeineren Aufgabe umzuformulieren, wobei stets der Kontext zu beachten ist, in dem die relevanten Merkmale offenbart sind.
Bei der Gruppierung ist es irrelevant, ob der Gegenstand der Ansprüche oder ihrer übrigen technischen Merkmale gegenüber dem verfügbaren Stand der Technik neu oder erfinderisch ist. Relevant ist die Gruppierung jedoch für die Entscheidung, ob der Anmelder aufgefordert wird, eine zusätzliche Recherchengebühr für eine Gruppe zu entrichten (siehe F‑V, 4).
Sind die den verschiedenen Gruppen zugrunde liegenden Aufgaben aus dem verfügbaren Stand der Technik bekannt oder unterscheiden sie sich voneinander, so bestätigt dies die Feststellung der mangelnden Einheitlichkeit aus Schritt ii).