Kapitel III – Ausreichende Offenbarung
Auf bestimmten technischen Gebieten (z. B. Biotechnologie, Pharmazie) können Fälle auftreten, in denen
i)der Beitrag zum Stand der Technik allein darin besteht, dass eines der folgenden Moleküle und seine jeweilige Verwendung in einem Screening-Verfahren definiert werden,
– ein Polypeptid,
– ein Protein,
– ein Rezeptor,
– ein Enzym usw., oder
ii)ein neuartiger Wirkungsmechanismus eines solchen Moleküls definiert wird.
Es kann vorkommen, dass solche Anmeldungen sogenannte "Durchgriffsansprüche" enthalten, d. h. Ansprüche, die auf eine chemische Verbindung (bzw. deren Verwendung) gerichtet sind, die nur funktionell durch die technische Wirkung auf eines der vorstehend genannten Moleküle definiert ist.
Typische Beispiele für solche Ansprüche können folgendermaßen lauten: "Agonist/Antagonist von Polypeptid X [optional: wie durch das Screening-Verfahren nach Anspruch A identifiziert]"; "Agonist/Antagonist von Polypeptid X [optional: wie durch das Screening-Verfahren nach Anspruch A identifiziert] zur therapeutischen Verwendung"; "Agonist/Antagonist von Polypeptid X [optional: wie durch das Screening-Verfahren nach Anspruch A identifiziert] zur Verwendung bei der Behandlung der Krankheit Y", wobei aus der Beschreibung hervorgeht, dass das Polypeptid X bei der Krankheit Y eine Rolle spielt.
Nach Art. 83 und Regel 42 (1) c) muss der Anspruch eine ausreichende technische Offenbarung der Lösung zu der jeweiligen Aufgabe enthalten. Die funktionelle Definition einer chemischen Verbindung (Durchgriffsanspruch) umfasst alle Verbindungen, die die im Anspruch genannte Aktivität oder Wirkung aufweisen. Es wäre ein unzumutbarer Aufwand, alle potenziellen Verbindungen (z. B. Agonisten bzw. Antagonisten) ohne irgendeinen effektiven Hinweis auf ihre Identität zu isolieren und zu charakterisieren (siehe F‑III, 1) oder jeden bekannten und jeden erdenklichen künftigen Stoff auf diese Aktivität zu testen, um zu ermitteln, ob er unter den Schutzumfang des Anspruchs fällt. De facto versucht der Anmelder etwas patentieren zu lassen, das noch gar nicht erfunden ist, und die Tatsache, dass er die Wirkung austesten kann, anhand deren die Stoffe definiert werden, bedeutet noch lange nicht, dass der Anspruch ausreichend offenbart ist; tatsächlich handelt es sich dabei um eine Aufforderung an den Fachmann zur Durchführung eines Forschungsprogramms (siehe T 435/91, Nr. 2.2.1 der Entscheidungsgründe, gefolgt von T 1063/06, Leitsatz II).
Ein Anspruch auf lediglich aufgabenhaft definierte chemische Verbindungen, die (z. B. unter Anwendung eines neuen Screening-Verfahrens auf der Basis eines neu entdeckten Moleküls oder eines neuartigen Wirkungsmechanismus) mit einem neuartigen Forschungswerkzeug aufgefunden werden sollen, ist generell auf zukünftige Erfindungen gerichtet, für die Patentschutz nach dem EPÜ nicht bestimmt ist. Bei solchen Durchgriffsansprüchen ist es nicht nur zumutbar, sondern geboten, den Anspruchsgegenstand auf den tatsächlichen Beitrag zum Stand der Technik zu beschränken (siehe T 1063/06, Leitsatz I).