4. Verspätetes Vorbringen
T 2734/16 × View decision
1. Eine neue Angriffslinie auf die erfinderische Tätigkeit, die als Reaktion und unter Verwendung der von der Patentinhaberin mit der Einspruchserwiderung eingereichten Dokumente verfolgt wird, ist nicht per se als verspätet anzusehen. Sie kann aus Gründen der Waffengleichheit in das Einspruchsverfahren zugelassen werden, auch wenn die Dokumente im Ergebnis nicht relevanter als andere Dokumente sind (Siehe Punkt 1.4.1).
2. Das späte Einreichen von zufällig bekannt gewordenen Entgegenhaltungen ist nicht schon allein deswegen zulässig, weil sie in der japanischen Sprache verfasst sind und deren Auffindbarkeit deswegen unter Umständen erschwert gewesen sein mag. Dies gilt umso mehr, wenn dem Einreichenden die Bedeutung japanischer Unternehmen auf dem fraglichen technischen Gebiet bekannt war und deshalb Veranlassung zu rechtzeitigen umfassenden Recherchen bestand (Siehe Punkt 1.4.2).
T 1551/14 × View decision
Legitime Reaktionen auf die Änderung der Verfahrenslage (hier: Einreichung einer eidesstattlichen Erklärung nach Einreichung eines neuen Hilfsantrags) sind grundsätzlich zuzulassen. Der Einwand, dass sie zum bisherigen Vortrag im Widerspruch stehen, kann eine Nichtzulassung in der Regel nicht rechtfertigen (siehe Punkt 3.2 der Gründe). Zurückverweisung mit der Auflage, die Zeugeneinvernahme fortzusetzen, ggf. unter Eid vor einem nationalen Gericht (siehe Punkte 8.5 und 9 der Gründe).
In T 2734/16 stellte die Kammer fest, dass eine neue Angriffslinie auf die erfinderische Tätigkeit, die als Reaktion und unter Verwendung der vom Patentinhaber mit der Einspruchserwiderung eingereichten Dokumente verfolgt wird, nicht per se als verspätet anzusehen ist. Sie kann aus Gründen der Waffengleichheit in das Einspruchsverfahren zugelassen werden, auch wenn die Dokumente im Ergebnis nicht relevanter als andere Dokumente sind. Im vorliegenden Fall hatte der Patentinhaber geltend gemacht, dass Großfräsen, von denen die mit der Einspruchserwiderung eingereichten Dokumente Beispiele darstellen sollten, den nächstliegenden Stand der Technik bildeten. Ausgehend hiervon war dem Beschwerdeführer im Rahmen der Waffengleichheit zuzugestehen, die ihm erst durch von der Gegenseite neu eingereichte Dokumente zur Kenntnis gebrachten Tatsachen in seinem eigenen Sinne aufzugreifen und zu einem Gegenangriff mit einer neuen Angriffslinie gegen die erfinderische Tätigkeit zu verwenden. Da dieser Gegenangriff erst möglich geworden war, nachdem der Beschwerdegegner diese Dokumente zu seiner Verteidigung eingereicht hatte, erschien es der Kammer bei Abwägung aller Umstände nicht sachgerecht, die Zulassung der neuen Angriffslinie unter dem Gesichtspunkt der Verspätung und der mangelnden Relevanz der Dokumente, auf die sie gestützt war, abzulehnen. Siehe auch Kapitel V.A.6.4 "Verfahrensstand – Verfahrensökonomie – VOBK 2007".
In T 1551/14 wurde das Verfahren vor der Einspruchsabteilung nach der Einvernahme von vier Zeugen in einer ersten mündlichen Verhandlung schriftlich fortgesetzt. Der Patentinhaber reichte einen neuen Hilfsantrag ein, in dem der Gegenstand der beiden unabhängigen Ansprüche durch ein neues Merkmal eingeschränkt wurde. Nach Ladung zur zweiten mündlichen Verhandlung reichte der Einsprechende innerhalb des nach R. 116 EPÜ vorgegebenen Zeitraums eine eidesstattliche Erklärung eines der vernommenen Zeugen ein und bot eine ergänzende Zeugeneinvernahme an. Die Einspruchsabteilung entschied, das Zeugenangebot nicht wahrzunehmen und die eidesstattliche Versicherung nicht zum Verfahren zuzulassen. Die Kammer sah jedoch in der eidesstattlichen Erklärung, die Fragen behandelte, die erst mit der Einreichung des Hilfsantrages relevant geworden waren, eine direkte und fristgerechte Reaktion des Beschwerdeführers (Einsprechenden), die daher nicht als verspätet gelten konnte. Sie befand, dass die Einspruchsabteilung mit ihrer Entscheidung, das Dokument nicht zuzulassen, obwohl der Hilfsantrag zugelassen wurde, dem Beschwerdeführer das ihm zustehende rechtliche Gehör verweigert und somit einen Verfahrensfehler begangen hatte. Die Bedenken des Beschwerdeführers, dass die Erklärung im Widerspruch zum bisherigen Vortrag stehe, teilte die Kammer nicht. Jedenfalls könne aber ein Vorliegen solcher Widersprüche nicht rechtfertigen, die Zulassung eines Vortrags, der eine legitime Reaktion auf eine Änderung des Vortrags der Gegenpartei darstellt, von vornherein zu verweigern. Die Kammer stellte aber auch fest, dass mehrere der Aussagen in der eidesstattlichen Erklärung sehr genau dem Wortlaut des neuen Hilfsantrags entsprachen. Wegen der Bedeutung der vom Zeugen genannten Punkte für die Patentfähigkeit und weil diese Punkte nur durch die eidesstattliche Versicherung gestützt seien, sei die Frage der Glaubwürdigkeit des Zeugen entscheidend. Die Frage lasse sich nur durch eine erneute Einvernahme des Zeugen klären, gegebenenfalls unter Eid vor einem nationalen Gericht (R. 119 und 120 (2) EPÜ). Die Kammer verwies die Angelegenheit daher an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung mit der Auflage, die Beweisaufnahme mit dem betreffenden Zeugen fortzusetzen.
4.3. Begriff der "Verspätung"
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Der Ermessensspielraum nach Art. 114 (2) EPÜ bezieht sich auf verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel (s. z. B. T 502/98, T 986/08, T 66/14). Der Begriff der Verspätung, wie in Art. 114 (2) EPÜ aufgeführt, ist auslegungsbedürftig.
Insbesondere die Parteien im mehrseitigen Verfahren trifft eine Pflicht zur sorgfältigen und beförderlichen Verfahrensführung. Dazu gehört es, alle relevanten Tatsachen, Beweismittel, Argumente und Anträge so früh und so vollständig wie möglich vorzulegen. Dieses Prinzip findet Ausdruck in den Vorschriften des EPÜ, die die Behandlung von verspätetem Vorbringen regeln: generell Art. 114 (2) EPÜ, im Erteilungsverfahren R. 137 EPÜ, im Einspruchsverfahren R. 76 (2) c) EPÜ und R. 80 EPÜ; R. 116 (1) EPÜ regelt den Zeitpunkt, bis zu dem Schriftsätze zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung eingereicht werden können (zum Beschwerdeverfahren s. die Verfahrensordnung der Beschwerdekammern, s. nachstehendes Kapitel V.A.1.2.).
Die Beschwerdekammern betonen, dass es grundsätzlich notwendig ist, dass der Einsprechende alle Einwände während der Einspruchsfrist vorbringt und ausführlich und vollständig darlegt (T 117/86, ABl. 1989, 401). Nach R. 76 (2) c) EPÜ muss die Einspruchsschrift eine Erklärung darüber enthalten, in welchem Umfang gegen das europäische Patent Einspruch eingelegt und auf welche Einspruchsgründe der Einspruch gestützt wird, sowie die Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel.
Ungeachtet der obigen Ausführungen gilt die "fristgerechte" Einreichung gemäß der Rechtsprechung der Beschwerdekammern nicht nur für die Tatsachen und Beweismittel, die der Einsprechende innerhalb der neunmonatigen Einspruchsfrist vorbringt, und diejenigen, die der Patentinhaber möglicherweise in seiner Stellungnahme zu den Einspruchsgründen innerhalb der hierfür vorgesehenen Frist von vier Monaten anführt. Auch das Vorbringen von Tatsachen und Beweismitteln innerhalb der nachfolgenden Zeiträume kann "fristgerecht" sein, wenn es in Einklang mit dem Grundsatz der Verfahrensökonomie geschieht, wenn also die vorbringende Partei in angemessenem Maße die im Verfahren gebotene Sorgfalt hat walten lassen (T 502/98 unter Verweis auf T 201/92, T 238/92, T 532/95 und T 389/95; s. auch z. B. T 574/02).
Die Vorlage neuer Tatsachen und Beweismittel würde demnach als fristgerecht gelten, wenn die Einreichung durch ein Argument oder einen von einem anderen Beteiligten angesprochenen Punkt oder durch die angefochtene Entscheidung veranlasst wurde, sodass unter diesen Umständen die neuen Tatsachen, Dokumente und/oder Beweismittel nicht früher vorgebracht werden konnten. Laut T 502/98 kann dies z. B. der Fall sein, wenn bestimmte Tatsachen oder Beweismittel erst relevant werden, nachdem ein Beteiligter unvorhersehbare Änderungen in den Ansprüchen oder neue Versuchsdaten eingereicht hat oder erstmalig das Vorhandensein eines einschlägigen allgemeinen Fachwissens bestreitet. In solchen Fällen ist ein sorgfältiger Beteiligter in der Regel nicht verpflichtet, entsprechende Tatsachen und Beweismittel schon vor einer derartigen Handlung des anderen Beteiligten zu suchen und vorzubringen (z. B. in T 986/08 angeführt). S. auch T 623/93, wo die Kammer befand, dass es bei geänderten Ansprüchen, die im Einspruchsverfahren eingereicht werden, nicht zu beanstanden sei, dass der Einsprechende neue Entgegenhaltungen und neue Argumente vorbringe, die gegen die neuen Ansprüche gerichtet seien (unter Verweis auf G 9/91, ABl. 1993, 408, Nr. 19 der Gründe).
Daher wurde die Einreichung neuer Tatsachen und Beweismittel als direkte Reaktion auf neue Vorbringen des anderen Beteiligten (T 389/95, T 320/08, T 1698/08, T 1949/09) bzw. zum frühestmöglichen Zeitpunkt im Verfahren (T 468/99, T 2551/16) oder sofort, nachdem ihre Relevanz deutlich geworden ist (T 201/92, T 502/98, T 568/02, T 574/02, T 986/08), als "fristgerecht" befunden (s. auch T 156/84, ABl. 1988, 372, aber auch z. B. die Entscheidungen T 1734/08 und T 733/11, in denen Vorbringen, die außerhalb der Frist nach Art. 99 (1) EPÜ eingereicht wurden, als verspätet angesehen wurden, ohne dass berücksichtigt wurde, ob die im Verfahren gebotene Sorgfalt beachtet wurde).
In T 117/02 stellte die Kammer fest, dass rechtliches Gehör zu gewähren ist, bevor verspätetes Vorbringen (hier: ein neuer Einspruchsgrund sowie neue Argumente und Beweismittel), dessen Einführung beantragt wird, zurückgewiesen wird. Zusammenfassend ist festzustellen, dass einem Einsprechenden Gelegenheit zu einer angemessenen Erwiderung gegeben werden muss, wenn sich – etwa aufgrund einer Änderung – der dem Verfahren zugrunde liegende Sachverhalt verändert hat. Je nach Art der Änderung kann dies die Einreichung weiterer Dokumente beinhalten (T 366/11).
In T 2165/10 teilte die Kammer die Ansicht des Beschwerdegegners, dass der Beschwerdeführer (Einsprechende) die später vorgebrachte angebliche offenkundige Vorbenutzung in seiner Einspruchsschrift hätte erwähnen und alle sich damals in seinem Besitz befindlichen Beweismittel hätte nennen/vorlegen müssen. Das Argument des Beschwerdeführers, dass die Dokumente, über die er zum Zeitpunkt der Einspruchseinlegung verfügte, seiner Auffassung nach für eine lückenlose Beweiskette nicht ausreichten, akzeptierte sie nicht.
In T 628/14 erinnerte die Kammer daran, dass R. 116 (1) EPÜ gemäß der ständigen Rechtsprechung nicht als Aufforderung zur Einreichung neuer Beweismittel oder sonstiger Unterlagen ausgelegt werden dürfe, die vom rechtlichen und faktischen Rahmen der Fragen und Begründungen abweichen, wie sie mit der Einspruchsschrift vorgebracht wurden. Auch die Tatsache, dass die Einspruchsabteilung in ihrem Bescheid eine vorläufige Meinung geäußert hatte, rechtfertige nicht notwendigerweise das Einreichen neuer Beweismittel, sofern dies nicht als Reaktion auf neue, im Bescheid erhobene Einwände erfolge.
In T 66/14 wies die Kammer darauf hin, dass nach der Rechtsprechung der Kammern Beweismittel, die vom Einsprechenden erst nach Ablauf der Neunmonatsfrist nach Art. 99 (1) EPÜ vorgebracht werden, grundsätzlich als verspätet im Sinne von Art. 114 (2) EPÜ angesehen werden. Der Wortlaut von R. 116 (1) Satz 4 EPÜ ist dabei nicht so zu verstehen, dass mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung eine neue Frist in Gang gesetzt werde, innerhalb der neue Beweismittel eingereicht werden könnten, welche dann nicht als "verspätet" im Sinne von Art. 114 (2) EPÜ zu werten seien (T 841/08). In besonderen Fällen können aber Gründe vorliegen, die das Vorbringen von Beweismitteln seitens des Einsprechenden erst nach dem Ablauf der Neunmonatsfrist nach Art. 99 (1) EPÜ rechtfertigen, sodass diese nicht als verspätet im Sinne von Art. 114 (2) EPÜ anzusehen sind (T 532/95). Insbesondere sind neue Beweismittel, die nach dem Zeitpunkt gemäß R. 116 (1) EPÜ eingereicht werden, zum Verfahren zuzulassen, wenn eine Änderung des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts vorliegt.
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