2.6. Änderungen nach Regel 137 (3) EPÜ
2.6.1 Ermessen der Prüfungsabteilung nach Regel 137 (3) EPÜ
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Nach Art. 123 (1) EPÜ kann die europäische Patentanmeldung oder das europäische Patent im Verfahren vor dem EPA nach Maßgabe der Ausführungsordnung geändert werden. R. 137 (3) EPÜ ist diesbezüglich besonders relevant.
R. 137(3) EPÜ zufolge können weitere Änderungen nur mit Zustimmung der Prüfungsabteilung vorgenommen werden. So darf der Anmelder Änderungen nur noch mit Zustimmung des Prüfers vornehmen. Diese Vorschrift stellt die Zulassung von Änderungen in das Ermessen der Prüfungsabteilung, um sicherzustellen, dass das Prüfungsverfahren in möglichst wenigen Arbeitsgängen zum Abschluss gebracht wird (Richtlinien, C‑IV, 3; H‑II, 2.3 – Stand November 2018). Bei der Ausübung ihres Ermessens muss die Prüfungsabteilung allen rechtserheblichen Faktoren Rechnung tragen; sie muss insbesondere das Interesse des Anmelders an einem rechtsbeständigen Patent und das seitens des EPA bestehende Interesse, das Prüfungsverfahren (gemäß den in G 7/93 aufgestellten Grundsätzen) effizient zum Abschluss zu bringen, gegeneinander abwägen. Außerdem hat die Prüfungsabteilung die Ausübung ihres Ermessens nach R. 137 (3) EPÜ zu begründen.
Bei der Erteilung oder Versagung ihrer Zustimmung hat die Prüfungsabteilung ihr Ermessen pflichtgemäß und im Einklang mit den in G 7/93 (ABl 1994, 775) entwickelten Grundsätzen auszuüben, die zwar im Hinblick auf Änderungen im Vorfeld der Patenterteilung aufgestellt wurden, aber gleichwohl allgemeingültig sind. Die Große Beschwerdekammer hat betont, dass eine Prüfungsabteilung bei der Ausübung ihres Ermessens nach R. 86 (3) EPÜ 1973 (jetzt R. 137 (3) EPÜ) allen im jeweiligen Fall rechtserheblichen Faktoren Rechnung tragen muss. Sie muss insbesondere das Interesse des Anmelders an einem in allen benannten Staaten rechtsbeständigen Patent wie auch das seitens des EPA bestehende Interesse, das Prüfungsverfahren durch Erlass eines Erteilungsbeschlusses zum Abschluss zu bringen, berücksichtigen und gegeneinander abwägen (T 1982/07). Über die Art und Weise, in der die Prüfungsabteilung ein derartiges Ermessen ausgeübt hat, sollte eine Beschwerdekammer sich nur hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die Prüfungsabteilung ihr Ermessen nicht nach Maßgabe der richtigen Kriterien oder in unangemessener Weise ausgeübt hat und damit das ihr eingeräumte Ermessen überschritten hat (s. T 237/96 mit besonderem Verweis auf G 7/93, ABl. 1994, 775; T 182/88, ABl. 1990, 287; s. auch T 937/09, T 1214/09, T 918/14).
In T 1074/10 stellte die Kammer fest, dass das Konvergenzkriterium (d. h. ob die jeweiligen Anspruchsfassungen konvergieren oder divergieren) von den Beschwerdekammern akzeptiert und auch selbst angewandt wurde (s. z. B. T 240/04, T 1685/07, T 1969/08). R. 86 (3) EPÜ 1973 – und entsprechend R. 137 (3) EPÜ – lässt völlig offen, wie die Prüfungsabteilung ihr Ermessen ausüben sollte und insbesondere definiert die Regel weder ein Konvergenzkriterium noch ein Kriterium, das prima facie auf die Erfüllung der Erfordernisse des EPÜ abstellt. Die Kammer war der Auffassung, dass die "Divergenz" eines Antrags gegenüber früheren Anträgen in dem Sinne, dass sich der streitige Sachverhalt entscheidend ändert, möglicherweise dem Interesse des EPA entgegensteht, das Verfahren abzuschließen. Die Kammer schloss sich deshalb der angeführten Rechtsprechung an und befand, dass die Divergenz eines Antrags ein Faktor von mehreren ist, die eine Entscheidungsinstanz bei der Ausübung ihres Ermessens nach R. 86 (3) EPÜ 1973 berücksichtigen kann. Folglich war die Entscheidung der Prüfungsabteilung, einen Antrag nicht zuzulassen, nicht falsch, nur weil dieses Kriterium angewandt wurde.
In T 996/12 erklärte die Kammer, wie die Prüfungsabteilung ihr Ermessen bei der Zulassung von Änderungen ausübt, richtet sich, allgemein gesprochen, nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls und danach, in welchem Stadium des Erteilungsverfahrens sich die Anmeldung befindet. Die Kammer stellte fest, dass die geltenden Richtlinien nicht das Konzept stützten, wonach konvergierende Anspruchssätze eine Voraussetzung für die Zulassung von Änderungen sind bzw. dass umgekehrt ein divergierender Anspruchssatz nicht akzeptabel ist. Die Prüfungsabteilung hatte in Bezug auf dieses Kriterium auf zwei Entscheidungen der Beschwerdekammern verwiesen, nämlich T 1685/07 und T 745/03. Abgesehen davon, dass diese Entscheidungen insbesondere für den Fall gelten, dass ein Patentinhaber im Einspruchsbeschwerdeverfahren neben einem Hauptantrag mehrere Hilfsanträge einreicht, legte die Kammer Wert auf die Feststellung, dass dieses Kriterium durch die Effizienz des Beschwerdeverfahrens zu rechtfertigen ist, das gerichtlichen Charakter hat, im Gegensatz zum rein administrativen Charakter des Verfahrens z. B. vor der Prüfungs- oder der Einspruchsabteilung. Laut Kammer macht diese grundsätzliche Unterscheidung eo ipso die vorbehaltlose Anwendung dieses Kriteriums durch die erste Instanz des EPA fragwürdig.
In T 573/12 stellte die Kammer fest, dass die Prüfungsabteilung, wie in G 7/93 (ABl. 1994, 775) ausgeführt, hinsichtlich der Zulassung einer Änderung allen im jeweiligen Fall rechtserheblichen Faktoren Rechnung tragen muss. Sie muss insbesondere das Interesse des Anmelders an einem Patent und das seitens des EPA bestehende Interesse, das Prüfungsverfahren zum Abschluss zu bringen, berücksichtigen und gegeneinander abwägen. Im vorliegenden Fall war der erste Bescheid der Prüfungsabteilung recht vage; die Erfindung wurde darin eher allgemein beurteilt, ohne die einzelnen Merkmale zu analysieren. Mit der später vom Beschwerdeführer eingereichten Änderung wurden den unabhängigen Ansprüchen Merkmale hinzugefügt. Nach Auffassung der Kammer erfolgte dies in redlicher Absicht. Es handelte sich außerdem um die erste Änderung, die der Zustimmung der Prüfungsabteilung bedurfte, und aus der Niederschrift ging hervor, dass die Prüfungsabteilung die hinzugefügten Merkmale besprechen konnte und dies auch tat. Den Antrag zuzulassen hätte keine übermäßige oder ungerechtfertigte Mehrarbeit bedeutet. In den Richtlinien für die Prüfung (Teil C‑VI, 4.7 – Fassung April 2010) hieß es außerdem: "Bei kleineren Änderungen sollte sich der Prüfer verständnisvoll zeigen und abwägen zwischen Fairness gegenüber dem Anmelder und der Notwendigkeit, unnötige Verzögerungen und übermäßige, ungerechtfertigte Mehrarbeit für das EPA zu vermeiden." Angesichts dieser Umstände befand die Kammer, dass die Prüfungsabteilung nicht ordnungsgemäß alle relevanten Faktoren abgewogen habe, und konnte deren Verhalten deshalb nicht billigen.
In T 937/09 stellte die Kammer fest, dass die Zulassung von Änderungen der europäischen Patentanmeldung nach dem ersten Prüfungsbescheid gemäß R. 137 (3) EPÜ, im pflichtgemäßen Ermessen der Prüfungsabteilung liegt. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass Änderungen, die der Anmelder mit der Erwiderung auf eine Mitteilung eingereicht hat, in dem ein bestimmter Mangel erstmalig substantiiert mitgeteilt worden ist, deshalb von der Prüfungsabteilung dann zugelassen werden müssen, wenn dieser Mangel bereits im ersten Bescheid hätte gerügt werden können und wenn die Änderungen einen objektiv geeigneten Versuch zur Behebung dieses Mangels darstellen.
In T 166/86 (ABl. 1987, 372) entschied die Kammer, dass nach R. 86 (3) EPÜ 1973 weitere Änderungen – und damit auch die Vorlage eines gesonderten Anspruchssatzes für einen Vertragsstaat – nur mit Zustimmung der Prüfungsabteilung vorgenommen werden könnten (s. Rechtsauskunft Nr. 4/80, ABl. 1980, 48). Die Prüfungsabteilung habe die Entscheidung über ihre Zustimmung zur beantragten Änderung nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen. Dabei habe sie insbesondere das Interesse des EPA an einer zügigen Erledigung des Verfahrens gegen das Interesse des Anmelders, ein in allen Vertragsstaaten rechtsbeständiges Patent zu erhalten, gegeneinander abzuwägen. Die Prüfungsabteilung dürfe ihre Zustimmung zu einer Änderung nicht versagen, wenn der Anmelder aus triftigen Gründen erst so spät in der Lage gewesen sei, die Änderung zu beantragen, oder wenn die beantragte Änderung für ihn ersichtlich wesentlich sei und ihre Berücksichtigung keine nennenswerte Verzögerung des Erteilungsverfahrens zur Folge habe.
In T 229/93 entschied die Kammer, im vorliegenden Fall hätte die Prüfungsabteilung eher in Erwägung ziehen sollen, ihre Zustimmung zu den Änderungen nach R. 86 (3) EPÜ 1973 zu verweigern. Die Einreichung solcher Änderungen nach Ablauf der Frist zur Erwiderung auf den ersten Bescheid der Prüfungsabteilung in Form einer kompletten Neuschrift der Beschreibung habe nämlich gegen den Grundsatz der Verfahrensökonomie verstoßen (s. T 113/92).
In T 951/97 (ABl. 1998, 440) stellte die Kammer fest, dass eine Änderung sich in einem früheren Verfahrensstadium leichter durchsetzen lasse als in einem späteren Stadium. S. auch T 76/89, T 529/94, T 937/07. In T 674/17 beispielsweise übte die Kammer ihr Ermessen aus, den neuen Hauptantrag gemäß R. 137 (3) und 100 (1) EPÜ nicht zum Verfahren zuzulassen, denn der neue Hauptantrag (der erst eingereicht wurde, nachdem die Kammer eine Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK 2007 verschickt hatte) stellte einen neuen Sachverhalt dar.
In T 2324/14 hatte die Prüfungsabteilung festgestellt, dass die gemäß Art. 84 und 83 EPÜ erhobenen Einwände durch den Hilfsantrag prima facie nicht ausgeräumt würden, und dem Hilfsantrag gemäß R. 137 (3) EPÜ nicht zugestimmt. Im EPÜ sei nicht definiert, was es genau bedeute, wenn eine Prüfungsabteilung einer Änderung gemäß R. 137 (3) EPÜ zustimme bzw. ihre Zustimmung verweigere. Die Beschwerdekammern hätten allerdings gelten lassen, dass die Prüfungsabteilung ihre Entscheidung, einer Änderung nicht zuzustimmen, auf Prima-facie-Überlegungen stützen könne und dass sie sich weigern könne, einer prima facie mängelbehafteten Änderung zuzustimmen. Allerdings habe sich die Prüfungsabteilung bei der Prüfung des Hilfsantrags nicht auf Prima-facie-Überlegungen beschränkt. Tatsächlich habe die Prüfungsabteilung den Hilfsantrag in vollem Umfang berücksichtigt, da sie ihre Schlussfolgerung, dass auf der Grundlage dieses Antrags kein Patent erteilt werden könne, begründen konnte. Nachdem die Prüfungsabteilung den Hilfsantrag also in vollem Umfang berücksichtigt habe, habe sie – so die Kammer – keinen Ermessenspielraum, ihn "nicht zuzulassen". Diese Feststellungen aus T 2324/14 wurden von der Kammer in T 2026/15 mit der Ergänzung bestätigt, dass dies einer impliziten Zulassung des Hilfsantrags durch die Prüfungsabteilung gleichkäme, die folglich dem Antrag gemäß R. 137 (3) EPÜ zugestimmt habe.
In T 1105/96 (ABl. 1998, 249) stellte die Kammer Folgendes fest: Teile eine Prüfungsabteilung, wie im vorliegenden Fall, mit, dass sie einen weiteren Antrag mit einer geänderten Fassung des Hauptanspruchs einer Anmeldung für gewährbar halte, so seien nur schwer Umstände vorstellbar, unter denen sie in rechtsfehlerfreier Ausübung ihres Ermessens die Zulässigkeit eines derartigen Antrags verneinen könne. Im vorliegenden Fall stellte die von vornherein bekundete Absicht, den Hilfsantrag zurückzuweisen, wenn der Anmelder nicht auf alle früheren Anträge verzichtete, zweifellos einen Verfahrensmissbrauch und einen Missbrauch des der Prüfungsabteilung durch R. 86 (3) EPÜ 1973 eingeräumten Ermessens dar, und damit auch einen wesentlichen Verfahrensmangel.