9.8. Chemische Erfindungen
9.8.3 Breite Ansprüche
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Nach Art. 56 EPÜ 1973 darf sich die beanspruchte Erfindung, d. h. die vorgeschlagene technische Lösung für eine bestimmte technische Aufgabe, für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergeben. Beruht die erfinderische Tätigkeit einer beanspruchten Erfindung auf einer bestimmten technischen Wirkung, so muss sich diese grundsätzlich im gesamten beanspruchten Bereich erzielen lassen (T 939/92, ABl. 1996, 309; T 694/92, ABl. 1997, 408; T 583/93, ABl. 1996, 496). Art. 69 EPÜ und das dazugehörige Protokoll liefern keine Grundlage dafür, Ausführungsformen aus einem Anspruch auszuschließen, die unter den Wortlaut des Anspruchs fallen (T 1296/13 mit Hinweis auf T 223/05).
In T 939/92 (ABl. 1996, 309) wurden zu breiten Ansprüchen im chemischen Bereich grundlegende Ausführungen gemacht. Die Beschwerdekammer führte aus, dass in dieser Sache angesichts des Stands der Technik die technische Aufgabe in der Bereitstellung weiterer chemischer Verbindungen mit herbizider Wirkung bestehe. Es sei erforderlich, dass im Wesentlichen alle beanspruchten Verbindungen diese Wirkung aufwiesen. Die Frage, ob alle unter einen solchen Anspruch fallenden chemischen Verbindungen die betreffende technische Wirkung besitzen, kann sich im Rahmen des Art. 56 EPÜ 1973 stellen, wenn sich erweist, dass der geltend gemachte erfinderische Charakter der Verbindungen allein in dieser technischen Wirkung begründet liegt. Der Verweis des Beschwerdeführers auf die in der Beschreibung enthaltenen Versuchsergebnisse, wonach einige der beanspruchten Verbindungen tatsächlich eine herbizide Wirkung aufwiesen, sah die Beschwerdekammer nicht als ausreichenden Beweis dafür an, dass im Wesentlichen alle beanspruchten Verbindungen diese Wirkung hätten. In einem solchen Fall liege die Beweislast beim Beschwerdeführer. Somit seien die Erfordernisse des Art. 56 EPÜ 1973 nicht erfüllt (T 268/00, T 1188/00, T 320/01, T 1064/01, T 924/02).
In Anlehnung an T 939/92 (ABl. 1996, 309) stellte die Kammer in T 668/94 fest, die technische Aufgabe könne bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nur dann Berücksichtigung finden, wenn sie als erfolgreich gelöst angesehen werden könne, d. h., wenn es glaubhaft sei, dass im Wesentlichen alle beanspruchten Verbindungen als Wachstumsregulatoren für Pflanzen wirkten. Wenn hingegen nur einige und nicht im Wesentlichen alle beanspruchten Verbindungen eine bestimmte technische Wirkung aufwiesen, müsse daraus gefolgert werden, dass die Erfindung – in der im unabhängigen Anspruch definierten Breite – die technische Aufgabe, diese bestimmte technische Wirkung zu erzielen, nicht löse. Daher müsse die behauptete technische Wirkung einiger der beanspruchten Verbindungen bei der Bestimmung der erfindungsgemäßen technischen Aufgabe und damit auch bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit außer Acht gelassen werden.
In T 942/98 bestand die in der Anmeldung geltend gemachte Aufgabe in der Bereitstellung verbesserter selektiver Herbizide. Die Kammer verwies auf die oben dargestellte Rechtsprechung und vermochte daher dem Vorbringen des Beschwerdeführers nicht beizutreten, es genüge im vorliegenden Fall das Aufzeigen einer Wirkungsverbesserung lediglich unmittelbar an der Schnittstelle zwischen Stand der Technik und Anmeldung, um die geltend gemachte Wirkungsverbesserung ohne weitere Angaben für die gesamte Breite des Anspruchsbegehrens uneingeschränkt zu belegen. Nach Ansicht der Kammer stellt dieser Standpunkt des Beschwerdeführers im Ergebnis die patentfähige Breite eines Anspruchs in die beliebige Disposition des Anmelders, unabhängig davon, ob für alle beanspruchten Verbindungen eine Wirkungsverbesserung tatsächlich glaubhaft ist.