4. Verspätetes Vorbringen
4.1. Ermessensentscheidung
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Gemäß Art. 114 (1) EPÜ muss das EPA den Sachverhalt von Amts wegen ermitteln; es ist dabei weder auf das Vorbringen noch auf die Anträge der Beteiligten beschränkt. In T 223/95 unterstrich die Kammer den Charakter des der Erteilung nachgeschalteten Einspruchsverfahrens im Rahmen des EPÜ. Das Einspruchsverfahren müsse grundsätzlich als streitiges Verfahren zwischen Parteien angesehen werden, die in der Regel gegenteilige Interessen verträten, die aber Anspruch auf die gleiche Behandlung hätten. Es obliege dem Einsprechenden selber, der Einspruchsabteilung Tatsachen und Beweismittel zur Begründung seines Einspruchs anzugeben.
Nach Art. 114 (2) EPÜ braucht das EPA jedoch Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten verspätet vorgebracht werden, nicht zu berücksichtigen. Bei der Auslegung von Art. 114 EPÜ stellt sich die Frage, wie die Absätze 1 und 2 in ihrem Verhältnis zueinander zu verstehen sind. In T 122/84 (ABl. 1987, 177) wird eine Zusammenfassung der historischen Entwicklung des Grundsatzes der Amtsermittlung im Hinblick auf verspätetes Vorbringen aus den vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ 1973 gegeben. Eine zur Amtsermittlung nicht in Widerspruch stehende Lösung wurde darin gesehen, dass die Berücksichtigung verspätet vorgetragener Tatsachen und Beweismittel nicht ausgeschlossen, sondern dem Ermessen des entscheidenden Organs überlassen wurde.
In Bezug auf das Beschwerdeverfahren betonten die Kammern, dass eine starre Regelung, die sämtliche neuen Beweismittel im Beschwerdeverfahren ausschließen würde, sich in einigen Fällen ungerecht und unfair auswirken könnte und mit den in den Vertragsstaaten allgemein anerkannten Verfahrensgrundsätzen nicht vereinbar wäre (J 5/11, J 6/14, T 598/13). Dies gilt umso mehr für das Einspruchsverfahren.
Bei Art. 114 (2) EPÜ handelt sich um eine Kannvorschrift, und der darin enthaltene Ermessensspielraum ist offensichtlich zu dem Zwecke eingeräumt worden, einen normalen Verfahrensablauf zu ermöglichen und taktische Missbräuche auszuschalten (T 273/84, ABl. 1986, 346).
Für das erstinstanzliche Verfahren besagt R. 116 (1) EPÜ, dass mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung ein Zeitpunkt bestimmt wird, bis zu dem Schriftsätze zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung eingereicht werden können. Nach diesem Zeitpunkt vorgebrachte neue Tatsachen und Beweismittel brauchen nicht berücksichtigt zu werden, soweit sie nicht wegen einer Änderung des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts zuzulassen sind. Diese Vorschrift stellt keine absolute Sperre für die Zulassung verspäteten Vorbringens dar; vielmehr ergibt sich schon aus dem Wortlaut, dass diese Vorschrift einen Ermessensspielraum vorsieht (T 798/05, s. auch T 2102/08, T 1253/09).