4.10. Spätes Vorbringen von neuen Argumenten und Angriffslinien
T 247/20 × View decision
Oral proceedings would serve no purpose if the parties were limited to present a mere repetition of the arguments put forward in writing. Instead, parties must be allowed to refine their arguments, even to build on them provided they stay within the framework of the arguments, and of course the evidence, submitted in a timely fashion in the written proceedings.
T 1875/15 × View decision
A board has in principle no discretion for not admitting late-filed arguments (T 1914/12 followed). However, if a late-filed objection includes new allegations of fact, the board has under Article 114(2) EPC the discretion not to admit it into the proceedings (reasons 2.1 to 2.5, 9.3 to 9.4).
J 14/19 × View decision
1.) Der Nachweis des Vorliegens der Voraussetzungen für die Aussetzung des Verfahrens nach Regel 14 (1) EPÜ muss während eines anhängigen Erteilungsverfahrens und somit vor Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung im Europäischen Patentblatt erfolgen. Beweismittel, die erst nach diesem Zeitpunkt eingereicht werden, dürfen vom Europäischen Patentamt hierfür nicht berücksichtigt werden (Nr. 4.3 der Gründe).
2.) Die Frage zu welchem Zeitpunkt ein nationales Verfahren im Sinne der Regel 14 (1) EPÜ i.V.m. Artikel 61 (1) EPÜ als eingeleitet gilt, ist nach dem Verfahrensrecht jenes Staates zu beurteilen, dessen Gerichte zum Treffen einer Entscheidung im Sinne des Artikels 61 (1) EPÜ angerufen wurden (Nr. 6.1 und 6.2 der Gründe).
3.) Bei der Anwendung fremden Rechtes muss das Europäische Patentamt dieses, soweit möglich, im Gesamtzusammenhang der fremden Rechtsordnung anwenden. Dabei ist das Europäische Patentamt als von staatlichen Behörden und Gerichten unabhängige internationale Organisation nicht an die Rechtsprechung nationaler Gerichte zur Auslegung der anzuwendenden fremden Rechtsnorm gebunden. Sofern dem Europäischen Patentamt bekannt, sollte insbesondere höchstgerichtliche nationale Rechtsprechung bei der Entscheidungsfindung jedoch berücksichtigt und gewürdigt werden(Nr. 6.5 der Gründe).
4.) Fragen des Rechtsmissbrauchs stellen sich auch in den Verfahren vor dem Europäischen Patentamt (siehe etwa Artikel 16 (1) e) VOBK 2020). Zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen sind derartige Fragen vom Europäischen Patentamt auch im Rahmen des Aussetzungsverfahrens autonom, also unabhängig von nationalen Rechtsordnungen zu beurteilen (Nr. 6.22 der Gründe).
5.) Die zweckwidrige Inanspruchnahme eines Rechtes kann unter Umständen Rechtsmissbrauch begründen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Rechtsausübung überwiegend in Schädigungsabsicht erfolgt und andere, legitime Zwecke in den Hintergrund treten. Rechtsmissbrauch muss zweifelsfrei vorliegen und erfordert eine sorgfältige Prüfung und Abwägung der Einzelumstände. Die Beweislast trifft denjenigen, der sich auf Rechtsmissbrauch beruft (Nr. 13.1 der Gründe).
In T 1875/15 folgte die Kammer der Feststellung in T 1914/12, dass eine Kammer grundsätzlich kein Ermessen habe, verspätet vorgebrachte Argumente nicht zuzulassen. Sie stellte jedoch auch fest, dass es nach Art. 114 (2) EPÜ im Ermessen der Kammer liege, einen verspätet vorgebrachten Einwand, der neue Tatsachenbehauptungen enthält, nicht zum Verfahren zuzulassen. Der Einwand des Beschwerdegegners nach Art. 100 c) EPÜ, der erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer erhoben wurde, enthalte nicht nur rechtliche, sondern auch tatsächliche (und technische) Überlegungen, nämlich zur Bedeutung des Begriffs "Poly-Olefin" in der betreffenden Passage. Das Vorbringen des Beschwerdegegners, dies sei als "Poly-Alphaolefin" zu verstehen, weswegen das entsprechende Merkmal im erteilten Anspruch 1 nicht auf der Anmeldung in der eingereichten Fassung beruhe, sei kein Argument, sondern eine Tatsachenbehauptung, nämlich dass der Fachmann den Begriff "Poly-Olefin" in dieser Passage der Anmeldung in der eingereichten Fassung unmittelbar und eindeutig im Sinne von "Poly-Alphaolefin" verstanden hätte. Somit habe der verspätet vorgebrachte Einwand des Beschwerdegegners eine neue Tatsachenbehauptung enthalten. Deshalb liege es nach Art. 114 (2) EPÜ im Ermessen der Kammer, den verspätet vorgebrachten Einwand des Beschwerdegegners nicht zuzulassen. Diese Feststellung stehe in Einklang mit T 1914/12, wonach eine "Tatsache" als ein (angebliches) Faktum zu verstehen sei, auf das ein Beteiligter sein Vorbringen stütze. Der vorliegende Fall entspreche auch den Entscheidungen T 635/14 und T 1381/15, in denen die betrauten Kammern ebenfalls verspätet vorgebrachte Einwände als neue Tatsachenbehauptung betrachteten.
In T 1914/12 stellte die Kammer fest, dass die Beschwerdekammern bei der Zulassung spät vorgebrachter Argumente, die sich auf bereits im Verfahren befindliche Tatsachen stützen, keinen Ermessensspielraum haben (in Abweichung von T 1621/09). Sie verwies auf Art. 114 EPÜ, der in seiner englischen Fassung in Absatz 1 neben Tatsachen und Beweismitteln auch Argumente ("arguments") erwähnt, in Absatz 2 jedoch nicht. Folglich erstreckt sich das in Absatz 2 eingeräumte Ermessen nicht auf spät vorgebrachte Argumente. Laut der Rechtsprechung vor 2011 sind Argumente nach Art. 114 (2) EPÜ vom Ermessen ausgenommen (s. z. B. T 92/92, T 861/93, T 131/01, T 704/06, T 926/07, T 1553/07). Zwei im September 2011 ergangene Entscheidungen stellten diesen Ansatz jedoch unter Berufung auf Art. 13 (1) in Verbindung mit Art. 12 (2) VOBK 2007 infrage: in den Entscheidungen T 1069/08 und T 1621/09 wird den Kammern ein gewisser Ermessenspielraum im Hinblick auf spät vorgebrachte Argumente zuerkannt. Die Kammer im vorliegenden Fall fand die diesen beiden Entscheidungen zugrunde liegende Argumentation nicht überzeugend. Die Auslegung in T 1069/08 und T 1621/09 lasse außer Acht, dass ein solches Ermessen nicht durch Art. 114 (2) EPÜ gerechtfertigt werden kann, was auch in der älteren Rechtsprechung bis dahin mehrfach bekräftigt wurde. Das EPÜ und vor allem Art. 114 EPÜ machen – zumindest in der englischen Fassung – einen Unterschied zwischen der Behandlung von Tatsachen und Argumenten. Art. 114 (2) EPÜ räumt im Besonderen und ausdrücklich einen Ermessensspielraum in Bezug auf verspätet vorgebrachte Tatsachen ein, nicht aber in Bezug auf spät vorgebrachte Argumente, die sich auf bereits im Verfahren befindliche Tatsachen stützen. Nach Auffassung der Kammer kann die VOBK zwar zur Präzisierung und Auslegung des EPÜ herangezogen werden, nicht aber, um den Beschwerdekammern Befugnisse einzuräumen, die im EPÜ nicht vorgesehen sind.
In T 47/18 enthielt die Beschwerdebegründung weder einen Einwand wegen mangelnder Klarheit der Ansprüche noch einen Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ, sondern lediglich Vorbringen in Bezug auf die erfinderische Tätigkeit. Die vorstehend genannten Einwände erhob der Einsprechende erst, nachdem die Beteiligten zur mündlichen Verhandlung geladen worden waren. Die Kammer verwies auf die ständige Rechtsprechung, der zufolge neue, in der Beschwerdebegründung nicht enthaltene Einwände als Änderung des Sachvortrags des Beteiligten angesehen werden. Die Zulassung solcher Einwände liegt gemäß Art. 13 (1) und/oder 13 (3) VOBK 2007 im Ermessen der Kammer (s. auch T 996/15 zu einem neuen Einwand nach Art. 84 EPÜ, T 682/11 zu einem neuen Einwand nach Art. 123 (3) EPÜ und T 1307/13 zu einem neuen Einwand betreffend die Gültigkeit des Prioritätsanspruchs). Darüber hinaus stellte die Kammer fest, dass es sich bei den fraglichen Einwänden um mehr handelte als nur um ein neues Argument (s. o. T 1914/12), denn sie gingen über das hinaus, was zur Unterstreichung der rechtzeitig eingereichten Tatsachen, Beweismittel und Gründe dient. Sie basierten vielmehr auf neuen Rechtsgründen (G 4/92, ABl. EPA 1994, 149, Nr. 10 der Gründe), die zuvor im Beschwerdeverfahren nicht behandelt worden waren. Die Kammer wies darauf hin, dass der Beschwerdeführer die fraglichen Einwände zu mehreren Gelegenheiten im Verfahren vor der Einspruchsabteilung hätte vorbringen können. Es gab keinen stichhaltigen Grund, diese Einwände so spät im Verfahren zu erheben, nämlich erst etwa zwei Monate vor der mündlichen Verhandlung vor der Kammer.
In T 603/14 machte die Kammer von ihrem Ermessen Gebrauch, den verspätet vorgebrachten Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit gegenüber D1 und D3 nicht zu berücksichtigen. Der Beschwerdeführer hatte den Einwand zum ersten Mal in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer erhoben. Die Dokumente waren Teil des Beschwerdeverfahrens. Die Kammer sah in dem Einwand eine Änderung des Vorbringens des Beschwerdeführers, weshalb die Zulassung und Berücksichtigung gemäß Art. 13 (1) VOBK 2007 in ihrem Ermessen lag. D1 und D3 waren bis dahin nur verwendet worden, um Neuheitseinwände gegen die Ansprüche 1 und 25 zu stützen. Zumindest die Behauptung, dass sie kombiniert miteinander zu mangelnder erfinderischer Tätigkeit führten, war für die Kammer eine neue Tatsache. Der Beschwerdeführer brachte für die späte Einreichung dieser behaupteten neuen Tatsache keine überzeugende Begründung vor. Die vorläufige Stellungnahme der Kammer zur Offenbarung von D1 führte keine neuen Aspekte in die Diskussion ein. In der Anlage zur Ladung stand deutlich, dass weitere Bemerkungen, Dokumente oder Anträge spätestens einen Monat vor der mündlichen Verhandlung der Kammer und dem anderen Beteiligten vorliegen sollten und keine Überraschung für sie darstellen dürften. Mit einer Zulassung des Einwands zu diesem späten Zeitpunkt wäre daher nicht die gebotene Verfahrenseffizienz gewahrt worden, und es hätte sogar die Gefahr einer Vertagung der mündlichen Verhandlung bestanden. Selbst wenn man einräumt, dass die zur Stützung eines Neuheitseinwands angeführte Entgegenhaltung D1 auch als Ausgangspunkt für einen Einwand wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit zugrunde gelegt werden konnte, war von dem anderen Beteiligten nicht zu erwarten, dass er die Aufnahme einer willkürlichen Kombination von D1 und anderen aktenkundigen Dokumenten wie D3 in das Verfahren antizipiert. Im Übrigen ist ein zur Beurteilung der Neuheit nützliches Dokument nicht unbedingt die richtige Wahl als nächstliegender Stand, s. auch T 181/17.
4.10.1 Vorbringen neuer Argumente im Beschwerdeverfahren
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Ausführungen zum Begriff neue Argumente sind im Kapitel IV.C.4.7. "Spätes Vorbringen neuer Argumente" enthalten.
Art. 12 (2) VOBK 2007 sieht vor, dass die Beschwerdebegründung ausdrücklich und spezifisch alle Tatsachen, Argumente und Beweismittel eines Beteiligten enthalten soll. Nach Art. 13 (1) VOBK 2007 steht es im Ermessen der Kammer, Änderungen des Vorbringes eines Beteiligten nach Einreichung der Beschwerdebegründung zuzulassen.
In T 1621/09 hat die Kammer auf die Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer G 4/92 (ABl. 1994, 149) verwiesen und festgestellt, dass die Stellungnahme, insofern sie die allgemeine Zulässigkeit neuer Argumente im Beschwerdeverfahren betrifft, so zu betrachten ist, dass sie durch die mit Wirkung vom 1. Mai 2003 eingeführten Änderungen der VOBK modifiziert worden ist. Zudem hat die Kammer erörtert, ob neue, erstmals während der mündlichen Verhandlung vorgetragene Argumente, die sich auf im Verfahren befindliche Entgegenhaltungen stützen, eine Änderung des vollständigen Sachvortrags eines Beteiligten gemäß Art. 13 (1) VOBK 2007 darstellen können oder nicht. Die Kammer hatte die Frage bejaht und war zu dem Schluss gekommen, dass die Zulässigkeit solcher Argumente deswegen prima facie im Ermessen der Beschwerdekammer liegt. Auch in den Entscheidungen T 232/08, T 1069/08, T 1732/10, T 1761/10, T 433/11 und T 1847/12 sind die Kammern zu einem ähnlichen Schluss gekommen.
In T 1914/12 stellte die Kammer fest, dass die Beschwerdekammern bei der Zulassung spät vorgebrachter Argumente, die sich auf bereits im Verfahren befindliche Tatsachen stützen, keinen Ermessensspielraum haben (in Abweichung von T 1621/09). Sie verwies auf Art. 114 EPÜ, der in seiner englischen Fassung in Absatz 1 neben Tatsachen und Beweismitteln auch Argumente ("arguments") erwähnt, in Absatz 2 jedoch nicht. Folglich erstreckt sich das in Absatz 2 eingeräumte Ermessen nicht auf spät vorgebrachte Argumente. Laut der Rechtsprechung vor 2011 sind Argumente nach Art. 114 (2) EPÜ vom Ermessen ausgenommen (s. z. B. T 92/92, T 861/93, T 131/01, T 704/06, T 926/07, T 1553/07). Zwei im September 2011 ergangene Entscheidungen stellten diesen Ansatz jedoch unter Berufung auf Art. 13 (1) VOBK 2007 in Verbindung mit Art. 12 (2) VOBK 2007 infrage: in den Entscheidungen T 1069/08 und T 1621/09 wird den Kammern ein gewisser Ermessenspielraum im Hinblick auf spät vorgebrachter Argumente zuerkannt. Die Kammer im vorliegenden Fall fand die diesen beiden Entscheidungen zugrunde liegende Argumentation nicht überzeugend. Die Auslegung in T 1069/08 und T 1621/09 lasse außer Acht, dass ein solches Ermessen nicht durch Art. 114 (2) EPÜ gerechtfertigt werden kann, was auch in der älteren Rechtsprechung bis dahin mehrfach bekräftigt wurde. Das EPÜ und vor allem Art. 114 EPÜ machen – zumindest in der englischen Fassung – einen Unterschied zwischen der Behandlung von Tatsachen und Argumenten. Art. 114 (2) EPÜ räumt im Besonderen und ausdrücklich einen Ermessensspielraum in Bezug auf verspätet vorgebrachte Tatsachen ein, nicht aber in Bezug auf spät vorgebrachte Argumente, die sich auf bereits im Verfahren befindliche Tatsachen stützen. Nach Auffassung der Kammer im vorliegenden Fall kann die VOBK zwar zur Präzisierung und Auslegung des EPÜ herangezogen werden, nicht aber, um den Beschwerdekammern Befugnisse einzuräumen, die im Übereinkommen nicht vorgesehen sind.
Der Anspruch auf rechtiches Gehör darf nicht als ein Anspruch darauf verstanden werden, dass alle Argumente berücksichtigt werden, egal in welchem Verfahrensstadium sie vorgetragen werden (T 647/15).
In T 1348/11 war die Kammer der Auffassung, dass die vom Beschwerdeführer vorgetragene neue Argumentation einer Änderung seines Vorbringens im Sinne von Art. 12 (2) und 13 (1) VOBK 2007 gleichkomme, weil sie eine Abkehr und nicht bloß eine Weiterentwicklung von seiner ursprünglichen Argumentation darstelle.
- T 247/20
- T 2988/18
- T 1875/15
- J 14/19
- Rechtsprechung 2020
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