1.3. Maßstab für die Beurteilung der Einhaltung von Artikel 123 (2) EPÜ
In T 1362/15 erklärte die Kammer in einer vorläufigen Stellungnahme, dass die im US-Stil formulierte Abhängigkeit der ursprünglichen Ansprüche (bei der sich die betreffenden abhängigen Ansprüche einzeln auf den unabhängigen Anspruch beziehen) offenbar keine Grundlage für die in Anspruch 10 der Hilfsanträge 2 bis 4 beanspruchte Kombination bildet. Der Beschwerdeführer (Patentinhaber) beantragte die Befassung der Großen Beschwerdekammer mit der Frage, ob es erstens mit Art. 123 (2) EPÜ vereinbar ist, die Merkmale mehrerer abhängiger Ansprüche in einen unabhängigen Anspruch aufzunehmen, wenn die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung einen Anspruchssatz mit Abhängigkeiten im US-Stil sowie eine Ausführungsform enthält, in der die Merkmale des unabhängigen Anspruchs und der abhängigen Ansprüche kombiniert sind; und ob zweitens der Umstand, dass die Ausführungsform möglicherweise zusätzliche Merkmale zeigt, einen Verstoß gegen Art. 123 (2) EPÜ zur Folge haben könnte. Die Kammer hielt diese Vorlage unter anderem aus folgenden Gründen nicht für erforderlich: Was die anstehenden Fragen anbelangt, hat die Große Beschwerdekammer die allgemeinen Grundsätze für die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ unter anderem in G 2/98 (ABl. EPA 2001, 413) und G 2/10 (ABl. EPA 2012, 376) bereits klar definiert. Demnach muss der Fachmann der Gesamtheit der Anmeldung in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens - objektiv und bezogen auf den Anmeldetag - den beanspruchten Gegenstand unmittelbar und eindeutig entnehmen können. Bezüglich der Abhängigkeitsstruktur im US-Stil stellte die Kammer fest, dass es für die möglichen Merkmalskombinationen in den Ansprüchen einer US-Anmeldung keine Beschränkung gibt. Gemäß 35 U.S.C. 112 darf ein mehrfach abhängiger Anspruch nur nicht als Grundlage für andere mehrfach abhängige Ansprüche dienen. Dies ist jedoch keine unüberwindliche Beschränkung. Laut dem Beschwerdeführer sollte ferner, wenn der geänderte Anspruch eine Merkmalskombination mit Merkmalen aus in der ursprünglichen Fassung eingereichten abhängigen Ansprüchen enthalte, die nicht die ursprüngliche Abhängigkeit respektierten, das Vorliegen einer Ausführungsform mit allen kombinierten Merkmalen (wenngleich mit noch mehr Merkmalen) in der Offenbarung ausreichen, um das Erfordernis des Art. 123 (2) EPÜ zu erfüllen; dies sei eine relevante Rechtsfrage, in der die Kammern erheblich voneinander abwichen. Die Kammer analysierte die angeblich voneinander abweichenden Entscheidungen T 2619/11 und T 1414/11 und kam zu dem Schluss, dass beide Entscheidungen auf denselben Kriterien basieren und sich nicht widersprechen.
1.3.1 Goldstandard: unmittelbar und eindeutig ableitbar
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Jede Änderung an den die Offenbarung betreffenden Teilen einer europäischen Patentanmeldung oder eines europäischen Patents (der Beschreibung, der Patentansprüche und der Zeichnungen) unterliegt dem in Art. 123 (2) EPÜ statuierten zwingenden Erweiterungsverbot und darf daher unabhängig vom Kontext der vorgenommenen Änderung nur im Rahmen dessen erfolgen, was der Fachmann der Gesamtheit dieser Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens – objektiv und bezogen auf den Anmeldetag – unmittelbar und eindeutig entnehmen kann (G 3/89, ABl. 1993,117; G 11/91, ABl. 1993, 125; G 2/10, ABl. 2012, 376, worin dieser Test als "Goldstandard" bezeichnet wird; für offenbarte Disclaimer bestätigt in G 1/16, ABl. 2018, A70; zu nicht offenbarten Disclaimern s. aber Kapitel II.E.1.7.2 c)). Zu prüfen ist, ob die Änderung dazu führt, dass der Fachmann neue technische Informationen erhält (G 2/10).
Wie der Goldstandard zeigt, ist aus der Sicht des Fachmanns zu prüfen, ob die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ erfüllt sind (s. unten Abschnitt II.E.1.3.2 "Sicht des Fachmanns").
Der Gegenstand muss zumindest implizit offenbart sein (T 860/00; s. auch G 2/10, ABl. 2012, 376), s. unten Kapitel II.E.1.3.3 "Implizite Offenbarung".
Die Kammern haben im Hinblick auf diverse, für verschiedene Änderungsfälle entwickelte Tests betont, dass diese nur ein Indiz dafür liefern sollten, ob eine Änderung mit Art. 123 (2) EPÜ in der Auslegung gemäß dem Goldstandard vereinbar sei. Sie könnten bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Änderung helfen, ersetzten aber nicht den Goldstandard und sollten zu keinem anderen Ergebnis führen als dieser. S. z. B. T 2561/11, T 755/12, T 2095/12, T 2599/12, T 46/15, T 1472/15 und T 553/15 im Hinblick auf den "Wesentlichkeitstest", T 1471/10 und T 1791/12 im Hinblick auf "Zwischenverallgemeinerungen" und T 873/94, ABl. 1997, 456, T 60/03 sowie T 150/07 im Hinblick auf den "Neuheitstest"; zu beachten ist allerdings, dass für nicht offenbarte Disclaimer besondere Kriterien gelten. Näheres zu den Tests enthalten die Kapitel II.E.1.4.4 "Wesentlichkeits- oder Dreipunkte-Test", II.E.1.9. "Zwischenverallgemeinerung", II.E.1.3.7 "Der 'Neuheitstest'" und II.E.1.7. "Disclaimer".