2. Prioritätsbegründende Anmeldung
Übersicht
T 2719/19 × View decision
The following questions are referred to the Enlarged Board of Appeal:
I. Does the EPC confer jurisdiction on the EPO to determine whether a party validly claims to be a successor in title as referred to in Article 87(1)(b) EPC?
II. If question I is answered in the affirmative Can a party B validly rely on the priority right claimed in a PCT-application for the purpose of claiming priority rights under Article 87(1) EPC in the case where
1) a PCT-application designates party A as applicant for the US only and party B as applicant for other designated States, including regional European patent protection and
2) the PCT-application claims priority from an earlier patent application that designates party A as the applicant and
3) the priority claimed in the PCT-application is in compliance with Article 4 of the Paris Convention?
T 1513/17 × View decision
The following questions are referred to the Enlarged Board of Appeal:
I. Does the EPC confer jurisdiction on the EPO to determine whether a party validly claims to be a successor in title as referred to in Article 87(1)(b) EPC?
II. If question I is answered in the affirmative Can a party B validly rely on the priority right claimed in a PCT-application for the purpose of claiming priority rights under Article 87(1) EPC in the case where
1) a PCT-application designates party A as applicant for the US only and party B as applicant for other designated States, including regional European patent protection and
2) the PCT-application claims priority from an earlier patent application that designates party A as the applicant and
3) the priority claimed in the PCT-application is in compliance with Article 4 of the Paris Convention?
T 924/15 × View decision
Priority claim held invalid in view of the transfer of the priority right within the priority year (reasons, 3).
T 725/14 × View decision
Priority claim held invalid in view of the transfer of the priority right within the priority year (reasons, 4).
In T 844/18 gehörte einer von mehreren Anmeldern bestimmter vorläufiger US-Anmeldungen, deren Priorität beansprucht wurde, nicht zu den Anmeldern der dem Streitpatent zugrunde liegenden Anmeldung. Die Frage der Rechtsnachfolge stellte sich nicht. In Einklang mit der Rechtsprechung der Kammern wandte die Einspruchsabteilung den seit Langem praktizierten Ansatz an, wonach "alle Anmelder" der Erstanmeldung auch Anmelder der Nachanmeldung (bzw. "dieselben Anmelder") sein müssen. Sie befand, dass die Priorität nicht wirksam beansprucht worden sei, und widerrief das Patent wegen mangelnder Neuheit. Die Kammer formulierte die Kernfrage wie folgt: "A und B sind Anmelder der Prioritätsanmeldung. A ist alleiniger Anmelder der Nachanmeldung. Ist ein Prioritätsanspruch wirksam, auch ohne dass das Prioritätsrecht von B auf A übertragen wurde?". Die drei Angriffslinien der Beschwerdeführer (Patentinhaber) gegen den "Alle Anmelder"-Ansatz des EPA überzeugten die Kammer nicht, und die Beschwerde wurde zurückgewiesen. Als Erstes ging es um die Frage, ob das Recht auf Priorität überhaupt vom EPA beurteilt werden sollte. Die Kammer entschied, dass die Instanzen des EPA befugt und verpflichtet seien, die Wirksamkeit eines Prioritätsanspruchs nach Art. 87 (1) EPÜ zu beurteilen, was auch beinhalte zu prüfen, "wer" das Prioritätsrecht genießt. Art. 87 (1) EPÜ setze nicht voraus, dass "jedermann", der die Patentanmeldung eingereicht hat, dazu berechtigt sei, sondern nur, dass er es getan habe. Die Kammer wies auch Argumente zurück, die in analoger Weise auf Art. 60 (3) EPÜ gestützt waren. Das EPA führe lediglich eine formale Prüfung der Person durch, die die Anmeldung eingereicht hat. Dies widerspreche im Übrigen nicht seinem Ansatz in Bezug auf die Rechtsnachfolge, wie von den Beschwerdeführern behauptet. Das EPA prüfe nur, ob die Rechtsnachfolge nach dem ursprünglichen Anmelder gegeben ist, was eine eingehende Prüfung erfordere, die aber nicht auch das Bestehen des Prioritätsrechts an sich umfasse. Zweitens ging es um die Auslegung des Begriffs "jedermann" in Art. 87 (1) EPÜ; hier sah die Kammer die gewöhnliche Bedeutung in diesem Zusammenhang in allen Sprachfassungen als mehrdeutig an (vgl. Art. 4A (1) Pariser Verbandsübereinkunft, Art. 31 (1) Wiener Übereinkommen). In Übereinstimmung mit T 15/01 befand sie, dass es Ziel und Zweck der Pariser Verbandsübereinkunft (vgl. Art. 31 (1) und Art. 33 (4) Wiener Übereinkommen) sei, "für begrenzte Zeit die Interessen eines Patentanmelders, der internationalen Schutz für seine Erfindung erlangen will, zu wahren", und dass "die internationalen Prioritätsvorschriften der Pariser Verbandsübereinkunft … dem Anmelder die Erlangung internationalen Schutzes für seine Erfindung … erleichtern" sollten. Die Beschwerdeführer argumentierten unter Berufung auf diese Feststellungen in T 15/01, dass Ziel und Zweck der Pariser Verbandsübereinkunft für ihre (nicht einschränkende) Auslegung des Begriffs "jedermann" sprächen. Dies würde es A erlauben, alleine eine andere Anmeldung in einem anderen Land einzureichen und dabei dieselbe Erfindung zu beanspruchen, ohne B zu involvieren, während der "Alle Anmelder"-Ansatz zu einem Verlust des Prioritätsrechts und damit möglicherweise der Patentanmeldung führen könnte, wenn einer der Anmelder sich weigere, sich als Anmelder der Nachanmeldung anzuschließen. Die Kammer vertrat eine andere Auffassung: Ziel und Zweck der Pariser Verbandsübereinkunft könnten nicht die Grundlage sein für die Begünstigung einer oder mehrerer Personen zum Nachteil aller anderen Personen, die ursprünglich zu der Gruppe gehörten, die eine Patentanmeldung eingereicht hat. Zudem könne ein Anmelder eine Anmeldung vor dem EPA ohne die aktive Beteiligung der in der Anmeldung genannten anderen Anmelder vorantreiben. Die derzeitige Praxis schütze Anmelder davor, "ausgebootet" zu werden und zur Wahrung ihrer Rechte internationale Klagen anstrengen zu müssen. Die Kammer stellte weiter fest, dass die Prioritätsbestimmungen der Pariser Verbandsübereinkunft seit 1883 im Wesentlichen unverändert seien und es keine EPA- oder nationale Rechtsprechung gebe, in der die Auslegung der Beschwerdeführer eindeutig angewandt würde. Für eine Änderung der ständigen Rechtsprechung und Praxis müsse es eine sehr hohe Hürde geben, weil eine Änderung disruptive Auswirkungen haben könnte. Die Fortsetzung bewährter und rational begründeter Praktiken könnte als Aspekt der Rechtssicherheit betrachtet werden. Drittens befand die Kammer hinsichtlich des anzuwendenden Rechts, dass nicht – wie von den Beschwerdeführern vorgebracht – das nationale Recht des Landes, in dem die Prioritätsanmeldung eingereicht wurde (im vorliegenden Fall US-Recht), bestimmt, wer als "jeder-mann" gilt, sondern die Pariser Verbandsübereinkunft, der die USA angehören und die daher Teil des "obersten Gesetzes des Landes" ist (Art. VI Satz 2 der Verfassung der USA). Die Kammer zog zudem die vorbereitenden Arbeiten zur Pariser Verbandsübereinkunft von 1880 heran und schloss daraus, dass dieser Vertrag festlege, wer "jedermann" ist, und dass diese Festlegung eine rein formale sei. Die Pariser Verbandsübereinkunft und das EPÜ enthielten eigenständige Definitionen der Person, die eine Priorität in Anspruch nimmt. Diese Person werde durch die Handlung definiert, die sie vorgenommen hat, nämlich die Einreichung der Erstanmeldung. Ob es sich dabei um den Erfinder oder um eine Person handele, die tatsächlich berechtigt ist, Anmelder dieser Patentanmeldung zu sein, müsse nach der Pariser Verbandsübereinkunft nicht untersucht werden. Wer die Priorität vorläufiger US-Anmeldungen für europäische Patentanmeldungen in Anspruch nehmen wolle, so die Kammer, müsse sich der Schwierigkeiten bewusst sein, die sich für Anmelder ergeben könnten. Ursächlich dafür sei, dass die USA der Pariser Verbandsübereinkunft angehörten.
Das Streitpatent in T 725/14 (s. auch den parallelen Fall T 924/15) war auf der Grundlage einer Teilanmeldung erteilt worden. Sowohl die Stammanmeldung als auch die europäische Patentanmeldung, deren Priorität in Anspruch genommen wurde, waren im Namen von Avantium eingereicht worden. In der Streitsache ging es um die Frage, ob das Prioritätsrecht vor der Einreichung der Stammanmeldung am 12. März 2007 mit einer Übertragungserklärung vom 1. März 2007 (D17) an Furanix (Patentinhaber/Beschwerdegegner) übertragen worden war und – falls dies zutraf – ob aufgrund dieser Übertragung die Priorität der Stammanmeldung und folglich des angefochtenen Patents ungültig war. Die Kammer wies das Vorbringen des Beschwerdegegners zurück, wonach die Übertragung erst an dem Tag wirksam werde, an dem beim EPA ein Antrag auf Eintragung eines Rechtsübergangs gemäß R. 22 EPÜ gestellt werde. Die R. 22 EPÜ ist für die Feststellung des Prioritätsrechts nicht von Belang. Die Übertragung des Prioritätsrechts muss anhand des nationalen Rechts beurteilt werden (vgl. z. B. T 205/14, T 1201/14). Das anwendbare Recht wird in der Regel durch die kollisionsrechtlichen Regelungen des angerufenen Gerichts ermittelt, d. h. in diesem Fall der Kammer. Solche Regelungen sind im EPÜ und in den davon abgeleiteten Rechtsvorschriften nicht vorhanden, sodass es für die Ermittlung des geltenden nationalen Rechts keine Orientierungshilfen gibt. Die Beteiligten waren sich darin einig, dass niederländisches Recht galt, und die Kammer sah keine Veranlassung, von dieser Position abzuweichen. Die Prioritätsanmeldung war eine europäische Anmeldung, die nicht durch nationales Recht geregelt und auf die somit kein nationales Recht anwendbar war. Alle übrigen Umstände deuteten auf das niederländische Recht hin: sowohl Avantium als auch Furanix waren Unternehmen nach niederländischem Recht mit eingetragenem Sitz in Amsterdam, wo auch D17 unterzeichnet worden war. Unter Verweis auf ein Rechtsgutachten, das zur Erläuterung der Erfordernisse für die Übertragung eines Prioritätsrechts nach dem niederländischen Zivilgesetzbuch eingereicht worden war, kam die Kammer zu dem Schluss, dass die Erfordernisse für eine förmliche Übertragung auf einer gültigen Rechtsgrundlage erfüllt waren und D17 ausreichte, um die Priorität als zur Patentanmeldung gehörendes Recht nach niederländischem Recht zu übertragen. Der Wortlaut von D17 ließ eindeutig erkennen, dass das Prioritätsrecht am 1. März 2007 oder früher an Furanix übertragen worden war. Als Nachweis für die Rechtsübertragung hatte D17 erhebliche Überzeugungskraft; die vom Beschwerdegegner eingereichten Gegenbeweise waren hingegen nicht überzeugend. Der Beschwerdeführer hat den Beweis für die Übertragung des Prioritätsrechts erbracht. Der Prioritätsanspruch war somit ungültig. Die Kammer erklärte, dass das Wort "oder" in Art. 87 EPÜ und Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft (in der Formulierung "oder sein Rechtsnachfolger") unmissverständlich als "ausschließendes oder" zu lesen ist (vgl. auch z. B. J 19/87), und konnte einer Sichtweise zugunsten eines "nicht ausschließenden oder" nicht zustimmen, der zufolge die Priorität entweder vom ursprünglichen Anmelder oder von seinem Rechtsnachfolger oder sowohl vom ursprünglichen Anmelder als auch von seinem Rechtsnachfolger beansprucht werden könne.
2. Prioritätsbegründende Anmeldung
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
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