3.8. Zurücknahme einer Anmeldung
3.8.1 Allgemeines
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Der Anmelder ist an eine wirksame, beim EPA eingegangene Zurücknahmeerklärung gebunden. Gleichwohl ist im Fall einer versehentlichen Rücknahme die Anwendung der R. 139 EPÜ (R. 88 EPÜ 1973) in Betracht zu ziehen (s. J 10/87, ABl. 1989, 323; J 4/97; s. auch T 1673/07; J 6/13; J 11/16). Eine Zurücknahme kann allerdings nicht widerrufen werden, nachdem sie öffentlich bekannt gemacht wurde (J 1/11, J 2/15). Eine Veröffentlichung im Europäischen Patentregister hat – sofern nichts anderes angegeben ist – dieselbe Rechtswirkung wie eine Veröffentlichung im Europäischen Patentblatt (J 1/11, J 2/15).
Einer Erklärung, dass eine europäische Patentanmeldung zurückgenommen wird, sollte ohne Rückfrage nur dann stattgegeben werden, wenn sie keinerlei Vorbehalte enthält und eindeutig ist (vgl. J 11/87, ABl. 1988, 367; J 27/94, ABl. 1995, 831; J 19/03; s. auch J 11/80, ABl. 1981, 141; T 60/00; J 38/03; T 1673/07). In J 11/87 (ABl. 1988, 367) fügte die Juristische Kammer hinzu, wenn auch nur der geringste Zweifel an der wahren Absicht besteht, so habe sie immer die Auffassung vertreten, dass eine solche Erklärung nur dann als Zurücknahmeerklärung ausgelegt werden dürfte, wenn sich im Nachhinein bestätige, dass dies der wahren Absicht des Anmelders entspreche.
In J 15/86 (ABl. 1988, 417) kam die Juristische Kammer zu der Auffassung, dass ein klarer Unterschied zwischen dem passiven Verzicht auf eine europäische Patentanmeldung und ihrer aktiven Zurücknahme gemacht werde. Im Zweifelsfall müsse die Absicht des Patentanmelders im Einzelfall anhand der Sachlage festgestellt werden. Eine schriftliche Erklärung des Anmelders oder seines Vertreters sei im Zusammenhang mit dem gesamten Schriftstück und unter Berücksichtigung der Begleitumstände auszulegen. Analog dazu wurde in J 7/87 (ABl. 1988, 422) entschieden, dass die verwendete Formulierung unter Berücksichtigung der Begleitumstände ausgelegt werden müsse, aus denen klar ersichtlich sein müsse, dass der Anmelder tatsächlich eine sofortige, vorbehaltlose Zurücknahme und nicht nur einen passiven Verzicht wünsche, der im weiteren Verlauf dazu führe, dass die Anmeldung als zurückgenommen gelte. Die wirksame Zurücknahme hänge nicht davon ab, ob der Anmelder den Begriff "Zurücknahme" verwendet habe.
In J 6/86 (ABl. 1988, 124) legte die Juristische Kammer die Erklärung "Der Anmelder will diese Anmeldung fallen lassen" als eindeutige Zurücknahme einer europäischen Patentanmeldung aus, da aus den Umständen, unter denen die Erklärung abgegeben worden ist, nichts zu entnehmen war, was diese Auslegung einschränken könnte. Eine Zurücknahmeerklärung kann nicht mehr widerrufen werden, wenn die Zurücknahme der Öffentlichkeit bereits im Europäischen Patentblatt bekannt gemacht wurde (s. J 15/86, ABl. 1988, 417).
Im Fall J 4/97 informierte der Anmelder das EPA drei Tage nach der Zurücknahme, dass der Antrag versehentlich gestellt worden sei und widerrufen werde. Das EPA setzte den Anmelder davon in Kenntnis, dass die Zurücknahme rechtskräftig und bindend sei und später im Europäischen Patentblatt veröffentlicht werde. Trotzdem vertrat die Juristische Kammer die Auffassung, dass die Zurücknahme der Anmeldung gemäß R. 88 EPÜ 1973 berichtigt werden kann. Die in J 10/87 angestellten rechtlichen Überlegungen zum Widerruf einer Zurücknahme der Benennung eines Vertragsstaats gelten auch für die Zurücknahme einer Patentanmeldung als Ganzes. Insbesondere muss eindeutig feststehen, dass die Zurücknahme einem entschuldbaren Versehen zuzuschreiben ist, der Widerruf unverzüglich beantragt wird und das Interesse der Öffentlichkeit oder Dritter durch den Widerruf der Zurücknahme nicht beeinträchtigt wird. Unter den hier gegebenen Umständen deutete nach Auffassung der Juristischen Kammer allein schon die Tatsache, dass die Zurücknahme bereits nach drei Tagen widerrufen worden war, mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass sie tatsächlich versehentlich erfolgt ist. Das Versehen war durch die Verwechslung zweier ähnlicher Referenznummern entstanden, die der Anmelder seinen Patentanmeldungen gegeben hatte. Nach Ansicht der Juristischen Kammer konnte dies als entschuldbares Versehen betrachtet werden. Das Interesse der Öffentlichkeit war nicht beeinträchtigt, weil die Zurücknahme vor der Eintragung ins Europäische Patentregister und mehr als 6 Wochen vor der amtlichen Bekanntmachung im Europäischen Patentblatt widerrufen wurde. Zum Zeitpunkt, als die Zurücknahme der breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde, war aus dem öffentlichen Teil der Akte also klar ersichtlich, dass ein Antrag auf Widerruf der Zurücknahme gestellt worden war, womit Dritte davor gewarnt waren, sich auf die Bekanntmachung des EPA zu verlassen. Die Interessen Dritter können dadurch geschützt werden, dass die nationalen Gerichte Art. 122 (6) EPÜ 1973 entsprechend anwenden.
In J 4/03 stellte die juristische Kammer fest, dass der Antrag auf Widerruf der Zurücknahme gestellt wurde, nachdem die Zurücknahme im Europäischen Patentblatt, dem offiziellen Veröffentlichungsmedium des EPA, bekannt gegeben worden war. Die Öffentlichkeit hatte also bereits die Information erhalten, dass die Anmeldung hinfällig geworden sei, sodass die Hauptvoraussetzung für die Zulassung der Berichtigung nicht erfüllt war. S. auch J 7/06.
In J 14/04 wies die Juristische Kammer den Antrag auf Berichtigung der Zurücknahme der Anmeldung zurück. Sie stimmte mit J 10/87 überein, dass das Interesse der Öffentlichkeit darin bestehe, sich auf die offiziellen Bekanntmachungen des EPA verlassen zu können. Die Juristische Kammer vertrat aber die Auffassung, dass das Europäische Patentregister eine offizielle Veröffentlichung darstelle (s. auch J 37/03, J 38/03), und da die Öffentlichkeit zum Zeitpunkt, als der Antrag auf Widerruf gestellt worden sei, einen gebührenfreien Zugang zum Register im Internet gehabt habe, sei ihr der Antrag auf Widerruf auch an dem Tag zugänglich gewesen, an dem dieser im Register verzeichnet worden sei. Es spiele keine Rolle, ob die Anmeldung an diesem Tag auch wirklich eingesehen worden sei. Auch war die Juristische Kammer nicht der Meinung, dass Art. 122 (6) EPÜ 1973 mutatis mutandis auf Fälle von Berichtigungen nach R. 88 EPÜ 1973 angewendet werden könne.
Die Juristische Kammer befand in J 25/03 (ABl. 2006, 395), dass eine Eintragung in das Europäische Patentregister ab dem Tag, an dem sie darin erscheint, auch als öffentliche Bekanntmachung gilt wie ihre Veröffentlichung im Europäischen Patentblatt. Der Antrag auf Berichtigung der Zurücknahme der Patentanmeldung wurde zurückgewiesen, und die Juristische Kammer fügte hinzu, dass es im Interesse der Rechtssicherheit unerheblich ist, dass zwischen dem Hinweis auf die Zurücknahme im Patentregister und dem Hinweis auf den Antrag auf Widerruf der Zurücknahme nur vier Tage vergangen sind. In einem Fall, in dem ein Dritter zum Zeitpunkt dieser Bekanntmachung auch nach einer etwaigen Einsicht in die vollständige Akte keinen Grund zu der Annahme gehabt hätte, dass die Zurücknahme ein Irrtum war und später widerrufen werden könnte, wäre die Rechtssicherheit in unvertretbarer Weise beeinträchtigt, wenn ein solcher Widerruf doch noch erfolgen dürfte.
In J 6/13 führte die Juristische Kammer aus, dass ein Anmelder durch seine dem EPA mitgeteilten Verfahrenshandlungen gebunden ist, sofern die Verfahrenserklärung eindeutig und vorbehaltlos war (J 19/03). Sie erklärte, es könne keinen Widerruf einer Zurücknahme geben, wenn Dritte keinen Anlass zu der Annahme hätten, die Zurücknahme sei irrtümlich erfolgt. Sie verwies auf J 12/03 (in der zustimmend J 25/03, ABl. 2006, 395 zitiert wird), wo es hieß, dass "ein Antrag auf Widerruf der Zurücknahme einer Patentanmeldung ... nicht mehr zulässig [ist], wenn zu dem Zeitpunkt, zu dem er gestellt wird, im europäischen Patentregister bereits auf die Zurücknahme hingewiesen wurde und ein Dritter zum Zeitpunkt der offiziellen öffentlichen Bekanntmachung auch nach einer Akteneinsicht keinen Grund zu der Annahme gehabt hätte, dass die Zurücknahme ein Irrtum war und später widerrufen werden könnte". Die Juristische Kammer erklärte, dass im Interesse der Rechtssicherheit für Dritte und unter Berücksichtigung der öffentlichen Funktion des Registers ein Widerruf nur möglich ist, wenn Dritte bei der Akteneinsicht Anlass zu der Annahme haben, dass die Zurücknahme irrtümlich erfolgte. Die Juristische Kammer musste prüfen, ob ein solcher Anlass im vorliegenden Fall gegeben war. Sie vertrat die Auffassung, dass gestützt auf J 12/03 und J 18/10 die – durchaus vielversprechenden – Aussichten der Anmeldung nicht für die Schlussfolgerung ausreichten, dass eine spätere Zurücknahme offensichtlich oder auch nur potenziell im Widerspruch dazu stand. Patentanmeldungen können aufgrund von geschäftsstrategischen Erwägungen, Investorenwünschen, Portfolioumschichtungen, Vereinbarungen mit Mitbewerbern usw. zurückgenommen werden. Aus finanziellen Überlegungen werden die meisten erteilten europäischen Patente nur in einer begrenzten Zahl von Ländern validiert. Solche Überlegungen können jederzeit ins Spiel kommen, ob gleich nach der Zahlung von Jahresgebühren oder nach der Zustellung eines positiven Recherchenberichts. Die günstigen Aussichten der Anmeldung im vorliegenden Fall würden deshalb Dritte nicht zu der Annahme führen, dass die Zurücknahme möglicherweise irrtümlich erfolgt ist. Auch der mit dem Fall beauftragte Vertreter war nicht zu diesem Schluss gekommen.