3.5. Überprüfung erstinstanzlicher Ermessensentscheidungen
3.5.5 Ermessensüberprüfung bei (Nicht-)Zulassung eines neuen Einspruchsgrunds durch die Einspruchsabteilung
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Gemäß der Rechtsprechung liegt es im Ermessen der Einspruchsabteilung, von Amts wegen einen neuen Einspruchsgrund einzuführen (Art. 114 (1) EPÜ). Die Große Beschwerdekammer stellte in G 10/91 (ABl. 1993, 420) mit Bezug auf das Einspruchsverfahren fest, dass die Einspruchsabteilung in Anwendung des Art. 114 (1) EPÜ ausnahmsweise auch andere Einspruchsgründe prüfen kann, die prima facie der Aufrechterhaltung des europäischen Patents ganz oder teilweise entgegenzustehen scheinen. Mit Bezug auf das Beschwerdeverfahren befand sie, dass neue Einspruchsgründe dort nur mit dem Einverständnis des Patentinhabers geprüft werden dürfen. Zum Umfang der Prüfung neuer Einspruchsgründe durch die Einspruchsabteilung s. Kapitel IV.C.3.4.4.
Die Überprüfung der Ermessensentscheidung der Einspruchsabteilung durch die Kammer ist im Wesentlichen darauf beschränkt sicherzustellen, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen nicht in unangemessener Weise ausgeübt hat (T 1340/15).
In T 1119/05 war der Einwand nach Art. 100 b) EPÜ bereits vor der Einspruchsabteilung erhoben worden, allerdings verspätet, weswegen die Abteilung entschied, diesen verspätet eingereichten Grund nicht zuzulassen. Die Kammer führte die zur Stützung des Einwands genannten Dokumente ein, um zu prüfen, ob die Einspruchsabteilung ihr Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hatte. Nachdem sie keine Hinweise dafür fand, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen in unangemessener Weise ausgeübt hatte, sah die Kammer keine Veranlassung, die Entscheidung der ersten Instanz aufzuheben. S. auch T 839/14.
In T 109/08 wurde entschieden, dass eine Beschwerdekammer, die die Ausübung des Ermessens durch die Einspruchsabteilung gemäß Art. 114 (2) EPÜ überprüft, befugt ist, eine Entscheidung aufzuheben, mit der ein verspätet eingereichter Einspruchsgrund nicht zugelassen wurde, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung auf offensichtlich falschen technischen Annahmen oder auf einen fehlerhaften Ansatz bezüglich dieses Einspruchsgrunds gestützt war, weil dies einen Missbrauch des Ermessens nach Art. 114 (2) EPÜ darstellt. Die Sache wurde an die erste Instanz zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
In T 1286/14 äusserte sich die Beschwerdekammer zur beschränkten Ermessensüberprüfung durch eine Beschwerdekammer im Falle eines "neuen Einspruchsgrunds" und fehlendem Einverständnis zu dessen Zulassung durch den Patentinhaber. Die Einspruchsabteilung hatte den verspätet vorgebrachten Einspruchsgrund wegen mangelnder Relevanz nicht in das Einspruchsverfahren zugelassen. Die Kammer stellte fest, dass es ihr in einem solchen Fall lediglich obliegt zu überprüfen, ob die Einspruchsabteilung tatsächlich geprüft hat, dass dieser Grund auch prima facie relevant ist und dies auch in der Sache begründet wurde. Das bedeutet wiederum, dass anstatt zu überprüfen, ob die Einspruchsabteilung die Prüfung der prima facie Relevanz des neuen Einspruchsgrunds sachlich "richtig" vorgenommen hat – nur überprüft werden sollte, ob überhaupt die prima facie Relevanz des neuen Einspruchsgrunds nachweislich überprüft wurde. Mit anderen Worten ist hier eine beschränkte Ermessensüberprüfung von Seiten einer Beschwerdekammer durchzuführen. Mithin ging die Kammer in Anlehnung an G 10/91 (ABl. 1993, 420) sachlich auch nicht auf den vorgebrachten Einspruchsgrund ein. Sie folgte daher einer beschränkten Ermessensüberprüfung zuzuordnenden Vorgehensweise, wie in den Fällen T 736/95, ABl. 2001, 191; T 1519/08 und T 1592/09 und konnte sich nicht der auf einer Ermessensüberprüfung mit detaillierter sachlicher Überprüfung der erstinstanzlichen Ermessensentscheidung fußenden Herangehensweise anschließen, wie sie z. B. in den Fällen T 1053/05, T 1142/09 und T 620/08 durchgeführt wurde.