4.3. Artikel 112a (2) c) EPÜ – angeblicher schwerwiegender Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ
In R 8/16 wies die Große Beschwerdekammer darauf hin, dass ein angeblicher Verstoß nicht schwerwiegend im Sinne von nicht hinnehmbar sein kann, wenn er keine nachteilige Wirkung hervorruft. Im vorliegenden Fall urteilte die Große Beschwerdekammer, dass die Nichtangabe von Gründen für die Zulassung des Hauptantrags zwar keine Praxis sei, die sie ausdrücklich unterstütze, dass sie aber nicht als schwerwiegender Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ angesehen wurde, weil der Antragsteller sich nicht äußerte und die Große Beschwerdekammer keine nachteilige Wirkung aufgrund der Nichtanhörung des Antragstellers in der Sache erkennen konnte und weil die Zulassung des Hauptantrags für den Antragsteller eindeutig zu einem positiven Ergebnis führte. Die Große Beschwerdekammer stellte ferner fest, dass es den Kammern grundsätzlich freisteht, in welcher Reihenfolge sie die (anhängigen) Anträge prüfen, und somit auch, in welcher Reihenfolge sie diese behandeln, ohne dass sie dies begründen müssten. Die dem Beteiligten in Art. 113 (2) EPÜ eingeräumte Dispositionsbefugnis reicht nicht so weit, dass er einem Entscheidungsorgan des EPA diktieren kann, wie und in welcher Reihenfolge es die ihm vorliegende Sache prüft. Die einzige dem EPA obliegende Verpflichtung besteht darin, in der endgültigen Entscheidung keinen noch anhängigen Antrag zu übergehen. Die Reihenfolge der Prüfung oder Erörterung ist eine Frage der Verfahrensökonomie, und für diese ist in erster Linie das Entscheidungsorgan verantwortlich. Eine Kammer ist insbesondere nicht verpflichtet, ihr Vorgehen zu begründen. Die Angabe von Gründen zu zurückgenommenen Anträgen hätte zu einem Einwand nach Art. 113 (2) EPÜ führen können.
4.3.17 Angeblicher Verstoß gegen Artikel 113 (2) EPÜ
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Aus Art. 113 (2) EPÜ lassen sich keinerlei Rechte des Anmelders ableiten, die das EPA verpflichten würden, einen vom Anmelder gestellten Änderungsantrag zu berücksichtigen. Die Bestimmung besagt lediglich, dass das EPA der Prüfung einer Anmeldung und der Entscheidung darüber keine andere Fassung zugrunde legen dürfe als die vom Anmelder oder Patentinhaber vorgelegte oder gebilligte Fassung (G 7/93, ABl. 1994, 775). S. auch R 10/08, R 11/11.
In R 10/08 erklärte die Große Beschwerdekammer mit Verweis auf G 12/91 (ABl. 1994, 285), dass der Zeitpunkt der Entscheidungsverkündung nicht der letze Zeitpunkt ist, bis zu dem die Parteien noch vortragen können: "Dieser Zeitpunkt liegt früher, damit die entscheidende Stelle die zu erlassende Entscheidung aufgrund des abgeschlossenen Vortrags der Parteien beraten und nach Beratung treffen kann." Selbst wenn die Debatte in Ausnahmefällen wiedereröffnet werden könnte, müssen die Beteiligten, solange keine Wiedereröffnung erfolgt ist, davon ausgehen, dass die Entscheidung nach der Beratung getroffen werden kann.
In R 8/16 behaupte der Antragsteller eine schwerwiegende Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör und stützte sich dabei teilweise darauf, dass die Kammer in ihrer Entscheidung nicht erläutert hatte, was aus den Anträgen geworden ist, die vor der Endentscheidung der Kammer vom Antragsteller zurückgenommen und ersetzt wurden. Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer hätte die Angabe von Gründen zu zurückgenommenen Anträgen zu einem Einwand nach Art. 113 (2) EPÜ führen können.
- Rechtsprechung 2019