4.3.8 Angeblich überraschende Entscheidungsbegründung
In R 6/18 beanstandete der Antragsteller (Patentinhaber), dass die Feststellung der Kammer in der zu überprüfenden Entscheidung, wonach der zweite Hilfsantrag eine unzulässige Erweiterung enthalte, unter Verletzung seines rechtlichen Gehörs getroffen wurde. Er behauptete, die Entscheidung basiere auf nicht erörterten Passagen der Beschreibung, auf die zuvor weder die Einsprechenden noch die Kammer eingegangen seien. Die Große Beschwerdekammer befand, dass es nicht überraschend sei, wenn die Kammer bei der Entscheidung darüber, ob eine eindeutige Offenbarung der beanspruchten Erfindung vorliegt, nicht nur die vom Antragsteller genannte Passage im engeren Sinn betrachtet, sondern auch die direkt daran anschließenden Sätze. Die Beteiligten müssten sich darüber im Klaren sein, dass die Frage der unzulässigen Erweiterung generell nicht nur anhand isolierter Passagen der Beschreibung entschieden werden kann, sondern eine umfassendere Analyse der Anmeldungsunterlagen erfordert.
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Unter "Gründe" im Sinne des Art. 113 (1) EPÜ werden die wesentlichen rechtlichen und tatsächlichen Gründe verstanden, auf denen eine Entscheidung beruht (s. Kapitel III.B.2.3.2 "Bedeutung von 'Gründe'").
Die Kammern sind zwar nicht verpflichtet, den Beteiligten im Voraus alle Entscheidungsgründe im Einzelnen darzulegen (s. dieses Kapitel V.B.4.3.5), doch verlangt Art. 113 (1) EPÜ, dass Entscheidungen nur auf Gründe gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. In R 3/13 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dies impliziere, dass ein Beteiligter in der Entscheidungsbegründung nicht durch bisher unbekannte Gründe und Beweismittel überrascht werden darf (s. auch R 15/09, R 21/10).
In R 3/10, R 15/11 und R 16/13 wurde dem Überprüfungsantrag wegen einer überraschenden Begründung, zu der die Beteiligten sich nicht hatten äußern können, stattgegeben (s. dieses Kapitel V.B.4.3.19). Dagegen war die Große Beschwerdekammer in der Sache R 8/17 der Auffassung, dass die Kammer anhand der vorgebrachten Gründe ihre eigenen Schlüsse ziehen dürfe.
- Rechtsprechung 2019