3.2.1 Einspruchsbeschwerdeverfahren
T 184/17 × View decision
Reasons 4
In T 184/17 brachte der Beschwerdegegner (Einsprechende) erstmals einen Einwand wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit vor, der weder in der Einspruchsschrift erhoben und substantiiert noch im Einspruchsverfahren erörtert worden war. Der Beschwerdeführer (Patentinhaber) argumentierte, dieser Einwand stelle einen neuen Einspruchsgrund dar, und war mit dessen Einführung in das Beschwerdeverfahren nicht einverstanden, s. G 10/91. Gemäß G 10/91 (ABl. EPA 1993, 408) kann ein neuer Einspruchsgrund (der weder in der Einspruchsschrift vorgebracht und substantiiert noch im Einspruchsverfahren erörtert worden war) in der Beschwerdephase grundsätzlich nicht mehr in das Verfahren eingeführt werden. Die Große Beschwerdekammer befand, dass eine berechtigte Ausnahme von diesem Grundsatz dann vorliegt, wenn der Patentinhaber mit der Einführung einverstanden ist. Die Kammer erklärte, dass sich der neue Einwand auf dieselben Passagen und Lehren des Dokuments stützte wie der erfolglose Neuheitseinwand, der ordnungsgemäß mit der Einspruchsschrift erhoben und begründet worden war. Das heißt, der in der Beschwerde vorgebrachte Angriff auf die erfinderische Tätigkeit blieb innerhalb des Tatsachen- und Beweisrahmens, auf den sich der Einsprechende in der Einspruchsschrift unter Anführung des Art. 100 a) EPÜ in Bezug auf mangelnde Neuheit gestützt hatte. Die Kammer warf die Frage auf, ob unter diesen besonderen Umständen der neue Einwand weiterhin unter den Grundsatz von G 10/91 fiel oder ob er ohne die Zustimmung des Patentinhabers in das Beschwerdeverfahren zugelassen werden konnte. Entscheidend war nach Auffassung der Kammer, dass Argumente für mangelnde Neuheit und für mangelnde erfinderische Tätigkeit im Rahmen derselben Tatsachen und Beweismittel vorgebracht wurden, d. h. dass die vom Einsprechenden für beide Einwände angeführten Passagen und Lehren sowie der Kern der Argumentation identisch waren und sich nur die daraus gezogenen rechtlichen Schlussfolgerungen unterschieden. Wie die Kammer befand, kann ein Einwand wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit, auch wenn er weder in der Einspruchsschrift erhoben und begründet noch im Einspruchsverfahren erörtert wurde, ausnahmsweise ohne die Zustimmung des Patentinhabers im Beschwerdeverfahren geprüft werden, wenn er im Tatsachen- und Beweisrahmen eines Neuheitseinwands bleibt, der in der Einspruchsschrift ordnungsgemäß vorgebracht und begründet wurde. Dies bedeutet nicht, dass der vom gleichen Stand der Technik ausgehende Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit stets implizit in einem ordnungsgemäß begründeten Neuheitseinwand enthalten ist. Dies gilt ausschließlich für Fälle wie den vorliegenden, in dem zunächst im Einspruchsverfahren auf der Grundlage eines bestimmten Dokuments und darin zitierter Passagen ein wirksamer Neuheitseinwand vorgebracht wurde, und dann im Beschwerdeverfahren allein auf der Grundlage dieses Dokuments und dieser Passagen ein Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit erhoben wird, wobei die Tatsachen und Beweismittel im Wesentlichen identisch sind.
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Im Beschwerdeverfahren dürfen neue Einspruchsgründe nur mit dem Einverständnis des Patentinhabers geprüft werden. Die Beschwerdekammer darf in ihrer Entscheidung sachlich in keiner Weise auf einen neuen Einspruchsgrund eingehen, wenn der Patentinhaber seiner Einführung in das Verfahren nicht zugestimmt hat. Zulässig ist dann nur der Hinweis, dass die Frage aufgeworfen worden ist (s. G 10/91 und G 9/91, ABl. 1993, 420; G 1/95, ABl.1996, 615).
Zur Einführung eines neuen Einspruchsgrunds im Einspruchsverfahren s. Kapitel, IV.C.3.4.
In T 1571/12 gab der Patentinhaber in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer sein Einverständnis zu der Einführung des neuen Einspruchsgrundes der mangelnden Ausführbarkeit der Erfindung (Art. 100 b) EPÜ). Die Kammer verwies den Fall an die Vorinstanz zurück, um die hochrelevante Frage der ausreichenden Ausführbarkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 zu klären.
In T 350/13 hatte der Einsprechende argumentiert, der Patentinhaber habe implizit seine Zustimmung im Hinblick auf Art. 100 c) EPÜ gegeben, indem er auf die Einwände des Einsprechenden geantwortet habe. Dies war jedoch nicht ausreichend, um diesen Einspruchsgrund zuzulassen. Auch wenn der Patentinhaber irgendwann inhaltlich auf den neuen Grund eingegangen ist, kann dies nicht als implizites oder bindendes Indiz dafür ausgelegt werden, dass er der Einführung dieses Grunds in das Beschwerdeverfahren zustimmt.
Wenn eine Beschwerde allerdings keinen Zusammenhang mit der Begründung der angefochtenen Entscheidung (mangelnde erfinderische Tätigkeit) aufweist und sich, gestützt auf eine neue Entgegenhaltung, nur auf einen neuen Einspruchsgrund (mangelnde Neuheit) bezieht, widerspricht dies den in G 9/91 und G 10/91 (ABl. 1993, 408 und 420) aufgestellten Grundsätzen, wonach der rechtliche und faktische Rahmen bei einer Beschwerde derselbe sein muss wie beim Einspruchsverfahren. Sie kommt einem neuen Einspruch gleich und ist somit unzulässig (T 1007/95, ABl. 1999, 733; T 27/13).
In T 27/13 stellte die Kammer fest, dass die Beanstandung unter Art. 83 EPÜ in der Beschwerdebegründung einen neuen Einspruchsgrund gemäß Art. 100 b) EPÜ darstellte, der außerhalb des rechtlichen Rahmens des Einspruchsverfahrens fiel. Im Lichte der Ausführungen in G 10/91 bezüglich des Rechtscharakters des Einspruchs- und Einspruchsbeschwerdeverfahrens und der besonderen Bedeutung, die den Einspruchsgründen zugesprochen wird, indem sie den rechtlichen Rahmen festlegen, innerhalb dessen die materiellrechtliche Prüfung des Einspruchs grundsätzlich durchzuführen ist, wies die Kammer darauf hin, dass sie die Zulässigkeit der vorliegenden Beschwerde nur dann bejahen kann, wenn bei Einreichung der Beschwerde der gleiche Einspruchsgrund zugrunde gelegt wird. Erst dann kann die Diskussion über die potenzielle Einführung eines neuen, zusätzlichen Einspruchsgrundes stattfinden. Die Beschwerde war daher unzulässig.
In T 1029/14 hatte der Beschwerdeführer das Argument, der Gegenstand des Anspruchs 1 sei nicht erfinderisch, erstmals im Beschwerdeverfahren vorgebracht, und zwar zwei Arbeitstage vor der mündlichen Verhandlung. Dieser Einwand wurde gemäß Art. 13 (3) VOBK 2007 nicht zum Verfahren zugelassen. Die Kammer stellte ferner infrage, ob der von D1 als nächstliegendem Stand der Technik ausgehende Angriff im Beschwerdeverfahren ohne Zustimmung des Patentinhabers überhaupt erörtert werden könne. Der Beschwerdeführer argumentierte, dass der auf D1 basierende Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit keinen neuen Einspruchsgrund darstelle und im Beschwerdeverfahren ohne Zustimmung des Patentinhabers geprüft werden könne, weil D1 bereits für einen Neuheitsangriff herangezogen worden sei. Zur Stützung dieses Arguments verwies er auf T 131/01 und T 597/07. In T 131/01 – so die Kammer – hatte der Einsprechende jedoch bereits in der Einspruchsschrift für den Fall, dass der beanspruchte Gegenstand für neu befunden würde, geltend gemacht, dass dieser nicht erfinderisch sei. T 131/01 unterschied sich deshalb vom vorliegenden Fall, in dem der Beschwerdeführer im Einspruchsverfahren nicht auf ein Naheliegen des beanspruchten Gegenstands gegenüber von D1 hingewiesen hatte, sollte dieser Gegenstand für neu befunden werden. Die Situation in T 597/07 ähnelte der in T 131/01, wo die erfinderische Tätigkeit ebenfalls im Einspruchsverfahren erörtert worden war. Die Kammer kam deshalb zu dem Schluss, dass der vorliegende Sachverhalt von denjenigen in T 131/01 und T 597/07 zu unterscheiden sei, und verwies stattdessen auf den ähnlichen Fall T 448/03, wo die erfinderische Tätigkeit im Einspruchsverfahren überhaupt nicht und dann erstmals im Beschwerdeverfahren erörtert wurde. In T 448/03 wurde im Einklang mit den in T 131/01 dargelegten Grundsätzen entschieden, dass ein Einwand betreffend die erfinderische Tätigkeit als neuer Grund zu betrachten ist, wenn er im Beschwerdeverfahren zum ersten Mal erhoben wird, unabhängig davon, ob das für den Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit herangezogene Dokument dasselbe ist, das zuvor für den Neuheitseinwand verwendet wurde.