4. Verspätetes Vorbringen
Übersicht
T 1525/17 × View decision
Nichtzulassung und Nichtberücksichtigung verspätet vorgebrachter Tatsachen und Beweismittel sind Synonyme. Es ist daher in sich widersprüchlich, verspätet eingereichte Dokumente einerseits bei einer eingehenden Prüfung der Patentierbarkeitsvoraussetzungen zugrunde zu legen, damit also in der Sache zu berücksichtigen, und andererseits zu erklären, diese würden nicht in das Verfahren zugelassen (Gründe, Punkt 4).
T 2734/16 × View decision
1. Eine neue Angriffslinie auf die erfinderische Tätigkeit, die als Reaktion und unter Verwendung der von der Patentinhaberin mit der Einspruchserwiderung eingereichten Dokumente verfolgt wird, ist nicht per se als verspätet anzusehen. Sie kann aus Gründen der Waffengleichheit in das Einspruchsverfahren zugelassen werden, auch wenn die Dokumente im Ergebnis nicht relevanter als andere Dokumente sind (Siehe Punkt 1.4.1).
2. Das späte Einreichen von zufällig bekannt gewordenen Entgegenhaltungen ist nicht schon allein deswegen zulässig, weil sie in der japanischen Sprache verfasst sind und deren Auffindbarkeit deswegen unter Umständen erschwert gewesen sein mag. Dies gilt umso mehr, wenn dem Einreichenden die Bedeutung japanischer Unternehmen auf dem fraglichen technischen Gebiet bekannt war und deshalb Veranlassung zu rechtzeitigen umfassenden Recherchen bestand (Siehe Punkt 1.4.2).
T 1551/14 × View decision
Legitime Reaktionen auf die Änderung der Verfahrenslage (hier: Einreichung einer eidesstattlichen Erklärung nach Einreichung eines neuen Hilfsantrags) sind grundsätzlich zuzulassen. Der Einwand, dass sie zum bisherigen Vortrag im Widerspruch stehen, kann eine Nichtzulassung in der Regel nicht rechtfertigen (siehe Punkt 3.2 der Gründe). Zurückverweisung mit der Auflage, die Zeugeneinvernahme fortzusetzen, ggf. unter Eid vor einem nationalen Gericht (siehe Punkte 8.5 und 9 der Gründe).
In T 2734/16 stellte die Kammer fest, dass eine neue Angriffslinie auf die erfinderische Tätigkeit, die als Reaktion und unter Verwendung der vom Patentinhaber mit der Einspruchserwiderung eingereichten Dokumente verfolgt wird, nicht per se als verspätet anzusehen ist. Sie kann aus Gründen der Waffengleichheit in das Einspruchsverfahren zugelassen werden, auch wenn die Dokumente im Ergebnis nicht relevanter als andere Dokumente sind. Im vorliegenden Fall hatte der Patentinhaber geltend gemacht, dass Großfräsen, von denen die mit der Einspruchserwiderung eingereichten Dokumente Beispiele darstellen sollten, den nächstliegenden Stand der Technik bildeten. Ausgehend hiervon war dem Beschwerdeführer im Rahmen der Waffengleichheit zuzugestehen, die ihm erst durch von der Gegenseite neu eingereichte Dokumente zur Kenntnis gebrachten Tatsachen in seinem eigenen Sinne aufzugreifen und zu einem Gegenangriff mit einer neuen Angriffslinie gegen die erfinderische Tätigkeit zu verwenden. Da dieser Gegenangriff erst möglich geworden war, nachdem der Beschwerdegegner diese Dokumente zu seiner Verteidigung eingereicht hatte, erschien es der Kammer bei Abwägung aller Umstände nicht sachgerecht, die Zulassung der neuen Angriffslinie unter dem Gesichtspunkt der Verspätung und der mangelnden Relevanz der Dokumente, auf die sie gestützt war, abzulehnen. Siehe auch Kapitel V.A.6.4 "Verfahrensstand – Verfahrensökonomie – VOBK 2007".
Einvernahme von vier Zeugen in einer ersten mündlichen Verhandlung schriftlich fortgesetzt. Der Patentinhaber reichte einen neuen Hilfsantrag ein, in dem der Gegenstand der beiden unabhängigen Ansprüche durch ein neues Merkmal eingeschränkt wurde. Nach Ladung zur zweiten mündlichen Verhandlung reichte der Einsprechende innerhalb des nach R. 116 EPÜ vorgegebenen Zeitraums eine eidesstattliche Erklärung eines der vernommenen Zeugen ein und bot eine ergänzende Zeugeneinvernahme an. Die Einspruchsabteilung entschied, das Zeugenangebot nicht wahrzunehmen und die eidesstattliche Versicherung nicht zum Verfahren zuzulassen. Die Kammer sah jedoch in der eidesstattlichen Erklärung, die Fragen behandelte, die erst mit der Einreichung des Hilfsantrages relevant geworden waren, eine direkte und fristgerechte Reaktion des Beschwerdeführers (Einsprechenden), die daher nicht als verspätet gelten konnte. Sie befand, dass die Einspruchsabteilung mit ihrer Entscheidung, das Dokument nicht zuzulassen, obwohl der Hilfsantrag zugelassen wurde, dem Beschwerdeführer das ihm zustehende rechtliche Gehör verweigert und somit einen Verfahrensfehler begangen hatte. Die Bedenken des Beschwerdeführers, dass die Erklärung im Widerspruch zum bisherigen Vortrag stehe, teilte die Kammer nicht. Jedenfalls könne aber ein Vorliegen solcher Widersprüche nicht rechtfertigen, die Zulassung eines Vortrags, der eine legitime Reaktion auf eine Änderung des Vortrags der Gegenpartei darstellt, von vornherein zu verweigern. Die Kammer stellte aber auch fest, dass mehrere der Aussagen in der eidesstattlichen Erklärung sehr genau dem Wortlaut des neuen Hilfsantrags entsprachen. Wegen der Bedeutung der vom Zeugen genannten Punkte für die Patentfähigkeit und weil diese Punkte nur durch die eidesstattliche Versicherung gestützt seien, sei die Frage der Glaubwürdigkeit des Zeugen entscheidend. Die Frage lasse sich nur durch eine erneute Einvernahme des Zeugen klären, gegebenenfalls unter Eid vor einem nationalen Gericht (R. 119 und 120 (2) EPÜ). Die Kammer verwies die Angelegenheit daher an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung mit der Auflage, die Beweisaufnahme mit dem betreffenden Zeugen fortzusetzen.
In T 1525/17 war die Einspruchsabteilung der Auffassung, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 in der erteilten Fassung u. a. erfinderisch gegenüber E1 und E2 in Kombination mit E3, E4, E5 oder E6 sei. Die Einspruchsabteilung ließ aber die verspätet eingereichten Entgegenhaltungen E5 und E6 nicht zu, weil sich die Entscheidung durch deren Berücksichtigung nicht ändern würde. Die Kammer führte aus, dass die Entscheidung, bestimmte verspätete Tatsachen oder Beweismittel nicht zu berücksichtigen, auch als deren Nichtzulassung bezeichnet wird. Nichtzulassung und Nichtberücksichtigung verspätet vorgebrachter Tatsachen und Beweismittel sind Synonyme. Die Kammer wies darauf hin, dass es in sich widersprüchlich ist, verspätet eingereichte Dokumente einerseits bei einer eingehenden Prüfung der Patentierbarkeitsvoraussetzungen zugrunde zu legen, damit also in der Sache zu berücksichtigen, und andererseits zu erklären, diese würden nicht zum Verfahren zugelassen, wie die Einspruchsabteilung dies vorliegend getan hatte: Die eingehende Sachprüfung der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigte die Dokumente E5 und E6 unter allen Gesichtspunkten. Der Umstand, dass eine Prüfung in der Sache stattgefunden hat, führt regelmäßig dazu, dass diese auch im Beschwerdeverfahren von der Kammer vollumfänglich überprüfbar ist bzw. dass der Kammer jedenfalls eine Nichtzulassung nach Art. 12 (4) VOBK 2007 verwehrt ist, die sich auf den Umstand einer vermeintlichen, in Wahrheit aber im Selbstwiderspruch stehenden und daher ermessensfehlerhaften Nichtzulassung durch die Vorinstanz stützt (s. T 2324/14 und T 2026/15).
In T 2053/13 hatte der Beschwerdeführer (Einsprechende) seine von der Lehre des Dokuments D3 ausgehende Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit erstmals am Tag der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vorgelegt. Das Dokument D3 selbst hatte er zusammen mit der Einspruchsschrift eingereicht, allerdings nicht als nächstliegenden Stand der Technik, sondern nur als Erwähnung in einer Fußnote zu einer untergeordneten Frage. Die Kammer verwies darauf, dass Argumente laut G 4/92 (ABl. EPA 1994, 149) eine Untermauerung bereits vorgebrachter Tatsachen und Rechtsgründe sind. Nach Auffassung der Kammer hatte der Beschwerdeführer nicht einfach ein zusätzliches Argument zur Untermauerung einer bereits bekannten Argumentation in einem feststehenden faktischen Kontext vorgelegt, sondern seinen Sachvortrag geändert. Mit der fraglichen Eingabe wurde ausgehend von der Behauptung, das Dokument D3 sei ein erfolgversprechendes Sprungbrett zur beanspruchten Erfindung, eine gänzlich neue Argumentation eingeführt. Somit bezog sich die Eingabe des Beschwerdeführers auf einen neuen behaupteten Sachverhalt. Die Einreichung eines Beweismittels bedeutet nicht, dass jeder potenziell daraus herleitbare behauptete Sachverhalt oder Einwand auch zum Verfahren eingeführt wird. Außerdem befand die Kammer, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen gemäß Art. 114 (2) und R. 116 (1) EPÜ in angemessener Weise ausgeübt hat, als sie die neue Eingabe des Beschwerdeführers (und damaligen Einsprechenden) nicht zum Verfahren zuließ.
4. Verspätetes Vorbringen
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
- T 879/18
- T 1525/17
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