2.3.3 Allgemeine Anspruchsauslegung
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In der Entscheidung T 190/99 wird ausgeführt, wie ein erteilter Anspruch für die Zwecke des Art. 123 (3) EPÜ auszulegen ist. Der Fachmann sollte bei der Prüfung eines Anspruchs unlogische oder technisch unsinnige Auslegungen ausschließen. Er sollte versuchen, durch Synthese, also eher aufbauend als zerlegend, zu einer Auslegung des Anspruchs zu gelangen, die technisch sinnvoll ist und bei der die gesamte Offenbarung des Patents berücksichtigt wird (Art. 69 EPÜ). Das Patent ist mit der Bereitschaft auszulegen, es zu verstehen, und nicht mit dem Willen, es misszuverstehen (diese Entscheidung wird sehr häufig zitiert, unlängst beispielsweise in T 1084/10, T 1190/11, T 1009/12, T 2002/13, T 640/14).
In T 2002/13 kam die Kammer bei der Prüfung der Einhaltung des Art. 123 (2) EPÜ zu dem Schluss, dass T 190/99 unlogische oder technisch unsinnige Auslegungen eines sonst technisch sinnvollen Merkmals eines Anspruchs ausgeschlossen hatte. Nach der Rechtsprechung ist es dem Leser jedoch nicht erlaubt, ein unlogisches oder technisch unrichtiges Merkmal eines Anspruchs zu ignorieren, um ein solches Merkmal korrekt auszulegen. Wenn ein Anspruch also widersprüchliche Merkmale aufweist, kann dieser Widerspruch nicht aufgelöst werden, indem die technisch unrichtigen Merkmale einfach ignoriert und nur die technisch sinnvollen Merkmale berücksichtigt werden.
In T 287/11 stellte sich die Frage, ob die Ansprüche gemäß dem Hauptantrag auch Stoffgemische oder Verfahren umfassten, die nicht unter die Ansprüche in der erteilten Fassung fielen. Die Kammer prüfte die vom Beschwerdeführer angeführte Entscheidung T 999/10, in der festgestellt worden war, dass es in Anbetracht der kaskadenartigen Formulierung des Anspruchs keinen Zweifel an der "Absicht" des Patentinhabers gebe, dass im Klebstoff keine anderen Blockcopolymere als solche des Typs SIS enthalten sein sollten. Zu dem ihr vorliegenden Fall stellte die Kammer fest, dass für die Auslegung des Schutzbereichs allerdings nicht die Absicht des Verfassers eines Anspruchs maßgeblich ist, da es sich hierbei um ein subjektives Kriterium handelt, sondern vielmehr die in einschlägigen Fachkreisen allgemein anerkannte Bedeutung der in diesem Anspruch definierten technischen Merkmale.
In T 1825/13 warf die Kammer die Frage auf, ob der Ausdruck "PQCA of a printing press" (Vorrichtung zur Druckqualitätskontrolle von einer Druckmaschine) auf die PQCA (printing quality checking apparatus) als solche zu beziehen sei, im Sinne von "PQCA for a printing press" (Vorrichtung zur Druckqualitätskontrolle für eine Druckmaschine), d. h. im Sinne einer PQCA die für eine anspruchsgemäße Druckmaschine geeignet ist ("teilweise Auslegung"), oder auf eine Druckmaschine mit PQCA zu beziehen sei ("ganzheitliche Auslegung"). In ihrer vorläufigen Stellungnahme hatte die Kammer die "teilweise Auslegung" befürwortet. In ihrer Entscheidung kam die Kammer jedoch zu dem Schluss, dass einige kennzeichnende Merkmale für die PQCA als solche nicht relevant seien und dass dies Zweifel an der Angemessenheit der teilweisen Auslegung aufwerfe. Um den Schutzumfang des Anspruchs zu klären, griff die Kammer auf die Beschreibung zurück, in der es heißt: "invention relates to a printing press having ... a PQCA ..." (die Erfindung bezieht sich auf eine Druckmaschine mit ... einer PQCA ...). Zudem wies die Kammer darauf hin, dass während des Prüfungsverfahrens der ganzheitlichen Auslegung der Vorzug gegeben worden sei. Angesichts des Wortlauts des Patents in der erteilten Fassung und um Übereinstimmung mit dem Erteilungs- und dem Einspruchsverfahren zu erreichen, schloss sich die Kammer der ganzheitlichen Auslegung an. In der Beurteilung nach Art. 123 (3) EPÜ hatte die Kammer in ihrer vorläufigen Stellungnahme darauf hingewiesen, dass das Merkmal "by heat" (durch Wärme) in Bezug auf eine Trocknungsvorrichtung mit der Druckmaschine in Verbindung stehe, aber nicht mit der PQCA; daher habe die Streichung dieses Merkmals nicht gegen Art. 123 (3) EPÜ verstoßen. In ihrer Entscheidung auf der Grundlage der ganzheitlichen Auslegung erweiterte die Streichung des Merkmals jedoch den Schutzbereich des Patents.