3. Klarheit der Ansprüche
3.1. Einführung und allgemeine Grundsätze
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Die Patentansprüche sind nicht deutlich gefasst, wenn sie den Schutzbereich nicht genau erkennen lassen (T 165/84, T 6/01). Die Patentansprüche sollen in sich widerspruchsfrei sein (s. T 2/80, ABl. 1981, 431). Sie müssen für einen Fachmann in sich deutlich sein, so dass er nicht den Inhalt der Beschreibung hinzuziehen muss (T 2/80, T 1129/97, ABl. 2001, 273; T 2006/09; T 1253/11; T 355/14). In G 1/04 (ABl. 2006, 334) stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass die Bedeutung der wesentlichen Merkmale für den Fachmann schon allein aus dem Wortlaut des Anspruchs klar hervorgehen sollte (s. auch T 342/03, T 2091/11, T 630/14, T 1140/14, T 1957/14). Die Beschreibung wird bei der Auslegung der Ansprüche herangezogen und ist in einigen Fällen auch bei der Prüfung von Deutlichkeit und Knappheit berücksichtigt worden (s. dieses Kapitel II.A.6.3.).
In der Grundsatzentscheidung T 728/98 (ABl. 2001, 319) stellte die Kammer fest, dass aus dem Erfordernis der Rechtssicherheit folgt, dass ein Anspruch nicht als deutlich im Sinne von Art. 84 EPÜ 1973 angesehen werden kann, wenn er ein unklares technisches Merkmal enthält (hier: "im Wesentlichen rein"), für das es auf dem betreffenden Fachgebiet keine allgemein anerkannte Bedeutung gibt. Dies gelte umso mehr, als das unklare Merkmal für die Abgrenzung des beanspruchten Gegenstands gegenüber dem Stand der Technik wesentlich sei (s. auch T 1399/11). Ebenso befand die Kammer in T 226/98 (ABl. 2002, 498), dass das Merkmal "als ein Arzneimittel" zur Definition eines pharmazeutischen Reinheitsstandards in einem Anspruch auf ein Erzeugnis als solches (hier: Famotidin Form B) diesen Anspruch unklar machte, weil keine allgemein anerkannte quantitative Definition für den angeblichen Reinheitsstandard vorlag.
In T 586/97 war der Hauptanspruch auf eine Aerosolzusammensetzung gerichtet, die ein Treibgas und einen nicht definierten Wirkstoff umfasste. In dem Fall, dass ein wesentlicher Bestandteil einer chemischen Zusammensetzung willkürlich als "Wirkstoff" bezeichnet werden kann oder nicht, variiert nach Auffassung der Kammer die Bedeutung dieses Merkmals. Wird die Öffentlichkeit darüber im Zweifel gelassen, wie zwischen unter diesen Anspruch fallenden und nicht darunter fallenden Zusammensetzungen unterschieden werden soll, so widerspricht dies dem Grundsatz der Rechtssicherheit. Daher erfüllte der streitige Anspruch die nach Art. 84 EPÜ 1973 vorgeschriebenen Klarheitserfordernisse nicht. S. auch T 642/05, T 134/10.
In T 1045/92 betrafen die Ansprüche eine "härtbare Zweikomponentenzusammen-setzung, enthaltend [...]". Die Kammer war der Ansicht, eine "härtbare Zweikomponentenzusammensetzung" sei einem Polymerfachmann als Handelserzeugnis ebenso geläufig wie ein Gegenstand des täglichen Gebrauchs der breiten Öffentlichkeit. Daher sei der Anspruch durchaus klar.
In den Entscheidungen T 1129/97 (ABl. 2001, 273) und T 274/98 betonte die Kammer, dass das Erfordernis der Deutlichkeit nur dann erfüllt ist, wenn die beanspruchte Gruppe von chemischen Verbindungen/von anspruchsgemäßen Bestandteilen so definiert ist, dass der Fachmann die zu dieser Gruppe gehörenden Verbindungen/Bestandteile zweifelsfrei von denen unterscheiden kann, die ihr nicht zugehören (s. auch T 425/98 zur Formulierung "umfassend eine größere Menge").
In T 268/13 befand die Kammer, dass der Anspruch auf ein "Verfahren zur Herstellung eines [...] Dekorbandes mit [...] Struktur aus Text oder graphischem Symbol [...]" den Erfordernissen des Art. 84 EPÜ 1973 genügt. Zwar ließ sich nicht ganz allgemein und universell feststellen, was ein Symbol darstellt, aber im vorliegenden Fall war dennoch klar, ob ein bestimmtes Zeichen im gegebenen kulturellen, linguistischen oder technischen Kontext ein Symbol ist. Der Anspruch stellte also weder die Person, die eine Patentverletzung vermeiden will, noch den Verletzungsrichter vor unlösbare Aufgaben.
In T 1957/14 war die Kammer nicht überzeugt von der Argumentation des Beschwerdeführers, dass hinterlegtes Material die Beschreibung einer Sequenz ersetzen, d. h. als Alternative zu strukturellen Informationen dienen könne. Die Definition der wesentlichen Erfindungsmerkmale durch eine hinterlegte Inzuchtlinie, die erst analysiert werden müsste, um die relevanten Allele zu identifizieren, widersprach nach Auffassung der Kammer dem Prinzip, wonach die Bedeutung eines Anspruchs, einschließlich seiner wesentlichen Merkmale, für den Fachmann grundsätzlich aus dem Wortlaut des Anspruchs allein klar hervorgehen sollte.
In T 1845/11 kam die Kammer zum Schluss, dass der Begriff "asiatische Rasse" unklar sei. Dem Fachmann lägen keine klar definierten objektiven Kriterien für eine Einteilung von Patienten in Rassengruppen vor.
In T 651/05 stellte die Kammer fest, dass die Aufnahme von ungenauen Begriffen zu mangelnder Klarheit geführt hatte, da sie unterschiedliche, aber gleichermaßen gültige Auslegungen zuließen (s. auch T 621/03, T 127/04). In T 1534/10 enthielt ein Anspruch das Merkmal, "dass der Datenträger (1) mehrschichtig als Laminat aufgebaut ist und mindestens zwei Folien (4, 5) enthält, welche als Deckfolie (4) oder als Kernfolie (5) in den Schichtaufbau des laminierten Datenträgers integriert sind". Nach Ansicht der Kammer warf dieser Wortlaut durch die Vermischung von Plural ("mindestens zwei Folien (4, 5)") und Singular ("als Deckfolie (4) oder als Kernfolie (5)") eine Unklarheit hervor, da nicht ersichtlich sei, ob die mindestens zwei Folien jeweils als Deckfolie oder Kernfolie ausgebildet sind, oder ob sie zusammen eine neue Folie ergeben, die dann als Deckfolie oder Kernfolie ausgebildet ist.
Ist bei einer von mehreren Auslegungsmöglichkeiten eines vage formulierten Anspruchs ein Teil des beanspruchten Gegenstandes nicht ausreichend genug beschrieben, dass er ausgeführt werden könnte, so kann dieser Anspruch nach Art. 100 b) EPÜ 1973 beanstandet werden (T 1404/05, ebenfalls unter Kapitel II.C.8.1. "Artikel 83 EPÜ und Stützung durch die Beschreibung").
In T 762/90 wurde die Verwendung eines Warenzeichens als unklar angesehen, das eine ganze Reihe von Produkten bezeichnete, die sich entsprechend der Phase ihrer industriellen Entwicklung voneinander unterscheiden konnten. Die Kammer äußerte darüber hinaus Bedenken gegen die Verwendung einer solchen Bezeichnung, da es ungewiss sei, ob die Bedeutung des Warenzeichens bis zum Ende der Patentlaufzeit unverändert bleibe (s. auch T 939/92, T 270/11; ebenfalls unter Kapitel II.E.1.7.3 e) "Formulierung von Disclaimern – Klarheit"). Auch in T 480/98 befand die Kammer, dass ein im kennzeichnenden Teil des Anspruchs 1 genannter Markenartikel insofern keine klare technische Bedeutung hatte, als er sich auf eine Vielzahl von Erzeugnissen unterschiedlicher Zusammensetzung und Eigenschaften beziehen konnte. Somit lag mangelnde Klarheit vor, und der Anspruch war nicht zulässig. Nach Auffassung der Kammer in T 623/91 liegt jedoch keine Unklarheit und damit kein Verstoß gegen Art. 84 EPÜ 1973 vor, wenn eine Zusammensetzung unter Bezugnahme auf eine Handelsmarke oder eine Handelsbezeichnung ausgeschlossen wird, da bei einer Änderung des Bereichs der chemischen Zusammensetzung aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Handelsbezeichnung oder die Handelsmarke geändert würde.
Anspruch 2 der Anmeldung in der Sache T 363/99 enthielt im Oberbegriff einen Verweis auf eine deutsche Patentschrift. Die Kammer sah darin einen Verstoß gegen Art. 84 Satz 2 EPÜ 1973, da ohne Hinzuziehung des genannten Referenzdokuments der Umfang des Gegenstands, für den Schutz begehrt werde, nicht ermittelt werden könne. Demgegenüber falle nicht ins Gewicht, dass durch die Angabe der Veröffentlichungsnummer des Referenzdokuments die in Art. 84 EPÜ 1973 geforderte knappste Definition des Schutzgegenstands erreicht werden könne. Bei der sprachlichen Fassung eines Patentanspruchs sei stets die objektiv präziseste Form zu wählen (T 68/85, ABl. 1987, 228).
Komplexität alleine bedeutet nicht mangelnde Klarheit. Ist ein Anspruch nur komplex, so kann durchaus Klarheit nach Art. 84 EPÜ gegeben sein, sofern der beanspruchte Gegenstand und der Schutzumfang für den Fachmann für sich genommen oder unter Berücksichtigung der Beschreibung deutlich und eindeutig sind (s. T 574/96 zu Art. 84 EPÜ 1973). In T 1020/98 (ABl. 2003, 533) bestätigte die Kammer, dass die Erfüllung des Deutlichkeitserfordernisses gemäß Art. 84 EPÜ 1973 nicht von dem für die Feststellung erforderlichen Zeitaufwand abhängig ist, ob eine bestimmte Verbindung unter den Stoffanspruch fällt oder nicht. Dieses Erfordernis bietet keine Grundlage für die Beanstandung, ein Anspruch sei komplex. Deutlichkeit im Sinne dieser Bestimmung verlangt lediglich, dass die Patentansprüche den Gegenstand des Schutzbegehrens für den Fachmann, gegebenenfalls im Lichte der Beschreibung, eindeutig und unmissverständlich angeben.
In T 75/09 befand die Kammer, dass in Fällen, in denen höherrangige Anträge zurückgewiesen werden, weil ein allen Anträgen gemeinsames Merkmal den Erfordernissen von Art. 84 EPÜ nicht genügt, alle nachgeordneten Anträge, in denen dieses Merkmal weiterhin vorhanden ist, aus demselben Grund zurückgewiesen werden müssen.