2.2.8 Angabe von Tatsachen und Beweismitteln – Substantiierung der Einspruchsgründe
In T 623/18 warnte die Kammer vor einem zu strengen Ansatz. Sie betonte den Zweck der Erklärung nach R. 76 (1) und (2) c) EPÜ wie in G 9/91 und G 10/91 (ABl. EPA 1993, 408 und 420) erläutert, nämlich zum einen das Ausmaß und den Umfang des Einspruchs sowie den rechtlichen und faktischen Rahmen zu definieren, innerhalb dessen die materiellrechtliche Prüfung des Einspruchs grundsätzlich durchzuführen ist, und zum anderen dem Patentinhaber eine gute Gelegenheit zu bieten, seine Lage schon in einer frühen Verfahrensphase beurteilen zu können. Die Kammer sah keine Grundlage dafür, die Zulässigkeit des Einspruchs von der Bewertung sachlicher Fragen abhängig zu machen, und zwar insbesondere der Frage, ob ein Einwand lediglich mangelnde Klarheit betrifft oder den Einspruchsgrund nach Art. 100 b) EPÜ stützt. Eine Frage der Sachprüfung sei ferner auch die Definition des Fachmanns, für den die Erfindung gemäß Art. 100 b) EPÜ ausreichend deutlich und vollständig beschrieben sein muss und in Bezug auf den nach Art. 100 a) EPÜ in Verbindung mit Art. 56 EPÜ beurteilt werden muss, ob sie vom Stand der Technik nahegelegt wird.
In T 2037/18 hatte die Einspruchsabteilung den auf eine Vorbenutzung gestützten Einspruch wegen mangelnder Substantiierung als unzulässig verworfen. Sie begründete dies damit, dass Angaben fehlten, um die im Zeitraum rund um die Übergabe/Abnahme von Zügen in der Hersteller-Kunden-Beziehung implizit vorausgesetzte Vertraulichkeit zu widerlegen. Die Kammer teilte diese Auffassung nicht. Sie legte zunächst dar, dass nach den im Rahmen des EPÜ geltenden Regeln zur Darlegungs- und Beweislast jede Partei die ihr günstigen Tatsachen vorzutragen und zu beweisen hat (T 219/83, T 270/90). Die Kammer erläuterte, dass der Verkauf eines gebrauchsfertigen Gegenstands an einen Dritten der typische Fall der öffentlichen Zugänglichmachung ist (T 482/89), da der Dritte in der Regel daran interessiert ist, über den Gegenstand frei zu verfügen. Beim Verkauf eines Gegenstands an einen Kunden werden daher der Gegenstand und die an ihm erkennbaren technischen Merkmale öffentlich zugänglich, wenn er an den Käufer übergeben wird (positive Tatsache), es sei denn, der Käufer wäre durch eine Geheimhaltungsverpflichtung gebunden (negative Tatsache). Dementsprechend ist die Übergabe an einen Käufer durch den Einsprechenden vorzutragen und zu beweisen (T 326/93), die etwaige Bindung des Empfängers durch eine Geheimhaltungsvereinbarung aber vom Patentinhaber (T 221/91, T 969/90), wie dies auch durch den in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern (R 15/11, R 4/17) anerkannten Grundsatz "negativa non sunt probanda" zum Ausdruck kommt. Die Kammer stellte weiterhin fest, dass die Darlegungs- und Beweislast wechseln kann, dass der Wechsel der Beweislast jedoch erst durch den prima facie geführten Beweis oder den Vortrag eines eine tatsächliche Vermutung tragenden typischen Geschehensablaufs durch die primär beweisbelastete Partei ausgelöst wird (T 570/08). Der Vortrag des Patentinhabers kann daher zwar ggf. zur Entstehung einer sekundären Darlegungs- und Beweislast des Einsprechenden führen, dies jedoch nur "ex nunc" und damit ohne Auswirkung auf das Substantiierungserfordernis im Rahmen der Einspruchsschrift gemäß R. 76 (2) c), drittes Kriterium EPÜ. Nach Auffassung der Kammer konnte es im vorliegenden Fall dahinstehen, ob der Fall anders zu beurteilen wäre, wenn die Einsprechende selbst im Einspruch Umstände geschildert hätte, die eine der in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern anerkannten Vermutungen für die Existenz einer Vertraulichkeitsabrede begründen, da eine vergleichbare Konstellation vorliegend nicht gegeben war. Insbesondere bestand keine aus der Rechtsprechung der Kammern bekannte Vermutung, wonach zwischen Herstellern von Schienenfahrzeugen und Bahnbetreibergesellschaften bezüglich ausgelieferter und abgenommener Fahrzeuge in der Regel Vertraulichkeit vereinbart sei.
In T 16/14 hatte der Einsprechende (Beschwerdeführer) zur Substantiierung des Einspruchsgrunds nach Art. 100 a) EPÜ einen Autorenabzug eines Artikels aus einer Fachzeitschrift eingereicht. Die Einspruchsabteilung hatte eine mangelnde Substantiierung mit der Begründung angenommen, eine Veröffentlichung dieses einzigen angeführten Dokuments E1 sei nicht nachgewiesen worden. Der Beschwerdegegner machte geltend, zum Zeitpunkt der Einspruchseinlegung sei nicht bekannt gewesen, dass es sich bei E1 um einen Autorenabzug handele. Die Beschwerdekammer wies diese Argumentation zurück. Eine etwaige inhaltliche Diskrepanz zwischen dem eingereichten Autorenabzug und dem tatsächlich veröffentlichten Artikel wäre ohne Weiteres überprüfbar gewesen, da die Bezeichnung der Veröffentlichungsstelle des Dokuments E1 jedenfalls dergestalt war, dass eine Überprüfung ohne unzumutbaren Aufwand möglich war. Überdies hat der Beschwerdeführer bereits in der Einspruchsschrift die Vorlage des tatsächlich veröffentlichten Artikels angeboten und diesen Beweis auch angetreten (E1a). Die Kammer stellte ferner fest, dass das Dokument E1/E1a vor dem Prioritätstag (31. Oktober 2006) des Streitpatents der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war. Die Kammer kam daher zu dem Schluss, dass der Einspruchsgrund nach Art. 100 a) EPÜ im Ergebnis ausreichend substantiiert vorgetragen wurde.
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In T 134/88 befand die Kammer, dass der Einspruch der R. 55 c) EPÜ 1973 (R. 76 (2) c) EPÜ) entsprach, obwohl in ihm nicht auf alle Merkmale des angegriffenen Anspruchs eingegangen worden war. Zusammenfassend wurde festgestellt, dass ein Einspruch, der sich gegen das angebliche Fehlen von erfinderischer Tätigkeit bei einer Kombinationserfindung richtet, in der Regel unzulässig ist, wenn er sich nicht von der Bewertung eines Einzelmerkmals löst. Um zulässig zu sein, müsste er sich mit der Gesamterfindung oder doch wenigstens mit deren wesentlichem Gehalt auseinandersetzen, sodass durch die Angabe der den Einspruch stützenden Tatsachen ein Sachverhalt erkennbar wird, aufgrund dessen der Patentinhaber und die beurteilende Instanz in die Lage versetzt werden, den geltend gemachten Einspruchsgrund ohne eigene Ermittlungen abschließend zu beurteilen. Vorbringen, die unter keinen Einspruchsgrund subsumierbar sind, haben außer Betracht zu bleiben (s. auch z. B. T 1279/05, T 114/07, T 521/00, T 1074/05). Eine detaillierte, erschöpfende Erörterung von Sachverhalten, die sich Fachleute selbst erschließen können, ist für das Verständnis der Argumentation des Einsprechenden nicht notwendig und daher auch keine Voraussetzung für die Zulässigkeit des Einspruchs. S. auch T 534/98, wonach der Nachweis allgemeinen Fachwissens für die Substantiierung eines Einspruchs nicht erforderlich ist. Nach bisheriger herrschender Rechtsprechung ist ein Nachweis für die Behauptung, dass etwas zum allgemeinen Fachwissen gehört, nur erforderlich, wenn dies von einem anderen Beteiligten oder vom EPA in Zweifel gezogen wird.
In T 1014/09 betraf der Einspruch die Unzulässigkeit einer Änderung (Ersetzung von "Trägergehäuse" durch "Zwischengehäuse"), die "durch die ursprüngliche Offenbarung nicht gedeckt" sei. Die Kammer hatte zu prüfen, inwieweit dieser pauschale Verweis auf die ursprüngliche Offenbarung als ausreichend zur Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel im Sinne der R. 55 c) EPÜ 1973 (R. 76 (2) c) EPÜ) angesehen werden kann und inwieweit dabei die Bewertung der geänderten Ansprüche als "irreführend" als Hinweis darauf verstanden werden kann, dass durch die Änderung der technische Informationsgehalt unzulässig geändert bzw. erweitert worden ist. Die Kammer kam vorliegend zu dem Schluss, dass der in der Einspruchsschrift angegebene Sachverhalt sowie die zugehörige rechtliche Würdigung als ausreichende Substantiierung des Einspruchsgrunds nach Art. 100 c) EPÜ anzusehen waren.
Zur Frage der Zulässigkeit eines nur auf eine nachveröffentlichte Druckschrift gestützten Einspruchs wurde in T 185/88 (ABl. 1990, 451) von der Beschwerdekammer entschieden, dass eine formgerechte Einspruchsbegründung vorliegt, wenn die einzige als Beleg für das ausschließlich behauptete Fehlen erfinderischer Tätigkeit zitierte Entgegenhaltung (deutsche Patentschrift) zwar nach dem Anmeldetag bzw. Prioritätstag veröffentlicht worden ist, jedoch einen Hinweis auf die vor dem Anmeldetag bzw. Prioritätstag bekannt gewordene Veröffentlichung ("Offenlegungsschrift") enthält.
In T 864/04 musste die Kammer prüfen, ob die ausdrückliche Erwähnung von D1a in der Einspruchsschrift in Zusammenhang mit D1 durch die Angabe "(inter alia ausgeschieden aus US-PS Nr. 5,290,583)" hinreichend genau war, um es dem Patentinhaber zu ermöglichen, den Tag der Veröffentlichung des Dokuments zu ermitteln. Nach Auffassung der Kammer war das in der Tat der Fall, weil es keinen unzumutbaren Aufwand erfordert hätte, das Veröffentlichungsdatum von D1a zu ermitteln. Sie befand den Einspruch für zulässig.
In T 623/18 warnte die Kammer vor einem zu strengen Ansatz. Sie betonte den Zweck der Erklärung nach R. 76 (1) EPÜ und R. 76 ((2) c) EPÜ wie in G 9/91 und G 10/91 (ABl. 1993, 408 und 420) erläutert, nämlich zum einen das Ausmaß und den Umfang des Einspruchs sowie den rechtlichen und faktischen Rahmen zu definieren, innerhalb dessen die materiellrechtliche Prüfung des Einspruchs grundsätzlich durchzuführen ist, und zum anderen dem Patentinhaber eine gute Gelegenheit zu bieten, seine Lage schon in einer frühen Verfahrensphase beurteilen zu können. Die Kammer sah keine Grundlage dafür, die Zulässigkeit des Einspruchs von der Bewertung sachlicher Fragen abhängig zu machen, und zwar insbesondere der Frage, ob ein Einwand lediglich mangelnde Klarheit betrifft oder den Einspruchsgrund nach Art. 100 b) EPÜ stützt. Eine Frage der Sachprüfung sei ferner auch die Definition des Fachmanns, für den die Erfindung gemäß Art. 100 b) EPÜ ausreichend deutlich und vollständig beschrieben sein muss und in Bezug auf den nach Art. 100 a) EPÜ in Verbindung mit Art. 56 EPÜ beurteilt werden muss, ob sie vom Stand der Technik nahegelegt wird.
- Rechtsprechung 2019