5. Teil- und Mehrfachprioritäten
Übersicht
In ihrer Entscheidung T 437/14 vom 12. März 2019 berücksichtigte die Kammer die Antworten der Großen Beschwerdekammer auf ihre in der Sache G 1/16 (ABl. EPA 2018, A70) vorgelegten Fragen zu nicht offenbarten Disclaimern. Die Feststellungen der Kammer zur Zulässigkeit der nicht offenbarten Disclaimer sind unter II.E.1.2. dieser Veröffentlichung zusammengefasst. Bezüglich der Wirksamkeit des Prioritätsanspruchs und der Neuheit hatte der Einsprechende 3 argumentiert, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des neuen Hauptantrags nicht neu gegenüber D57 und D58 sei - zwei Teilanmeldungen, die auf die Anmeldung zurückgingen, auf der auch das Streitpatent basierte. Diese Teilanmeldungen offenbarten spezifische Verbindungen, die unter den Schutzbereich des Anspruchs 1 fielen, und beanspruchten wirksam die Priorität der früheren Anmeldung US 09/452,346. Anspruch 1 hingegen habe angesichts der aufgenommenen Disclaimer die Priorität von US 09/452,346 nicht wirksam beansprucht. In Bezug auf seinen Gegenstand gehörten D57 und D58 somit zum Stand der Technik nach Art. 54 (3) EPÜ. Nach Auffassung der Kammer wäre dieser Angriff nur unter zwei Bedingungen erfolgreich: mindestens eine Ausführungsform der Teilanmeldung(en) ist im Anspruch 1 enthalten, und Anspruch 1 genießt kein Prioritätsrecht und auch kein teilweises Prioritätsrecht aus US 09/452,346 für die Teile, die sich auf diese Ausführungsformen beziehen. In ihrer früheren Zwischenentscheidung hatte die Kammer bereits befunden, dass die Ansprüche des neuen Hauptantrags auf der Beschreibung der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung basierten. Die Beschreibung der Anmeldung war identisch mit der Beschreibung von US 09/452,346, deren Priorität beansprucht wurde. Lässt man also die Frage der Disclaimer außer Acht, so war der beanspruchte Gegenstand auch in der früheren Anmeldung offenbart. Hinsichtlich der Aufnahme der beiden Disclaimer in den Anspruch 1 verwies die Kammer auf Nummer 4 der Entscheidungsgründe von G 1/03 (ABl. EPA 2004, 413); nach ihrer Überzeugung leisteten die Disclaimer keinen technischen Beitrag und genügten den Erfordernissen des Art. 123 (2) EPÜ. Sie kam deshalb zu dem Schluss, dass dem Gegenstand des Anspruchs 1 die Priorität der früheren Anmeldung zustand. Soweit in D57 und D58 spezifische Verbindungen offenbart waren, die unter den Anspruch 1 fielen und wirksam die Priorität der früheren Anmeldung beanspruchten, genoss der Anspruch 1 ein teilweises Prioritätsrecht aus der früheren Anmeldung für dieselben spezifischen Verbindungen. Anspruch 1 war ein generischer "ODER"-Anspruch, der einen unmittelbar und eindeutig im Prioritätsdokument offenbarten alternativen Gegenstand umfasste und dem somit ein teilweises Prioritätsrecht für diesen alternativen Gegenstand im Sinne von G 1/15 zustand. Folglich war die oben genannte zweite Bedingung nicht erfüllt, und D57 und D58 bildeten für die Beurteilung der Neuheit keinen Stand der Technik nach Art. 54 (3) EPÜ.
5. Teil- und Mehrfachprioritäten
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Im Falle der wirksamen Beanspruchung von Teil- oder Mehrfachprioritäten kommen den Gegenständen der Nachanmeldung zwei oder mehr Zeitränge zu: Bei Teilpriorität hat der schon in der Voranmeldung offenbarte Teilgegenstand der Nachanmeldung den Zeitrang der Voranmeldung; für den überschießenden Teil ist das Anmeldedatum der Nachanmeldung maßgeblich. Bei Mehrfachprioritäten wird die Priorität zweier oder mehrerer Voranmeldungen beansprucht. In diesem Fall kommt einem Anspruch der Nachanmeldung jeweils der Zeitrang zu, den diejenige Voranmeldung hat, in der das in der Nachanmeldung Beanspruchte offenbart ist (s. auch unten Kapitel II.D.5.2.). Für einen Anspruch können auch mehrere Prioritäten in Anspruch genommen werden, sofern mehrere Gegenstände enthalten sind (Art. 88 (2) Satz 2 EPÜ) (s. auch unten Kapitel II.D.5.3., sowie Zusammenfassung von G 1/15, ABl. 2017, A82, in Kapitel II.D.5.3.2).
- Rechtsprechung 2019