3.2.4 Offenkundige Vorbenutzung
Übersicht
In T 1833/14 ging es um die Bedingungen der Nacharbeitbarkeit gemäß G 1/92 (ABl. EPA 1993, 277), wobei nicht gefolgert werden konnte, dass der Fachmann das Produkt Rigidex®P450xHP60 ohne unzumutbaren Aufwand nacharbeiten konnte. Eine öffentliche Vorbenutzung ist dann Stand der Technik gemäß Art. 54 (2) EPÜ, wenn sie eine nacharbeitbare Offenbarung darstellt (T 977/93, ABl. EPA 2001, 84; T 370/02, T 2045/09, T 23/11 und T 301/94). Es ist auf dem Gebiet der Polymere allgemein bekannt, dass die Art des Katalysatorsystems, die Art des Reaktionssystems und die Verfahrensbedingungen die Eigenschaften des erzeugten Polymers entscheidend beeinflussen. Auf dem Gebiet der Polymere, wo Erzeugnisse und Zusammensetzungen oft mithilfe von Parametern definiert werden, wird das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung besonders sorgfältig analysiert, und dieselben Kriterien müssen angewandt werden, wenn es darum geht, ein in Verkehr gebrachtes Produkt ohne unzumutbaren Aufwand nachzuarbeiten. Damit das Produkt als Stand der Technik gelten konnte, war zu klären, ob der Fachmann in der Lage gewesen wäre, das Produkt als solches herzustellen, d. h. ein Muster, das mit Rigidex®P450xHP60 identisch ist und all dessen Eigenschaften (nicht nur die in Anspruch 1 beschriebenen) aufweist. Dies wurde jedoch vom Beschwerdeführer (Einsprechenden) nicht nachgewiesen. Vielmehr erklärte der Beschwerdeführer: "Noch schwieriger kann es sein (wenn der für das Originalprodukt verwendete Katalysator nicht bekannt ist), dieselben mechanischen Eigenschaften wie das Rigidex-Produkt zu erzielen".
In T 1409/16 handelte es sich bei der Erfindung um eine Waschmittelzusammensetzung. Der Beschwerdeführer (Einsprechende) brachte vor, dass die beanspruchte Zusammensetzung unter anderem wegen des im Handel erhältlichen CMC-Produkts "Finnfix® BDA", das in den Beispielen der Dokumente D1 bis D3 verwendet wurde, nicht neu sei. Durch Fraktionierung des genannten Finnfix® BDA habe er eine Fraktion F1 erhalten, und aufgrund der offenen Formulierung des Anspruchs 1 ("umfassend") umfassten alle Zusammensetzungen der Dokumente D1 bis D3, die Finnfix® BDA enthielten, auch die Fraktion F1 und seien damit für den Gegenstand des Anspruchs 1 neuheitsschädlich. Der Beschwerdegegner (Patentinhaber) machte geltend, die Tatsache, dass Finnfix® BDA fraktioniert werden könne, um eine künstlich verteilte CMC-Probe zu erhalten, die unter den Anspruch 1 falle, bedeute nicht, dass diese Information der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sei. Die Kammer erachtete die vom Beschwerdeführer vorgenommene Fraktionierung von Finnfix® BDA als eine Art Reverse Engineering, das auf einer rückschauenden Betrachtung basiere und eine besondere (im Sinne von G 1/92, ABl. EPA 1993, 277, "andere") Eigenschaft von Finnfix® BDA offenbare. Die durch dieses Vorgehen offenbarte Information entspreche aber nicht dem, was im Sinne der G 1/92 als bei einer Analyse der chemischen Zusammensetzung von Finnfix® BDA der Öffentlichkeit zugänglich gemacht gelten könnte. Daher entschied die Kammer, dass keines der Dokumente D1 bis D3 der Öffentlichkeit eine Zusammensetzung nach Anspruch 1 in der erteilten Fassung zugänglich gemacht hat. Siehe auch Kapitel II.A.1. "Auslegung mehrdeutiger Begriffe oder Bestätigung des Anspruchswortlauts".
3.2.4 Offenkundige Vorbenutzung
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
- Rechtsprechung 2019