2.4. Vorlage durch den Präsidenten des EPA
Übersicht
In G 3/19 (ABl. 2020, A119) formulierte die Große Beschwerdekammer die beiden in der Vorlage des EPA-Präsidenten enthaltenen Fragen zu einer einzigen Frage um, die den tatsächlichen Sachverhalt zum Ausdruck brachte: "Könnte unter Berücksichtigung der Entwicklungen, die nach einer Entscheidung der Großen Beschwerdekammer eingetreten sind, bei der eine Auslegung des Umfangs des Patentierbarkeitsausschlusses von im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren in Art. 53 b) EPÜ getroffen wurde, dieser Ausschluss negative Auswirkungen auf die Gewährbarkeit von auf Pflanzen, Pflanzenmaterial oder Tiere gerichteten Erzeugnisansprüchen oder Product-by-Process-Ansprüchen haben, wenn das beanspruchte Erzeugnis ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen wird oder das beanspruchte Verfahrensmerkmal ein im Wesentlichen biologisches Verfahren definiert?" Die Große Beschwerdekammer befand, dass die der Vorlage zugrunde liegenden Fragestellungen eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 112 (1) EPÜ betrafen, die nach einer einheitlichen Rechtsanwendung verlangt. Zur zweiten Zulässigkeitsvoraussetzung nach Art. 112 (1) b) EPÜ ("voneinander abweichende Entscheidungen" von "zwei Beschwerdekammern") stellte sie fest, dass der Begriff "voneinander abweichend" nach Art. 31 des Wiener Übereinkommens im Lichte des Ziels und Zwecks der Vorschrift ausgelegt werden muss (G 3/08, ABl. 2011, 10, Nrn. 7 ff. der Begründung; G 3/95, ABl. 1996, 169, Nr. 8 der Begründung). Zweck des Vorlagerechts des EPA-Präsidenten ist es, innerhalb des europäischen Patentsystems Rechtseinheit herzustellen. In Anbetracht dieses Zwecks der Vorlagebefugnis des Präsidenten ist der englische Begriff "different decisions" restriktiv im Sinne von "divergierende Entscheidungen" zu verstehen. Rechtsfortbildung als solche darf nicht zum Anlass einer Vorlage genommen werden, weil die Entwicklung der Rechtsprechung nicht immer geradlinig verläuft und frühere Ansätze verworfen oder modifiziert werden. Der EPA-Präsident brachte vor, dass der in T 1063/18 verfolgte Ansatz, wonach die Auslegung des Art. 53 b) EPÜ in den Entscheidungen G 2/12 (ABl. 2016, A27) und G 2/13 (ABl. 2016, A28) (nachstehend G 2/12) jegliche spätere von dieser Auslegung abweichende Klarstellung in der Ausführungsordnung ausschließe, sich von anderen Entscheidungen im Zusammenhang mit der EU-Biotechnologierichtlinie (z. B. T 272/95, ABl. 1999, 590; T 315/03, T 666/05 und T 1213/05) unterscheide. Die vorgenannten Entscheidungen lassen sich laut der Großen Beschwerdekammer so verstehen, dass ihnen zufolge eine nachgeordnete, aber später erlassene Vorschrift der Ausführungsordnung Auswirkung auf die Auslegung einer höherrangigen und früher erlassenen Vorschrift des Übereinkommens haben kann, unabhängig davon, dass Letztere in einer früheren Entscheidung einer Beschwerdekammer auf eine bestimmte Weise ausgelegt wurde. Die Kammer in T 1063/18 habe nicht geprüft, ob die Auslegung des Art. 53 b) EPÜ auf der Grundlage von Art. 31 (3) des Wiener Übereinkommens durch R. 28 (2) EPÜ beeinflusst werden könnte. Vielmehr habe sie festgestellt, dass R. 28 (2) EPÜ im Widerspruch zu der besonderen Auslegung des Art. 53 b) EPÜ stehe, die vor Erlass der Regel in der Entscheidung G 2/12 getroffen worden sei (Nrn. 24 bis 26 und 46 der Gründe), und dass der Verwaltungsrat nicht befugt sei, Art. 53 b) EPÜ mittels der R. 28 (2) EPÜ zu ändern (Nrn. 31 bis 36 der Gründe). Infolgedessen habe die Kammer R. 28 (2) EPÜ gemäß Art. 164 (2) EPÜ unberücksichtigt gelassen, weil sie ihrer Auffassung nach von der in einer früheren Entscheidung der Großen Beschwerdekammer getroffenen Auslegung abwich. In diesem Aspekt unterscheidet sich die Entscheidung von anderen vorgenannten Kammerentscheidungen, bei denen die Auswirkungen einer später erlassenen Vorschrift der Ausführungsordnung auf die Auslegung einer Vorschrift des Übereinkommens beurteilt wurden. Somit befand die Große Beschwerdekammer, dass es voneinander abweichende Entscheidungen zweier Beschwerdekammern über die Frage gab, ob eine Änderung der Ausführungsordnung sich auf die Auslegung eines Artikels des EPÜ auswirken kann. Die Vorlage des EPA-Präsidenten entsprach somit den Erfordernissen des Art. 112 (1) b) EPÜ und war innerhalb des Rahmens der von der Großen Beschwerdekammer neu formulierten Frage zulässig. Siehe auch Kapitel I.A.1. "Erzeugnisansprüche auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial".
2.4. Vorlage durch den Präsidenten des EPA
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
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