8.1. Neuheitskriterien für Ansprüche auf eine nicht medizinische Verwendung und Verfahrensansprüche, die ein Verwendungsmerkmal enthalten
T 1099/16 × View decision
In order to decide whether a claim to the use of a known compound for a particular purpose, based on a technical effect which is described in the patent, should be interpreted as including that technical effect as a functional technical feature according to G 2/88, the Board finds that G 2/88 does not require the technical effect to be described in the patent in a manner sufficiently clear and complete to make the actual achievement of that technical effect credible (Reasons 17). This finding applies even to a case where the ground for opposition under Article 100(b) EPC cannot be considered in the appeal proceedings (Reasons 24). If, for the assessment of inventive step, it has to be determined whether the purpose defined in the claim can be interpreted as a limiting functional feature, the question whether the technical effect is described in the patent merely involves considering whether a skilled person can recognise what technical effect underlies the new purpose claimed (Reasons 20).
T 1385/15 × View decision
Einem Anspruch auf eine weitere nicht-medizinische Verwendung kann Neuheit nicht abgesprochen werden, wenn die beanspruchte technische Wirkung des Stoffes und die beanspruchte Verwendungsweise nicht in Kombination im Stand der Technik offenbart sind (Punkt 2.4 der Begründung).
In T 1385/15 stellte die Kammer fest, dass einem Anspruch auf eine weitere nicht- medizinische Verwendung die Neuheit nicht abgesprochen werden kann, wenn die beanspruchte technische Wirkung des Stoffes und die beanspruchte Verwendungsweise nicht in Kombination im Stand der Technik offenbart sind.
Der unabhängige Anspruch 1 des Patents, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhte, betraf die Verwendung eines Reinigungsmittels, das wenigstens zwei verschiedene Tenside enthielt, ausgewählt aus wenigstens zwei der drei Gruppen kationische, nichtionische und amphotere Tenside, und anwendungsfertig verdünnt in wässriger Lösung einen pH-Wert von wenigstens 10,5 aufwies, zur Abtötung/Inaktivierung von Mikroorganismen ausgewählt aus der Gruppe bestehend aus Bakterien, Viren und Pilzen bei der maschinellen Desinfektion von Gegenständen.
In der angefochtenen Entscheidung berief sich die Einspruchsabteilung auf die Dokumente D1a und D2 und gelangte zu der Auffassung, der unabhängige Verwendungsanspruch 1 sei nicht neu gegenüber dem Dokument D1a, unter Berücksichtigung von D2. Zwar offenbarten weder D1a noch D2 für sich genommen alle Merkmale des Anspruchs 1 des Patents. Nach Analyse der Entscheidung G 6/88 (OJ 1990, 114), die für die Beurteilung der Neuheit von Ansprüchen die auf eine zweite nicht-medizinische Verwendung gerichtet sind, einschlägig war, kam sie aber zu dem Schluss, dass das Merkmal "zur Abtötung von (...) Bakterien, Viren und Pilzen" nicht geeignet sei, Neuheit gegenüber D1a herzustellen. Diese technische Wirkung der im Anspruch definierten Reinigungsmittel sei nämlich bereits aus D2 bekannt und könne daher gemäß dem Leitsatz der G 6/88 ("wenn dieses technische Merkmal nicht bereits früher der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist") dem Anspruch keine Neuheit verleihen.
Nach Überzeugung der Kammer war die in der angefochtenen Entscheidung vertretene Rechtsauffassung von G 6/88 nicht gedeckt. In G 6/88 selbst werde in Punkt 8 der Entscheidungsgründe ausgeführt, dass auf mangelnde Neuheit nur erkannt werden kann, sollten alle technischen Merkmale der beanspruchten Erfindung in Verbindung miteinander der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sein. Die Kammer war daher der Ansicht, dass ein Neuheitseinwand nicht auf die Kombination der Lehre der D1a und D2 gestützt werden konnte.
Zusammenfassend wurde in G 6/88 dargelegt, dass das neuheitsbegründende funktionelle technische Merkmal darin besteht, eine technische Wirkung in einem bestimmten Zusammenhang zu erzielen. Im vorliegenden Fall war daher das funktionelle technische Merkmal die antimikrobielle Aktivität im Zusammenhang mit der im Anspruch genannten maschinellen Desinfektion von Gegenständen. Dieses Merkmal war in D2 nicht offenbart, und konnte diesem Dokument deshalb ohnehin nicht entnommen werden.
8.1.1 In Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer behandelte allgemeine Fragen
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Das EPÜ lässt generell sowohl Verfahrensansprüche als auch Verwendungsansprüche zu. Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer ist es meist nur eine Frage der individuellen Wahl, ob der Anmelder eine Tätigkeit als Verfahren zur Ausführung der Tätigkeit unter Angabe verschiedener Verfahrensschritte beansprucht oder ob er diese Tätigkeit, zu der naturgemäß eine Folge von Verfahrensschritten gehören kann, als Anwendung oder Verwendung einer Sache für einen bestimmten Zweck in einem Anspruch geschützt erhalten will. Die Große Beschwerdekammer sieht hierin keinen sachlichen Unterschied (G 1/83, ABl. 1985, 60).
In zwei Entscheidungen befasste sich die Große Beschwerdekammer umfassend mit der Frage der Neuheit einer zweiten nicht medizinischen Verwendung, G 2/88 (ABl. 1990, 93) und G 6/88 (ABl. 1990, 114). Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Fragen betrafen Verwendungsansprüche, d. h. Ansprüche, die eine Verwendung des Stoffs X für einen bestimmten Zweck definieren oder eine ähnliche Formulierung aufweisen, deren einziges neues Merkmal im Verwendungszweck besteht. Sie bezogen sich nicht auf medizinische Erfindungen, sondern waren allgemeiner Natur und betrafen in erster Linie die Auslegung des Art. 54 (1) und (2) EPÜ 1973. Die Patentierbarkeit der zweiten nicht medizinischen Verwendung eines Produkts wurde grundsätzlich schon mit der Entscheidung G 1/83 (ABl. 1985, 60) anerkannt, die sich mit dem Problem der zweiten medizinischen Verwendung einer Substanz befasste.
Verwendungsansprüche auf nicht medizinischem Gebiet sind grundsätzlich zulässig und unterliegen keinen besonderen Bedingungen.
In den Entscheidungen G 2/88 (ABl. 1990, 93) und G 6/88 (ABl. 1990, 114) hatte die Große Beschwerdekammer die Frage zu beantworten, ob ein Anspruch auf die Verwendung eines Stoffs für einen bestimmten nicht medizinischen Zweck neu im Sinne des Art. 54 EPÜ 1973 gegenüber einer Vorveröffentlichung ist, die die Verwendung dieses Stoffs für einen anderen nicht medizinischen Zweck offenbart, sodass das einzige neue Merkmal des Anspruchs der Zweck ist, für den der Stoff verwendet wird. Das besondere Problem dieser Fälle war, dass die schon bekannte Verwendung der Substanz, obwohl ganz klar einem anderen Zweck dienend, inhärent auch die nun in der neuen Anmeldung beanspruchte Verwendung umfasste (T 59/87 date: 1988-04-26, ABl. 1988, 347; T 208/88 vom 20. Juli 1988 date: 1988-07-20).
Die Große Beschwerdekammer verwies auf T 231/85 (ABl. 1989, 74), in der die Anmeldung auf die Verwendung eines Stoffs als Fungizid gerichtet war, während der Stand der Technik denselben Stoff als Wachstumsregulator beschrieb. In der beanspruchten Erfindung wie auch im Stand der Technik wurden beide Behandlungen (Besprühen der Nutzpflanzen) auf dieselbe Weise ausgeführt (das Mittel für die Realisierung war also dasselbe). Die Kammer war der Auffassung, dass die beanspruchte Erfindung neu war, weil sich die technische Lehre in der Anmeldung von der in der Entgegenhaltung unterscheidet, und dass die Verwendung bisher unbekannt gewesen war, auch wenn das Ausführungsmittel dasselbe war.
In G 2/88 und G 6/88 wurde klargestellt, dass eine beanspruchte Erfindung nur dann neu ist, wenn sie mindestens ein wesentliches technisches Merkmal enthält, durch das sie sich vom Stand der Technik unterscheidet. Bei der Neuheitsprüfung besteht daher die erste grundlegende Bewertung darin, den Anspruch auf seine technischen Merkmale hin zu untersuchen. Die Große Beschwerdekammer war der Ansicht, dass die richtige Auslegung von Ansprüchen, die vom Wortlaut her eindeutig eine neue Verwendung eines bekannten Stoffs definieren, in der Regel dahin geht, dass die Erzielung einer neuen technischen Wirkung, die der neuen Verwendung zugrunde liegt, zu den technischen Merkmalen der beanspruchten Erfindung zählt. Somit erfordert die richtige Auslegung eines solchen Verwendungsanspruchs bei Patenten, in denen eine besondere technische Wirkung beschrieben ist, die dieser Verwendung zugrunde liegt, dass ein funktionelles Merkmal in diesem Anspruch als technisches Merkmal implizit enthalten ist, dass also zum Beispiel der Stoff tatsächlich die besondere Wirkung hervorruft.
Die Große Beschwerdekammer fasste zusammen, dass bei einem Anspruch auf eine neue Verwendung eines bekannten Stoffs diese neue Verwendung eine neu entdeckte und im Patent beschriebene technische Wirkung wiedergeben könne. Die Erzielung dieser technischen Wirkung sei als funktionelles technisches Merkmal des Anspruchs zu betrachten (z. B. die Erreichung dieser technischen Wirkung in einem bestimmten Zusammenhang). Sei dieses technische Merkmal der Öffentlichkeit zuvor nicht durch eines der in Art. 54 (2) EPÜ 1973 genannten Mittel zugänglich gemacht worden, dann sei die beanspruchte Erfindung neu, auch wenn diese technische Wirkung bei der Ausführung dessen, was zuvor der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, möglicherweise inhärent aufgetreten sei. In den beiden abschließenden Entscheidungen der Beschwerdesachen T 59/87 date: 1990-08-14 (ABl. 1991, 561) und T 208/88 date: 1990-02-28 (ABl. 1992, 22) befand die Beschwerdekammer die beanspruchten Verwendungserfindungen für neu und erfinderisch.