2.6. Rechtliches Gehör in der mündlichen Verhandlung
Übersicht
In T 1414/18 befand die Kammer, dass eine vor der endgültigen Entscheidung über die Zurückweisung einer Patentanmeldung abgegebene Erklärung wie "der nächste Verfahrensschritt ist die Ladung zur mündlichen Verhandlung, in der die Anmeldung zurückgewiesen wird", den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör verletzen und so zu einem wesentlichen Verfahrensmangel führen kann. Die Formulierung "[wird] zurückgewiesen" impliziere - auf objektiver Basis -, dass die Anmeldung letztendlich gemäß Art. 97 (2) EPÜ zurückzuweisen sei, ungeachtet etwaiger Tatsachen oder Argumente, die der Anmelder möglicherweise noch hätte vorbringen können. Eine solche Verfahrensführung widerspreche dem Ziel und Zweck des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 113 (1) EPÜ. Danach dürfen Entscheidungen von EPA-Organen, z. B die Entscheidung einer Prüfungsabteilung, eine Patentanmeldung letztendlich zurückzuweisen, nur auf Gründe gestützt werden, zu denen sich ein Beteiligter auch äußern konnte. Die Kammer sah einen Kausalzusammenhang zwischen dem oben beschriebenen wesentlichen Verfahrensmangel und der Notwendigkeit, gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung Beschwerde einzulegen, und befand, dass die Rückzahlung der Beschwerdegebühr der Billigkeit entspreche. Sie ordnete an, die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen (Art. 111 (1) EPÜ).
2.6. Rechtliches Gehör in der mündlichen Verhandlung
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Das in Art. 116 (1) EPÜ geregelte Recht auf eine mündliche Verhandlung ist ein wesentlicher Bestandteil des durch Art. 113 (1) EPÜ garantierten rechtlichen Gehörs (T 209/88, T 862/98, T 1050/09). Der Anspruch auf rechtliches Gehör in einer mündlichen Verhandlung besteht so lange, wie das Verfahren vor dem EPA anhängig ist (T 598/88, T 556/95, T 114/09).
Das in Art. 113 (1) EPÜ verbriefte Recht, sich zu äußern, muss nicht unbedingt schriftlich ausgeübt werden; ihm kann durch eine mündliche Verhandlung entsprochen werden (T 1237/07). Das bedeutet jedoch nicht, dass es Aufgabe einer Beschwerdekammer ist, von Amts wegen dafür zu sorgen, dass alle Punkte, die zu irgendeinem Zeitpunkt des Beschwerdeverfahrens aufgeworfen worden sind, in der mündlichen Verhandlung besprochen werden. Es obliegt den Parteien, einen Punkt, den sie für relevant halten und der ihrer Ansicht nach übersehen werden könnte, anzusprechen und – gegebenenfalls mit einem formalen Antrag – auf seiner Behandlung zu bestehen (R 17/11). Dies gilt auch in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung (T 7/12).
In T 2232/11 entschied die Kammer, die bloße Ankündigung eines weiteren Vortrags auf der Grundlage weiterer Dokumente zu Beginn der Diskussion über die Ausführbarkeit der Erfindung reiche nicht aus, um eine Verpflichtung der Prüfungsabteilung zu begründen, dieser bloßen Ankündigung im Rahmen der mündlichen Verhandlung von Amts wegen nachzugehen. Es lag daher im Verantwortungsbereich der Anmelderin die Prüfungsabteilung erforderlichenfalls mit einem förmlichen Antrag darauf aufmerksam zu machen, dass ein weiterer Vortrag zu diesem Thema beabsichtigt sei. Angesichts dieser Verfahrenssituation, musste die Anmelderin damit rechnen, dass die Prüfungsabteilung nach Unterbrechung der Verhandlung und anschließender Beratung zu einer Endentscheidung gelangen könnte.
Umgekehrt kann Art. 113 (1) EPÜ nicht so ausgelegt werden, dass das rechtliche Gehör eines Beteiligten bereits erfüllt ist, wenn ein Beteiligter, der eine mündliche Verhandlung nach Art. 116 EPÜ beantragt hat, sich schriftlich äußern konnte. Würde man dieser Auslegung des Art. 113 (1) EPÜ folgen, so wäre das Recht der Beteiligten auf mündliche Verhandlung nach Art. 116 EPÜ überflüssig, was die nicht hinnehmbare Konsequenz hätte, dass eine Einspruchsabteilung oder eine Beschwerdekammer zu einer kontroversen Streitfrage, die im schriftlichen Verfahren erörtert wurde, gleich zu Beginn der mündlichen Verhandlung eine Entscheidung erlassen könnte, ohne die Beteiligten zu hören (T 1077/06).
Die Nichtbeachtung eines Antrags auf mündliche Verhandlung enthält dem Beteiligten eine wichtige Gelegenheit vor, seine Sache in der von ihm beabsichtigten Weise und unter Nutzung der ihm nach dem EPÜ gebotenen Möglichkeiten vorzubringen. Aufgrund des Antrags auf mündliche Verhandlung kann sich der Beschwerdeführer darauf verlassen, dass er vor Erlass einer ihn beschwerenden Entscheidung Gelegenheit haben wird, seine Sache mündlich vorzutragen, und er hat daher keinen Anlass zu einer vorherigen weiteren schriftlichen Stellungnahme gehabt (s. T 209/88, T 1050/09; s. auch Kapitel III.C.2. "Das Recht auf mündliche Verhandlung").
Eine wirksame und effiziente Durchführung der mündlichen Verhandlung unterliegt zwar dem Ermessen des Vorsitzenden, muss aber dennoch gewährleisten, dass die grundlegenden Verfahrensrechte jedes Beteiligten im kontradiktorischen Verfahren, d. h. das Recht auf faire und gleiche Behandlung sowie das Recht, sich in der mündlichen Verhandlung zu äußern (Art. 113 (1) und 116 EPÜ), gewahrt sind (T 1027/13; s. auch Kapitel IV.C.6.1. "Grundsatz der Gleichbehandlung").
Die Weigerung der Prüfungsabteilung, in der mündlichen Verhandlung Ausführungen eines Beteiligten zu Protokoll zu nehmen, stellt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar (T 1055/05).
Das rechtliche Gehör eines Beteiligten nach Art. 113 (1) EPÜ impliziert kein eigenes rechtliches Gehör seines Vertreters und damit kein Recht auf mündliche Verhandlung beim EPA per Videokonferenz (T 2068/14; s. auch Kapitel III.C.7.3. "Mündliche Verhandlung als Videokonferenz").
- Rechtsprechung 2020