J 14/19 × View decision
1.) Der Nachweis des Vorliegens der Voraussetzungen für die Aussetzung des Verfahrens nach Regel 14 (1) EPÜ muss während eines anhängigen Erteilungsverfahrens und somit vor Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung im Europäischen Patentblatt erfolgen. Beweismittel, die erst nach diesem Zeitpunkt eingereicht werden, dürfen vom Europäischen Patentamt hierfür nicht berücksichtigt werden (Nr. 4.3 der Gründe).
2.)Die Frage zu welchem Zeitpunkt ein nationales Verfahren im Sinne der Regel 14 (1) EPÜ i.V.m. Artikel 61 (1) EPÜ als eingeleitet gilt, ist nach dem Verfahrensrecht jenes Staates zu beurteilen, dessen Gerichte zum Treffen einer Entscheidung im Sinne des Artikels 61 (1) EPÜ angerufen wurden (Nr. 6.1 und 6.2 der Gründe).
3.) Bei der Anwendung fremden Rechtes muss das Europäische Patentamt dieses, soweit möglich, im Gesamtzusammenhang der fremden Rechtsordnung anwenden. Dabei ist das Europäische Patentamt als von staatlichen Behörden und Gerichten unabhängige internationale Organisation nicht an die Rechtsprechung nationaler Gerichte zur Auslegung der anzuwendenden fremden Rechtsnorm gebunden. Sofern dem Europäischen Patentamt bekannt, sollte insbesondere höchstgerichtliche nationale Rechtsprechung bei der Entscheidungsfindung jedoch berücksichtigt und gewürdigt werden(Nr. 6.5 der Gründe).
4.) Fragen des Rechtsmissbrauchs stellen sich auch in den Verfahren vor dem Europäischen Patentamt (siehe etwa Artikel 16 (1) e) VOBK 2020). Zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen sind derartige Fragen vom Europäischen Patentamt auch im Rahmen des Aussetzungsverfahrens autonom, also unabhängig von nationalen Rechtsordnungen zu beurteilen (Nr. 6.22 der Gründe).
5.) Die zweckwidrige Inanspruchnahme eines Rechtes kann unter Umständen Rechtsmissbrauch begründen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Rechtsausübung überwiegend in Schädigungsabsicht erfolgt und andere, legitime Zwecke in den Hintergrund treten. Rechtsmissbrauch muss zweifelsfrei vorliegen und erfordert eine sorgfältige Prüfung und Abwägung der Einzelumstände. Die Beweislast trifft denjenigen, der sich auf Rechtsmissbrauch beruft (Nr. 13.1 der Gründe).
3.1.1 Allgemeines
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Nach R. 14 (1) EPÜ (R. 13 (1) EPÜ 1973) muss das EPA das Erteilungsverfahren von Amts wegen aussetzen, wenn ein Dritter dem EPA nachweist, dass er ein Verfahren gegen den Anmelder eingeleitet hat mit dem Ziel, eine Entscheidung im Sinne des Art. 61 (1) EPÜ zu erwirken, (s. J 28/94 date: 1996-12-04, ABl. 1997, 400; T 146/82 date: 1985-05-29, ABl. 1985, 267; J 10/02; J 6/10; J 7/10), es sei denn, der Dritte erklärt dem EPA gegenüber schriftlich seine Zustimmung zur Fortsetzung des Verfahrens. Der Patentinhaber wird nicht angehört, kann aber bei der Rechtsabteilung beantragen, dass das Verfahren nicht ausgesetzt wird. Gegen die den Anmelder, den Patentinhaber oder einen Dritten beschwerende Entscheidung der Rechtsabteilung kann Beschwerde eingelegt werden (J 28/94 date: 1996-12-04, ABl. 1997, 400).
Entscheidung J 15/06 folgte der Entscheidung J 28/94 date: 1996-12-04 (ABl. 1997, 400). Die Mitteilung über die Anordnung der Aussetzung galt als vorläufige Verfahrenshandlung sui generis, die als vorbeugende Maßnahme zur Wahrung möglicher Rechte eines Dritten an dem infrage stehenden Patent gerechtfertigt war, und wurde sofort wirksam. Die Zurücknahme des Antrags auf Verfahrensaussetzung durch den Beschwerdegegner verändert die Lage im Beschwerdeverfahren maßgeblich. Ungeschriebene Voraussetzung für eine weitere Aussetzung des Verfahrens nach R. 13 EPÜ 1973 ist jedoch das Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses des Dritten. Die Zurücknahme des Antrags auf Aussetzung kommt daher einer Zustimmung zur Fortsetzung des Verfahrens nach R. 13 (1) EPÜ 1973 gleich und muss als solche verstanden werden. S. auch J 18/06.
Das Erteilungsverfahren endet erst an dem Tag, an dem im Europäischen Patentblatt auf die Erteilung hingewiesen wird (Art. 97 (4) EPÜ 1973). Bis dahin ist das Erteilungsverfahren noch vor dem EPA anhängig und ein Antrag auf Aussetzung des Verfahrens gemäß R. 13 EPÜ 1973 demnach zulässig (J 7/96, ABl. 1999, 443). S. auch J 33/95 vom 18. Dezember 1995 date: 1995-12-18, J 36/97, J 15/06, wonach das EPA auch nach der Bekanntmachung des Hinweises auf die Patenterteilung eine Aussetzung des Verfahrens nach R. 13 (1) EPÜ 1973 anordnen kann, sofern vor der Bekanntmachung ein zulässiger Antrag eingegangen war. Die Aussetzung bewirkt, dass das Erteilungsverfahren unverändert in dem Rechtsstadium verbleibt, in dem es sich zum Zeitpunkt der Aussetzung befand, d. h. in dem ausgesetzten Verfahren können weder das EPA noch die Parteien wirksam Rechtsakte vornehmen (J 38/92 und J 39/92).
In J 20/05, G 1/09 und J 9/12 stellten die Kammern fest, dass R. 14 EPÜ die Einreichung von Teilanmeldungen verhindert, wenn das Erteilungsverfahren zu der früheren Anmeldung ausgesetzt ist. In J 9/12 befand die Kammer, dass eine Anmeldung, die nach dem wirksamen Zeitpunkt der Verfahrensaussetzung hinsichtlich der Stammanmeldung, aber vor der Bekanntmachung der Aussetzung eingereicht wurde, als Teilanmeldung zu behandeln ist.
In J 10/02 machte der Beschwerdeführer geltend, dass im vorliegenden Fall, in dem gegen die Entscheidung, das Erteilungsverfahren auszusetzen, Beschwerde eingelegt worden sei, offenbar ein Konflikt zwischen R. 13 und Art. 106 (1) EPÜ 1973 bestehe. Die Kammer führte jedoch aus, die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde solle einem Beschwerdeführer einstweiligen Rechtsschutz in dem Sinne gewähren, dass keine Maßnahmen zur Durchsetzung der erstinstanzlichen Entscheidung getroffen werden dürften, um die Beschwerde nicht gegenstandslos werden zu lassen. Werde das Erteilungsverfahren jedoch fortgesetzt und gelinge es dem Beschwerdeführer, dieses endgültig zu seinen Gunsten zu entscheiden, so sei dies mehr, als er erreichen könne, wenn er mit seiner Beschwerde Erfolg habe.
- J 14/19