9.1. Behandlung technischer und nichttechnischer Merkmale
9.1.2 Erfindungen, die sowohl technische als auch nichttechnische Merkmale umfassen
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Gemischte Erfindungen sind solche, die sowohl technische als auch nichttechnische Merkmale umfassen, wobei sich "nichttechnisch" auf Gegenstände bezieht, die nach Art. 52 (2) EPÜ nicht als Erfindung im Sinne des Art. 52 (1) EPÜ anzusehen sind (T 1543/06). Bei Ansprüchen, die technische und nichttechnische Merkmale aufweisen, muss jedes Merkmal bewertet werden, um zu ermitteln, ob es im Kontext der Erfindung zum technischen Charakter des beanspruchten Gegenstands beiträgt, da dies für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit von Bedeutung ist (Richtlinien G‑II, 2 – Stand November 2018).
Es ist zulässig, dass ein Anspruch eine Mischung aus technischen und "nichttechnischen" Merkmalen aufweist, wobei die nichttechnischen Merkmale sogar den bestimmenden Teil des beanspruchten Gegenstands bilden können (T 26/86, ABl. 1988, 19; T 769/92, ABl. 1995, 525; T 641/00, ABl. 2003, 352; T 531/03; T 154/04, ABl. 2008, 46; T 1784/06).
Bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit einer solchen Mischerfindung werden alle Merkmale berücksichtigt, die zum technischen Charakter der Erfindung beitragen. Dazu gehören auch Merkmale, die isoliert betrachtet nichttechnisch sind, aber im Kontext der Erfindung einen Beitrag zur Erzeugung einer technischen Wirkung leisten, die einem technischen Zweck dient und damit zum technischen Charakter der Erfindung beiträgt. Allerdings können Merkmale, die nicht zum technischen Charakter der Erfindung beitragen, das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit nicht stützen (T 641/00). Dieser Fall kann beispielsweise dann eintreten, wenn ein Merkmal ausschließlich zur Lösung einer nichttechnischen Aufgabe beiträgt, z. B. in einem von der Patentierbarkeit ausgenommenen Gebiet (Richtlinien G‑VII, 5.4 – Stand November 2018).
In T 26/86 (ABl. 1988, 19) vertrat die Kammer die Auffassung, dass eine Erfindung in ihrer Gesamtheit zu würdigen sei. Bediene sich eine Erfindung sowohl technischer als auch nichttechnischer Mittel, so könne die Verwendung nichttechnischer Mittel nicht der gesamten Lehre ihren technischen Charakter nehmen. Das EPÜ verlangt nicht, dass eine patentfähige Erfindung ausschließlich oder überwiegend technischer Natur sein muss, oder anders ausgedrückt, es verbietet nicht die Patentierung von Erfindungen, die aus einer Mischung technischer und nichttechnischer Bestandteile bestehen, selbst wenn der technische Anteil an der Erfindung nicht der überwiegende ist. Die Kammer ließ also zu, dass eine Mischung technischer und nichttechnischer Merkmale beansprucht wurde, legte der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit jedoch nur den technischen Teil der Erfindung zugrunde (s. T 641/00, ABl. 2003, 352, Nr. 4 der Gründe; s. auch T 209/91).
Das Erfordernis der erfinderischen Tätigkeit nach Art. 52 (1) und 56 EPÜ 1973 wird anhand des allgemein anerkannten Aufgabe-Lösungs-Ansatzes mit seinem rein technischen Charakter beurteilt (T 172/03). Danach ist eine Erfindung als technische Lösung einer technischen Aufgabe zu verstehen. Bei diesem Ansatz muss im Hinblick auf "Mischerfindungen" notwendigerweise zwischen den technischen und den nichttechnischen Merkmalen der Erfindung unterschieden werden.
Nach der ständigen Rechtsprechung können Merkmale einer Erfindung, die weder eine technische Wirkung haben noch mit den übrigen Merkmalen der Erfindung so in Wechselwirkung stehen, dass sich daraus ein funktionaler technischer Beitrag ergibt, nicht als Beitrag zur erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Art. 56 EPÜ betrachtet werden. Dies gilt nicht nur dann, wenn die Merkmale nicht selbst zum technischen Charakter der Erfindung beitragen (T 641/00, ABl. 2003, 352; T 258/03, ABl. 2004, 575; und T 531/03; s. auch T 456/90, T 931/95, T 27/97, T 258/97, T 1121/02 und T 1784/06), sondern auch, wenn die Merkmale grundsätzlich zwar als technisch bezeichnet werden könnten, im Kontext der beanspruchten Erfindung aber keine technische Funktion haben (T 619/02, ABl. 2007, 63) (s. z. B. T 72/95, T 157/97, T 158/97, T 176/97). Es kommt auch nicht darauf an, ob die Merkmale selbst naheliegend sind oder nicht (s. T 72/95, T 157/97, T 158/97 und T 176/97).
In T 641/00 (ABl. 2003, 352) hatte die Kammer bereits festgestellt, dass Merkmale, die keinen solchen Beitrag leisten, das Vorliegen erfinderischer Tätigkeit nicht stützen können (T 931/95, ABl. 2001, 441; T 1121/02, T 1543/06, T 336/07, T 859/07, T 859/07). In T 531/03 bestätigte die Kammer die in T 641/00 dargelegten Grundsätze und erklärte, bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit könnten Merkmale, die sich auf eine Nichterfindung im Sinne des Art. 52 (2) EPÜ 1973 bezögen (sogenannte "nichttechnische Merkmale"), nicht das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit stützen (s. auch T 1543/06). Nach T 258/03 (ABl. 2004, 575) werden nur diejenigen Merkmale berücksichtigt, die zum technischen Charakter beitragen. Daher gilt es, die Merkmale zu ermitteln, die einen technischen Beitrag leisten. In T 1543/06 stellte die Kammer fest, dass der in T 641/00 (ABl. 2003, 352) zum Ausdruck gebrachte Grundsatz auch folgendermaßen formuliert werden kann: Eine Erfindung, die nicht insgesamt unter den Patentierungsausschluss des Art. 52 (2) EPÜ 1973 fällt (die also technischen Charakter hat), ist nur dann als erfinderisch anzusehen, wenn die erfinderische Tätigkeit nicht ausschließlich auf einen von der Patentierung ausgenommenen Gegenstand gestützt wird, mag dieser auch neu und nicht naheliegend (im gewöhnlichen Wortsinn) sein (s. auch T 336/07).
Das Vorliegen erfinderischer Tätigkeit kann nur auf der Grundlage der technischen Aspekte der Unterscheidungsmerkmale und der durch die beanspruchte Erfindung gegenüber dem Stand der Technik erzielten Wirkung festgestellt werden (T 641/00, ABl. 2003, 352) (s. auch T 619/02, ABl. 2007, 63). Eine erfinderische Tätigkeit kann nicht allein auf einen ausgeschlossenen (nichttechnischen) Gegenstand gestützt werden, so originell dieser auch sein mag (s. auch T 336/07).
Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern (s. G 3/08 date: 2010-05-12, ABl. 2011, 10; T 258/03 und T 424/03, T 313/10) ist ein beanspruchter Gegenstand, der mindestens ein Merkmal spezifiziert, das nicht unter Art. 52 (2) EPÜ fällt, nach Art. 52 (2) und (3) EPÜ nicht von der Patentierung ausgeschlossen. Merkmale, die isoliert betrachtet zu den nach Art. 52 (2) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossenen Gegenständen gehören würden, können dennoch zum technischen Charakter einer beanspruchten Erfindung beitragen und können deshalb nicht aus der Betrachtung der erfinderischen Tätigkeit ausgeklammert werden. Dieser Grundsatz wurde bereits – wenn auch im Kontext des sogenannten Beitragsansatzes – in einer der frühesten Entscheidungen der Beschwerdekammern zu Art. 52 (2) EPÜ festgelegt, nämlich in T 208/84 (Nr. 4 ff. der Gründe) (s. auch T 1784/06).
In T 258/03 (ABl. 2004, 575) stellte die Kammer fest, dass unter Berücksichtigung der Feststellungen, dass eine Mischung aus technischen und nichttechnischen Merkmalen als Erfindung im Sinne des Art. 52 (1) EPÜ 1973 angesehen werden kann und der Stand der Technik bei der Entscheidung, ob es sich beim beanspruchten Gegenstand um eine solche Erfindung handelt, nicht zu berücksichtigen ist, ein zwingender Grund dafür, einen technische und nichttechnische Merkmale aufweisenden Gegenstand nicht nach Art. 52 (2) EPÜ 1973 zurückzuweisen, ganz einfach darin besteht, dass sich herausstellen könnte, dass die technischen Merkmale selbst allen Erfordernissen des Art. 52 (1) EPÜ 1973 genügen. Es ist oft schwer, einen Anspruch in technische und nichttechnische Merkmale zu unterteilen, und eine Erfindung kann technische Aspekte aufweisen, die in einem weitgehend nichttechnischen Kontext verborgen sind. Solche technischen Aspekte sind im Rahmen der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit unter Umständen leichter auszumachen, die nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern den technischen Aspekten einer Erfindung gilt. So kann es neben dem restriktiven Wortlaut des Art. 52 (3) EPÜ 1973, mit dem der Anwendungsbereich des Art. 52 (2) EPÜ 1973 eingeschränkt wird, praktische Gründe dafür geben, Mischungen aus technischen und nichttechnischen Merkmalen generell als Erfindungen im Sinne des Art. 52 (1) EPÜ 1973 anzusehen.
Die von den Beschwerdekammern des EPA bei "Mischerfindungen" angewandte Methodik wird in T 1543/06 zusammengefasst (s. auch T 859/07).