7. Das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung auf dem Gebiet der Biotechnologie
T 2015/20 × View decision
Claims in patent applications typically involve generalisations which inherently include an aspect of speculation. Patent applications in the field of medicine represent in this respect no exception. The approaches developed in the jurisprudence of the Boards of Appeal of the EPO for the assessment of sufficiency of disclosure and inventive step specifically take account of the technical contribution actually disclosed in a patent application to avoid patent protection resulting from unreasonable speculation on the basis of propositions that are prima facie implausible (see also points 2.6, 2.7 and 5 of the Reasons).
T 2218/16 × View decision
Sufficiency of disclosure - burden of proof, Novelty - new clinical situation
In T 184/16 betraf die Erfindung neue Verbindungen mit inhibierender Aktivität gegenüber dem natriumabhängigen Transporter (pharmazeutische Verbindung). Der Mechanismus, der der Behandlung von Diabetes-Folgeerkrankungen zugrunde liegt und mit dem die beanspruchte therapeutische Wirkung erzielt werden soll, beruhte auf der Inhibierung des natriumabhängigen Glukosetransporters ("SGLT") und insbesondere des SGLT2. Der Zusammenhang zwischen der nach Anspruch 12 (Anspruch auf eine medizinische Verwendung) zu erzielenden therapeutischen Wirkung und der Inhibierung von SGLT2 wurde vom Beschwerdeführer (Einsprechenden) nicht in Zweifel gezogen. Dieser argumentierte, aus der Anmeldung in der eingereichten Fassung gehe nicht plausibel hervor, dass die beanspruchte therapeutische Wirkung mit den beanspruchten Verbindungen erzielt werden könne. Die Kammer räumte ein, dass nur dann nachträglich veröffentlichte Beweisstücke berücksichtigt werden können, um eine bestimmte Wirkung aufzuzeigen, wenn es bereits am Anmeldetag plausibel war, dass die besagte Wirkung erzielt wird. Beispiele für Fälle, in denen die Plausibilität anerkannt wurde und nachträglich veröffentlichte Beweisstücke berücksichtigt wurden, sind Fälle, in denen es prima facie keine ernsthaften Zweifel an der Plausibilität gab (T 108/09, T 1760/11, T 919/15). In T 1329/04 bestanden dagegen prima facie ernsthafte Zweifel. Im vorliegenden Fall enthielt die Anmeldung in der eingereichten Fassung keine Versuchsergebnisse zur strittigen Plausibilität, d. h. zur Plausibilität, dass es sich bei den beanspruchten Verbindungen um SGLT2-Inhibitoren handelt. Es war daher notwendig festzustellen, ob die Plausibilität vor dem Hintergrund des allgemeinen Fachwissens und des Stands der Technik trotzdem anerkannt werden konnte. Der Kammer lag kein Hinweis vor, dass prima facie ernsthafte Zweifel bestanden, dass die beanspruchte therapeutische Wirkung erzielt werden konnte, und der Beschwerdeführer brachte auch nicht vor, dass es derartige Hinweise gebe. Zudem gab es keinen A-priori-Grund oder irgendeinen Hinweis im allgemeinen Fachwissen, dass die beanspruchte therapeutische Wirkung nicht erzielt werden könnte. Die Kammer hielt es für plausibel, dass die therapeutische Wirkung tatsächlich erzielt wird. Die Kammer befand, dass das nachträglich veröffentlichte Beweisstück D4 (vom Beschwerdegegner/Patentinhaber eingereichte Vergleichsbeispiele) zur Stützung der Offenbarung in der Patentanmeldung berücksichtigt werden kann. Sie räumte ein, dass D4 tatsächlich nur Daten für die SGLT2-Inhibierung enthalte. Allerdings werde die beanspruchte therapeutische Wirkung durch die alleinige SGLT2-Inhibierung erzielt. Die Tatsache, dass eine SGLT1-Inhibierung ebenfalls zu dieser Wirkung beitragen könnte, dies in D4 aber nicht getestet wurde, sei nicht relevant. Da der Beschwerdeführer zudem die Beweislast für seine Behauptung trage, könne die Kammer mangels solcher Beweise nicht schließen, dass Verbindungen mit großen Substituenten nicht geeignet seien, die in Anspruch 12 definierte therapeutische Wirkung zu erzielen. Das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung galt als erfüllt. Das nachträglich veröffentlichte Schriftstück D4 und die Frage der Plausibilität wurden auch im Zusammenhang mit der erfinderischen Tätigkeit behandelt, und D4 wurde ebenfalls berücksichtigt. Siehe auch Kapitel I.C.1. "Unterscheidung zwischen Plausibilität und Naheliegen".
7.2. Erforderlicher Umfang der Offenbarung bei einer medizinischen Verwendung – Plausibilität
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern erfüllt ein Anspruch auf eine medizinische Verwendung nur dann die Erfordernisse von Art. 83 EPÜ, wenn das Patent offenbart, dass sich das herzustellende Erzeugnis für die beanspruchte therapeutische Anwendung eignet, sofern dies dem Fachmann am Prioritätstag nicht bereits bekannt ist. Eine beanspruchte therapeutische Anwendung kann durch jede Art von Beweismittel nachgewiesen werden, sofern dieses die therapeutische Wirkung belegt, auf der die therapeutische Anwendung beruht (s. T 814/12). In der Sache T 814/12 kam die Kammer zu dem Schluss, dass in Analogie die gleichen Erfordernisse von Art. 83 EPÜ auch für Ansprüche auf eine diagnostische Verwendung gelten.
In T 609/02 wurde festgestellt: Wird eine therapeutische Anwendung in der von der Großen Beschwerdekammer in G 1/83 (ABl. 1985, 60) zugelassenen Form beansprucht, d. h. als Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte therapeutische Anwendung, so ist die Erzielung der beanspruchten therapeutischen Wirkung als funktionelles Merkmal des Anspruchs zu betrachten (s. G 2/88 (ABl. 1990, 93) sowie für nichtmedizinische Anwendungen G 6/88 (ABl. 1990, 114)). Folglich muss die Anmeldung nach Art. 83 EPÜ offenbaren, dass das herzustellende Erzeugnis sich für die beanspruchte therapeutische Anwendung eignet, wenn dies dem Fachmann am Prioritätstag nicht bereits bekannt ist (synthetische Formulierung des Beitrags dieser Entscheidungen, was die beanspruchte therapeutische Wirksamkeit betrifft, auf die beispielsweise in T 2571/12, Nr. 5.2 der Entscheidungsgründe, und T 1437/07 unten, Nr. 37 der Entscheidungsgründe, verwiesen wird).
Das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung gilt in Bezug auf Ansprüche auf eine zweite medizinische Verwendung als erfüllt, wenn der Fachmann aufgrund der Offenbarung in der Patentschrift oder des allgemeinen Fachwissens in der Lage ist, die anzuwendende Verbindung herzustellen und anzuwenden, und wenn die beabsichtigte therapeutische Wirkung nachweislich erzielt werden kann (T 1437/07 – Botulinumtoxin).
Entweder muss die Anmeldung geeignete Beweismittel für die beanspruchte therapeutische Wirkung enthalten, oder solche Beweismittel müssen sich aus dem Stand der Technik oder dem allgemeinen Fachwissen ergeben. Die Offenbarung von Versuchsergebnissen in der Anmeldung als Nachweis der ausreichenden Offenbarung ist vor allem dann nicht erforderlich, wenn die Anmeldung ein plausibles technisches Konzept umfasst und keine begründeten Zweifel an der praktischen Umsetzung des beanspruchten Konzepts bestehen (T 950/13 mit Verweis auf T 578/06).
Die Beschwerdekammern haben Versuchsdaten jeder Art akzeptiert. Zudem wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass es nicht immer erforderlich ist, Ergebnisse der Anwendung der beanspruchten Zusammensetzung in klinischen Versuchen oder zumindest in Tierversuchen anzugeben (T 1273/09 mit Verweis auf T 609/02).
Liefert die Beschreibung in einer Patentschrift lediglich einen vagen Hinweis auf eine mögliche medizinische Verwendung einer chemischen Verbindung, die aber noch ermittelt werden muss, können zu einem späteren Zeitpunkt nicht detailliertere Beweismittel beigebracht werden, um den Mangel der grundlegenden unzureichenden Offenbarung des Erfindungsgegenstands zu beseitigen (T 609/02). Ist die therapeutische Wirkung ein funktionelles Merkmal des Anspruchs, muss die Anmeldung offenbaren, dass sich das herzustellende Erzeugnis für die beanspruchte therapeutische Anwendung eignet, und nachgereichte Beweismittel können eine grundlegende mangelnde Offenbarung nicht heilen (Beitrag aus T 609/02 zusammengefasst in T 1045/13).
Wird eine therapeutische Anwendung mithilfe der schweizerischen Anspruchsform beansprucht, so ist nach Auffassung der Kammer in T 433/05 unter Bezugnahme auf T 609/02 die Erzielung der beanspruchten therapeutischen Wirkung ein funktionelles technisches Merkmal des Anspruchs. Folglich muss die Anmeldung gemäß Art. 83 EPÜ 1973 offenbaren, dass das herzustellende Erzeugnis sich für die beanspruchte therapeutische Anwendung eignet (s. auch T 1685/10). Wird dem Gegenstand eines Anspruchs jedoch nur durch eine neue therapeutische Verwendung eines Arzneimittels Neuheit verliehen, so darf der Anspruch nach G 2/08 date: 2010-02-19 (ABl. 2010, 456) nicht mehr in der sogenannten schweizerischen Anspruchsform abgefasst werden, wie sie mit der Entscheidung G 1/83 (ABl. 1985, 60) geschaffen wurde. In Anlehnung an T 609/02 wies die Kammer in T 801/06 darauf hin, dass eine beanspruchte therapeutische Wirkung durch jede Art von Daten nachgewiesen werden kann, solange diese die therapeutische Wirkung klar und eindeutig widerspiegeln. Die bloße Tatsache, dass die Versuche im Patent nicht mit einer "wirklichen" Metastase durchgeführt wurden, reichte daher nicht aus, um eine ausreichende Offenbarung zu verneinen.
Damit eine therapeutische Anwendung als hinreichend offenbart akzeptiert wird, müssen die Anmeldung oder das Patent und/oder das allgemeine Fachwissen Informationen liefern, die dem Fachmann technisch plausibel darlegen, dass die beanspruchten Verbindungen für die beanspruchte therapeutische Verwendung geeignet sind (T 1599/06 mit Verweis auf T 609/02).
Nachträglich veröffentlichte Beweisstücke können nur dann berücksichtigt werden, wenn sie die in der Anmeldung enthaltenen Feststellungen in Bezug auf die Verwendung der Verbindung(en) als Arzneimittel stützen (T 609/02, T 950/13).
Dieser Grundsatz wurde auch in Entscheidungen zu Ansprüchen für eine zweite medizinische Verwendung angewandt (s. z. B. T 699/06 und T 1396/06) sowie in T 604/04 auf Ansprüche, die auf die erste medizinische Verwendung und auf pharmazeutische Zubereitungen gerichtet waren.
In T 1777/12 handelte es sich bei den Ansprüchen 1 und 10 um Ansprüche auf medizinische Verwendung. Sie betrafen die Verwendung eines PYY-Agonisten zur Herstellung eines Arzneimittels, mit dem eine Stoffwechselstörung bei einem fettleibigen oder übergewichtigen Patienten behandelt wird. Klinische Versuche sind zur Feststellung der Eignung nicht erforderlich. Gegebenenfalls kann es ausreichend sein, wenn In-vitro- und In-vivo-Daten unmittelbar und zweifelsfrei belegen, dass die therapeutische Wirkung von der beanspruchten therapeutischen Verwendung ausgeht, oder wenn es alternativ einen eindeutigen und allgemein anerkannten erwiesenen Zusammenhang zwischen den physiologischen Aktivitäten der Verbindung und der betreffenden Erkrankung gibt. Die Kammer war überzeugt, dass die Offenbarung in der Patentschrift die Eignung von PYY belegte, durch Gewichtsreduzierung oder verminderte Gewichtszunahme in allen beanspruchten therapeutischen Anwendungen eine positive Wirkung zu erzielen.
In T 1045/13, die sich auf einen Anspruch auf eine gemäß Art. 54 (5) EPÜ formulierte zweite medizinische Verwendung bezog, war die Kammer der Auffassung, dass die Anmeldung in der eingereichten Fassung keinen Hinweis darauf enthalte, worauf die Beziehung zwischen der Aktivität des pharmazeutischen Wirkstoffs (NGF) und der therapeutischen Wirkung (Linderung der Symptome der beanspruchten psychologischen Erkrankungen) beruht. Die Beschreibung enthalte keine Informationen über die Wirkungsweise von NGF. Es gebe weder einen Verweis auf Hintergrundinformationen, die einen Zusammenhang zwischen NGF und den zu erzielenden therapeutischen Wirkungen herstellen, noch werde eine solche Wirkung durch In-vitro-Prüfungen veranschaulicht. Ohne solche aktenkundigen Informationen seien die experimentellen Nachweise entscheidend. Die Nachweise in der eingereichten Anmeldung genügten jedoch nicht den Erfordernissen einer ausreichenden Offenbarung. Die experimentellen Nachweise umfassten elf Beispiele für verschiedene Erkrankungen, deckten jedoch nicht alle Erkrankungen aus Anspruch 1 ab; jedes Beispiel bezog sich nur auf einen einzigen Patienten – entgegen der gängigen Praxis, die eine statistische Analyse der Ergebnisse anstrebt. Ohne Kontrollgruppe könnten Placeboeffekte nicht ausgeschlossen werden. Die nachträglich veröffentlichten Beweisstücke könnten berücksichtigt werden, allerdings nur, wenn sie die in der Anmeldung enthaltenen Feststellungen untermauern. Die nachträglich veröffentlichten Beweisstücke konnten keine ausreichende Offenbarung an sich nachweisen. Sie mussten daher nicht behandelt werden.
Für eine ausreichende Offenbarung ist nicht relevant, was der Beschwerdegegner (Patentinhaber) wusste, aber nicht offenbaren wollte. Vielmehr muss die Anmeldung unter Berücksichtigung des allgemeinen Fachwissens hinreichende Beweise oder zumindest ein technisch plausibles Konzept enthalten, auf dessen Grundlage der Fachmann zu dem Schluss gelangen kann, dass die beanspruchte Verbindung für die beanspruchte therapeutische Verwendung geeignet ist. Die Kammer stimmte den vom Beschwerdegegner angeführten Aussagen in T 433/05 und T 801/06 zu, aber im Fall T 1868/16 enthielt die Patentschrift weder Daten noch ein plausibles technisches Konzept. Des Weiteren wurde auf T 609/02 und T 801/10 verwiesen, aber im vorliegenden Fall wurde keine Wirkung beobachtet (T 1868/16 – Eignung von Everolismus zur Behandlung von neuroendokrinen Tumoren der Bauchspeicheldrüse).
In T 1023/02 befand die Kammer, die Tatsache, dass laut eines später veröffentlichten Dokuments kein nachweislich wirksamer Impfstoff gegen HSV verfügbar sei, beweise nicht, dass der erfindungsgemäße Impfstoff nicht nachgearbeitet werden könne, da es andere, beispielsweise mit der Zulassung zusammenhängende Gründe geben könne, keine erfindungsgemäßen Impfstoffe herzustellen. Auch setze die Erfüllung von Art. 83 EPÜ 1973 die Durchführung und Offenbarung von klinischen Tests nicht voraus.
In T 2571/12 (Behandlung von Schizophrenie mit Glutathion) wies die Kammer darauf hin, dass weder das Patent noch der verfügbare Stand der Technik Hinweise auf eine therapeutische Wirkung der Glutathion-Vorläufer für die beanspruchten Störungen enthielten; folglich konnte auch das nachveröffentlichte Dokument, das eine solche Wirkung angeblich u. a. bei bipolaren Störungen untermauert, bei der Beurteilung der ausreichenden Offenbarung nicht berücksichtigt werden.
Da es typischerweise schwierig ist, die amtliche Zulassung einer chemischen Verbindung als Arzneimittel zu erhalten, verlangen die Beschwerdekammern in der Praxis für die Anerkennung der ausreichenden Offenbarung einer therapeutischen Anwendung nicht unbedingt, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt Ergebnisse von klinischen Tests vorgelegt werden, doch muss das Patent bzw. die Patentanmeldung Angaben enthalten, aus denen hervorgeht, dass die beanspruchte Verbindung sich unmittelbar auf einen Stoffwechselvorgang auswirkt, der speziell an der betreffenden Krankheit beteiligt ist. Wird dies im Patent bzw. in der Patentanmeldung nachgewiesen, so können nachträglich veröffentlichte Dokumente als Beweismittel zur Stützung der Offenbarung in der Patentanmeldung berücksichtigt werden (T 433/05).
In Entscheidungen wie T 2181/08, T 338/10, T 1685/10, T 943/13 und T 2059/13 wurde die Argumentation aus T 433/05 und T 609/02 aufgegriffen und auf den jeweiligen Einzelfall angewendet. Die Kammer in T 895/13 vom 21. Mai 2015 date: 2015-05-21 erklärte, dass die Erzielung der beanspruchten therapeutischen Wirkung laut T 609/02 ein funktionelles technisches Merkmal eines in der schweizerischen Anspruchsform abgefassten Anspruchs sei. Dieser Grundsatz gelte ihrer Auffassung nach auch für zweckgebundene Erzeugnisansprüche gemäß Art. 54 (5) EPÜ. Folglich sei die durch den Anspruchsgegenstand hervorgerufene therapeutische Wirkung nicht – wie in der angefochtenen Entscheidung – im Rahmen der erfinderischen Tätigkeit, sondern im Rahmen der ausreichenden Offenbarung (Art. 83 EPÜ) zu prüfen (s. G 1/03, Nr. 2.5.2 der Gründe).
In der Entscheidung T 1616/09 führte die Kammer aus, dass für die Zwecke des Art. 83 EPÜ bei Ansprüchen, die auf pharmazeutische Zusammensetzungen oder Kits gerichtet sind, die Offenbarung einen anderen Umfang aufweisen muss als bei Ansprüchen, die auf eine medizinische Verwendung gerichtet sind. Bei Ansprüchen, die auf pharmazeutische Zusammensetzungen oder Kits gerichtet sind, reicht es grundsätzlich aus, wenn die Anmeldung Angaben enthält, die dem Fachmann die Herstellung der Zusammensetzung oder des Kits ermöglichen, und wenn keine begründeten Zweifel an der therapeutischen Verwendbarkeit bestehen. Bei Ansprüchen, die auf die zweite medizinische Verwendung gerichtet sind, muss hingegen in der Anmeldung nicht nur die Zusammensetzung selbst ausführbar offenbart sein, sondern auch ihre Eignung für die beanspruchte Behandlung plausibel offenbart sein. Bei einem Anspruch, der auf eine pharmazeutische Zusammensetzung mit zwei Klassen von Verbindungen gerichtet ist, die beide im Stand der Technik bereits therapeutisch verwendet wurden, besteht a priori kein Anlass, an der Herstellbarkeit dieser pharmazeutischen Zusammensetzung zu zweifeln; eine spezifische funktionelle Wirkung muss nicht nachgewiesen werden. Bei Ansprüchen auf eine zweite medizinische Verwendung muss die beanspruchte therapeutische Wirkung nicht in der Anmeldung nachgewiesen werden, wenn sie dem Fachmann zum Prioritätszeitpunkt bereits bekannt ist. Nach T 1616/09 gilt T 609/02 nicht für Zusammensetzungen, sondern nur für Ansprüche auf eine zweite medizinische Verwendung (s. auch T 1592/12, wo in Nr. 16 und 17 der Gründe darauf hingewiesen wird, dass es nicht ausreicht zu zeigen, dass der Fachmann die beanspruchte Dosierungsanleitung ausführen kann).
In T 1823/11 betraf Anspruch 1 Phaseolamin zur Verwendung als Antikariesmittel. Die Prüfungsabteilung hatte die Patentanmeldung wegen Verstoßes gegen Art. 83 EPÜ zurückgewiesen und ihre Entscheidung mit zwei Mängeln begründet, und zwar dem Fehlen von Angaben zur Zubereitung von Phaseolamin und dem Fehlen jeglicher Angaben zu den pH-Bedingungen. Die Kammer sah das anders und verwies die Sache an die erste Instanz zurück. In ihrer Entscheidungsbegründung ging sie auf einige Feststellungen der ersten Instanz ein: Anspruch 1 war als zweckgebundener Erzeugnisanspruch nach Art. 54 (5) EPÜ abgefasst, und in diesem Anspruch kam die technische Wirkung des Phaseolamins, als Antikariesmittel einsetzbar zu sein, zum Ausdruck. Ist die technische Wirkung im Anspruch angegeben, ist es eine Frage der ausreichenden Offenbarung, ob diese Wirkung im gesamten beanspruchten Bereich tatsächlich erzielt wird (G 1/03, ABl. 2004, 413, Nr. 2.5.2 der Gründe). Dieser allgemeine Ansatz gilt insbesondere für Ansprüche, die als ein Anspruchsmerkmal eine therapeutische Wirkung einschließen, also z. B. für zweckgebundene Erzeugnisansprüche nach Art. 54 (4) und (5) EPÜ oder für Ansprüche in der schweizerischen Anspruchsform (T 906/10, T 1616/09, T 1869/11). Um festzustellen, ob das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung erfüllt ist, hätte die erste Instanz folglich prüfen müssen, ob in der Anmeldung offenbart war, dass Phaseolamin sich potenziell als Antikariesmittel eignet, oder ob diese Information dem Stand der Technik entnommen werden konnte.
In T 338/10 war der Anspruch 1 als Anspruch auf eine weitere therapeutische Verwendung formuliert, bei dem der Wirkstoff ein "erstes Allergen" und die therapeutische Anwendung die Behandlung bzw. Vorbeugung einer Allergie war, die durch ein zweites, vom ersten verschiedenes Allergen hervorgerufen wurde. Die Kammer befand, dass das Patent keinerlei Versuchsdaten enthielt, die belegten, dass das erste Allergen zur Behandlung einer durch ein zweites, vom ersten verschiedenes Allergen hervorgerufenen Allergie diene.
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