1.7.3 Entscheidungen zur Anwendung der in G 1/03 und G 1/16 von der Großen Beschwerdekammer aufgestellten Kriterien
T 1218/14 × View decision
The requirement in G 1/03 that an accidental novelty-destroying disclosure has to be completely irrelevant for assessing inventive step is to be understood not as an alternative, or additional criterion, but as a consequence of the criterion that, from a technical point of view, said disclosure is so unrelated and remote that the person skilled in the art would never have taken it into consideration when making or working on the invention (points 2 and 7).
In T 1218/14 stellte die Kammer die Bedeutung des Kriteriums aus G 1/03 (ABl. EPA 2004, 413) klar, wonach eine zufällig neuheitsschädliche Offenbarung ohne jede Bedeutung für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit zu sein hat. Die Feststellung, dass der beanspruchte Gegenstand gegenüber D1 als Sekundärdokument erfinderisch ist, bedeutete nicht, dass D1 im Sinne dieses Kriteriums für die erfinderische Tätigkeit ohne Bedeutung war. Das Kriterium ist nicht als Alternative oder zusätzliches Kriterium zu verstehen, sondern als Konsequenz aus dem in G 1/03 und G 1/16 (ABl. EPA 2018, A70) aufgestellten Kriterium, wonach die betreffende Offenbarung – technisch betrachtet – so unerheblich für die beanspruchte Erfindung sein und so weitab von ihr liegen muss, dass der Fachmann sie, als er die Erfindung gemacht oder ausgeführt hat, nicht berücksichtigt hätte.
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Die Große Beschwerdekammer stellte in der Sache G 1/03 (ABl. 2004, 413) fest: Gilt eine Vorwegnahme als zufällig, so heißt das, dass von Anfang an offenkundig ist, dass sie nichts mit der Erfindung zu tun hat. Nur wenn das feststeht, kann der Disclaimer zulässig sein (s. auch die Entscheidungsformel von G 1/03, wonach eine Vorwegnahme zufällig ist, wenn sie so unerheblich für die beanspruchte Erfindung ist und so weitab von ihr liegt, dass der Fachmann sie bei der Erfindung nicht berücksichtigt hätte).
In T 500/00 handelte es sich bei der Änderung um einen nicht offenbarten Disclaimer, den der Anmelder im Prüfungsverfahren in den Anspruch 1 aufgenommen hatte, um einen Einwand wegen mangelnder Neuheit gegenüber der Entgegenhaltung D1 zu entkräften. Zu klären war somit, ob D1 als zufällige Offenbarung anzusehen war. Im vorliegenden Fall gab es eine Überlappung zwischen der beanspruchten Lösung und der Lehre von D1. Die Streitanmeldung und D1 gehörten zum selben Gebiet der Technik, beanspruchten – bis auf die durch den Disclaimer ausgenommene Zusammensetzung – dieselben Verbindungen und verfolgten beide denselben Zweck der ausreichenden Härtung. Zudem lag beiden dieselbe technische Aufgabe zugrunde. Da der Fachmann D1 für einen geeigneten Stand der Technik halten würde, um die Erfindung zu machen – was durch den Verweis auf D1 in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung belegt wurde -, konnte die Offenbarung von D1 nicht als zufällig im Sinne von G 1/03 gelten. Da sich D1 auf dieselbe technische Wirkung bezog wie das Streitpatent und die zu härtenden Ausgangspolymere mit den im beanspruchten Verfahren verwendeten strukturell identisch waren, konnte D1 als geeigneter Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit gelten.
Die Entscheidung T 14/01 betraf die Zulässigkeit eines Disclaimers, durch den in Anbetracht der Entscheidung G 1/03 eine Überlappung mit einem Stand der Technik beseitigt werden sollte. In diesem Fall war die Kammer der Auffassung, dass die Behauptung, die Lehre eines Dokuments des Stands der Technik führe von der Erfindung weg, impliziere, dass der Fachmann diesen Stand der Technik in Betracht gezogen habe. Eine zufällige Vorwegnahme dagegen setze voraus, dass der Fachmann den betreffenden Stand der Technik nie ins Auge gefasst hätte. Die Kammer entschied daher, dass der betreffende Stand der Technik keine zufällige Vorwegnahme im Sinne der Entscheidung G 1/03 und der Disclaimer somit nicht zulässig sei.
In T 1297/12 war das Dokument D3 an sich nicht unerheblich oder weitab liegend, weil es sich auf dasselbe Gebiet bezog wie das Streitpatent. Der Beschwerdeführer/Patentinhaber argumentierte jedoch, dass die spezifischen neuheitsschädlichen Offenbarungen in D3 "unerheblich und weitab liegend" seien. Die Kammer führte T 14/01 an und befand, dass die Fraktionen in einem einschlägigen Dokument, nämlich D3, offenbart waren und daher nicht als "zufällige" Offenbarung betrachtet werden konnten. Allein aufgrund dieser Beurteilung wäre somit ein Disclaimer in Bezug auf diese Offenbarung nicht gewährbar. Auch wenn man theoretisch der Auffassung des Beschwerdeführers folgen würde, käme man zur gleichen Schlussfolgerung, weil die betreffende spezifische Offenbarung nicht als unerhebliche oder weitab liegende Offenbarung betrachtet werden konnte.
In T 1049/99 gelangte die Kammer zu dem Schluss, dass ein Fachmann, der unter Einsatz von geeigneten und angemessenen Mitteln zur Lösung der vom Beschwerdegegner formulierten, auf demselben Gebiet der Technik wie die fragliche Erfindung liegenden Aufgabe an der Erfindung gearbeitet hätte, die Lehre aus Dokument D21 entgegen dem Vorbringen des Beschwerdegegners (Patentinhabers) berücksichtigt hätte. Dass ein Dokument im veröffentlichten Stand der Technik nur schwer auffindbar oder für den Fachmann "schwer zugänglich" sei, lasse zudem entgegen den Ausführungen des Beschwerdegegners in der mündlichen Verhandlung noch nicht den Schluss zu, dass es sich hierbei um eine zufällige Vorwegnahme handle.
In T 217/03 urteilte die Kammer in der Frage, ob das Dokument D1 eine zufällige Vorwegnahme darstelle, dass sich D1 nicht ausdrücklich mit der der beanspruchten Erfindung zugrunde liegenden technischen Aufgabe befasse. Dies sei jedoch für die Bejahung einer zufälligen Vorwegnahme durch D1 nicht entscheidend. D1 beziehe sich auf dasselbe allgemeine Gebiet der Technik wie der Gegenstand von Anspruch 10, und dieses Dokument sei weder so unerheblich für die beanspruchte Erfindung noch liege es so weitab von dieser, dass der Fachmann es bei der Arbeit an der Erfindung nicht berücksichtigt hätte (s. G 1/03, ABl. 2004, 413). Die Offenbarung von D1 könne daher nicht als zufällige Vorwegnahme angesehen werden. Folglich erfülle der in Anspruch 10 enthaltene Disclaimer nicht die für eine zufällige Vorwegnahme geltenden Voraussetzungen.
In T 1146/01 befand die Kammer, dass die Vergleichsbeispiele aus D1 zwar lehrten, was nicht zu tun sei, gleichzeitig aber die Lehre des Dokuments insgesamt erläuterten und eng mit den anderen im Dokument offenbarten Experimenten zusammenhingen. Auch wenn man argumentieren könne, dass ein Vergleichsbeispiel eine "negative Relevanz" habe, sei es doch in Bezug auf die Offenbarung des Dokuments weder weitab liegend noch unerheblich. Obwohl somit die Vergleichsbeispiele aus D1 eine nicht zu befolgende Lehre enthielten, bedeutete dies nicht, dass die daraus zu entnehmenden Informationen nicht Teil der Offenbarung von D1 waren oder von einem Erfinder bei der Arbeit an seiner Erfindung nicht berücksichtigt würden.
In anderen Entscheidungen hatten die Kammern zu klären, ob in dem ihnen vorgelegten Fall die zufällige Vorwegnahme vorlag. So verwarf die Kammer etwa in T 717/99 die Auffassung des Einsprechenden, der eine zufällige Vorwegnahme bestritten hatte. In den folgenden Entscheidungen gelangten die Kammern zu dem Schluss, dass keine zufällige Vorwegnahme vorlag und dass die Disclaimer somit nicht zulässig waren: T 1086/99, T 584/01, T 506/02, T 285/00, T 134/01 (Pharmabereich, gleiche Erkrankung; Beitrag zusammengefasst in T 1911/08, in der auch T 739/01, T 580/01 und T 639/01 berücksichtigt werden), T 351/12, T 632/12.