3. Beurteilung mangelnder Einheitlichkeit der Erfindung
3.2. Beurteilung mangelnder Einheitlichkeit in der Recherchenphase
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Mangelnde Einheitlichkeit kann a priori ersichtlich sein, d. h. vor Prüfung der wesentlichen Bestandteile des Anspruchs im Vergleich zu dem bei der Recherche ermittelten Stand der Technik (W 1/96 sowie W 6/90, ABl. 1991, 438). Wird der Einwand der mangelnden Einheitlichkeit a priori erhoben, so ist die technische Aufgabe ausschließlich anhand der Beschreibung und nicht anhand des Stands der Technik zu ermitteln (vgl. W 50/91, W 52/91, W 22/92, W 52/92 und T 188/04).
Die Frage, ob die Internationale Recherchenbehörde (ISA) befugt ist, die Einheitlichkeit der Erfindung bei einer internationalen Anmeldung a posteriori, d. h. im Hinblick auf den im Laufe der Recherche ermittelten Stand der Technik, zu prüfen, wurde von der Kammer in W 3/88 (ABl. 1990, 126) verneint, die den Begriff "einzige allgemeine erfinderische Idee" in R. 13.1 PCT dahin gehend auslegte, dass er einfach die allgemeine Vorstellung davon sei, was der Anmelder subjektiv als seine Erfindung beanspruche. In den Sachen W 44/88 (ABl. 1990, 140) und W 35/88 wurde die Frage hingegen bejaht. Die Kammern verwiesen hierbei auf die PCT-Rechercherichtlinien, die eine Prüfung auf Einheitlichkeit a posteriori zuließen. Durch diese widersprüchlichen Auffassungen sahen sich eine Beschwerdekammer (W 12/89 date: 1989-06-29, ABl. 1990, 152) sowie der Präsident des EPA veranlasst, die Große Beschwerdekammer nach Art. 112 EPÜ 1973 zu befassen.
Die Große Beschwerdekammer behandelte die ihr vorgelegten Fragen gemeinsam und beantwortete sie in G 1/89 (ABl. 1991, 155) bzw. G 2/89 (ABl. 1991, 166). Danach kann das EPA als ISA nach Art. 17 (3) a) PCT eine zusätzliche Recherchengebühr verlangen, wenn es der Auffassung ist, dass die internationale Anmeldung a posteriori keine Einheitlichkeit aufweist. Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass die hier zugrunde liegenden Probleme hauptsächlich darauf zurückzuführen sind, dass die Recherche und die (materiellrechtliche) Prüfung sowohl nach dem PCT als auch nach dem EPÜ 1973 in getrennten, aufeinander folgenden Verfahrensschritten und von verschiedenen Prüfern durchgeführt werden. Diese verfahrenstechnische Trennung von Recherche und Prüfung führt wegen der funktionellen Beziehung zwischen der Recherche und der Prüfung zwangsläufig zu Überschneidungen. Wenn sich die Recherche auch grundsätzlich darauf beschränkt, den relevanten Stand der Technik für die spätere Beurteilung der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit durch die prüfende Behörde (d. h. die IPEA und/oder das Bestimmungsamt nach dem PCT bzw. die Prüfungsabteilung nach dem EPÜ 1973) zu ermitteln und darüber zu berichten, so liegt es doch auf der Hand, dass sich der Recherchenprüfer oft eine vorläufige Meinung über diese Fragen bilden muss, um eine effiziente Recherche durchführen zu können. Andernfalls wäre es ihm schlicht unmöglich, die Relevanz der Dokumente des Stands der Technik zu beurteilen und den Recherchenbericht entsprechend abzufassen. (S. auch dieses Kapitel II.B.4.2.)
Die Große Beschwerdekammer wies ferner darauf hin, dass das Erfordernis der Einheitlichkeit nach dem PCT auch für das Verfahren vor der ISA und vor der IPEA nach Art. 17 (3) a) PCT bzw. Art. 34 (3) a) PCT gilt, was wiederum in Einklang mit der oben genannten verfahrensrechtlichen Trennung von Recherche und Prüfung steht und dem Grundsatz entspricht, dass die normale Recherchen- und Prüfungsgebühr nur für eine Erfindung (oder eine einzige allgemeine erfinderische Idee) gilt. Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung nach dem PCT sowohl von der ISA als auch von der IPEA grundsätzlich nach denselben objektiven Kriterien beurteilt werden muss.
Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass in den PCT-Richtlinien für die internationale Recherche ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass die ISA die Einheitlichkeit der Erfindung a posteriori untersucht, d. h. nach einer Beurteilung der Ansprüche im Hinblick auf ihre Neuheit und erfinderische Tätigkeit gegenüber dem Stand der Technik. Ein Vergleich mit den entsprechenden EPA-Richtlinien zeige, dass auch im EPÜ 1973 ausdrücklich vorgesehen ist, dass die Beurteilung der Einheitlichkeit durch die Recherchenprüfung a posteriori vorgenommen werden kann (vgl. auch R. 46 EPÜ 1973, jetzt R. 64 EPÜ). Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer ist dies eine Folge der besonderen Struktur des PCT und des EPÜ 1973. Daher sind die Richtlinien als mit dem PCT und dem EPÜ 1973 in Einklang stehend zu betrachten. Auch ist festzuhalten, dass die PCT-Richtlinien für die internationale Recherche auf Art. 56 PCT zurückgehen, der die Aufgaben des Ausschusses für technische Zusammenarbeit behandelt (vgl. insbesondere Art. 56 (3) ii) PCT und den Hinweis darauf, dass die Einheitlichkeit unter anderem der Arbeitsmethoden gewährleistet sein muss; s. jetzt Kapitel RL/ISPE 10 der PCT-Richtlinien für die internationale Recherche und die internationale vorläufige Prüfung in der seit 1.1.2019 geltenden Fassung).
In W 21/89 wurde folgende Feststellung getroffen: Da nach R. 33.1 a) PCT unter dem Stand der Technik alles zu verstehen ist, was der Öffentlichkeit vor dem internationalen Anmeldedatum zugänglich gemacht worden ist, darf die ISA solche Unterlagen zur Begründung einer a posteriori getroffenen Feststellung der Uneinheitlichkeit heranziehen, selbst wenn es in einem der benannten Vertragsstaaten nicht möglich wäre, diese Unterlagen einer entsprechenden nationalen Patentanmeldung entgegenzuhalten.
Der Grundsatz, wonach das EPA bei der Durchführung einer internationalen Recherche die Feststellung der Nichteinheitlichkeit auch "a posteriori" treffen kann (G 1/89, ABl. 1991, 155; G 2/89, ABl. 1991, 166), gilt genauso bei der Durchführung einer europäischen Recherche, weil in beiden Fällen die Recherchen und die Recherchenberichte praktisch identisch sind (s. T 87/88 , ABl. 1993, 430).
In W 2/10 wies die Kammer darauf hin, dass in W 4/85 (ABl. 1987, 63) und in vielen darauf folgenden Entscheidungen festgestellt worden sei, dass die Angabe von Gründen in einer Aufforderung gemäß Art. 17 (3) a) PCT ein so wesentliches Erfordernis sei, dass eine Aufforderung ohne Begründung als nicht rechtswirksam anzusehen sei. Dies treffe auch auf den ihr vorliegenden Fall zu, so dass die zusätzlichen Recherchengebühren zurückgezahlt werden müssten.